Kriegsdienstverweigerung im Ukrainekrieg

Es ist Krieg – und manche gehen nicht hin

von Irmgard Ehrenberger

„Krieg ist Mord auf Kommando“ – diese simple Feststellung von Pierre Ramus (1882 – 1942) gilt damals wie heute und für alle Zeiten. Was aber passiert mit jenen, die nicht am befohlenen Morden teilnehmen wollen, so wie aktuell im Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine?

Der österreichische Rechtsanwalt Clemens Lahner stellt in einem Kommentar im „Standard“ vom 3. März 2022 fest: „Jeder russische Soldat, der sich nicht am völkerrechtswidrigen Angriff auf die Ukraine beteiligen möchte und deshalb desertiert und in einen Mitgliedstaat der Europäischen Union flieht, hat ein Recht auf Asyl.“ Er meint weiter, dass ukrainische Deserteure „deutlich schlechtere Erfolgsaussichten“ hätten und dass zu prüfen wäre, „welche Gefahren ihnen – aktuell und mittelfristig – in der Ukraine drohen“. In Bezug auf die Ukraine hat die Europäische Union die Massenzustromrichtlinie in Kraft gesetzt, die Kriegsflüchtlingen einen vorübergehenden Schutz bietet.

Diese Vorkehrungen gehen aber nicht weit genug. Was passiert beispielsweise mit wehrfähigen ukrainischen Männern, die das Land trotz des Verbots verlassen haben, nach Ende des Krieges? Ihnen könnte bei ihrer Rückkehr Strafverfolgung drohen.
Für russische Wehrdienstverweiger*innen und Deserteur*innen gilt der Artikel 9e der Qualifikationsrichtlinie der EU, der denjenigen Menschen Schutz zusagt, die sich Kriegen oder völkerrechtswidrigen Handlungen entziehen und deshalb Verfolgung oder Bestrafung ausgesetzt sein könnten. In der Praxis werden die Hürden für den Erhalt eines Asylstatus in den meisten EU-Ländern aber sehr hoch angesetzt. In Deutschland kann beispielsweise bei glaubhaft gemachter Desertion der Antragsteller auf Asyl hoffen. Dies gilt aber nicht für Wehrdienstverweiger*innen, die (noch) keine Einberufung erhalten haben und sich durch Flucht dem Kriegsdienst entziehen.

Diese unbefriedigende Situation muss beseitigt werden. Alle Menschen aus allen am Krieg beteiligten Staaten – Russland, Ukraine und Belarus – müssen das Recht haben, am Krieg nicht teilzunehmen und in den Ländern der Europäischen Union Asyl zu erhalten. Allein das Vorhaben, am Krieg nicht teilzunehmen, muss als Asylgrund reichen.

Auf Initiative von Connection e.V., War Resisters’ International (WRI), dem European Bureau for Conscientious Objection (EBCO) und dem International Fellowship of Reconciliation (IFOR) wurde ein Appell an Abgeordnete des Europäische Parlaments und der Parlamentarischen Versammlung des Europarates gesandt, Deserteuren aus Russland, Belarus und der Ukraine Schutz und Asyl zu gewähren. Der Appell enthält einen Vorschlag für einen konkreten Antrag an die Parlamente der EU bzw. des Europarates und wurde in über 20 Ländern von mehr als 60 Organisationen aus den Bereichen Frieden, Menschenrechte und Flüchtlinge unterstützt. Durch Öffentlichkeits- und Lobbyarbeit soll dafür gesorgt werden, dass der Vorschlag nicht in Schubladen verschwindet. Zusätzlich zur Arbeit auf europäischer Ebene sollen nun auch die nationalen Parlamente und Ministerien mit dem Anliegen befasst werden.

Der Appell stützt sich auf zahlreiche internationale Abkommen und Dokumente. In dem Brief an die Parlamentarier*innen heißt es: „Das Menschenrecht auf Kriegsdienstverweigerung, das von der Parlamentarischen Versammlung des Europarates bereits seit 1967, vom Europäischen Parlament seit mindestens 1983, vom UN-Menschenrechtsausschuss seit 1993 und vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte im Jahr 2011 anerkannt wurde, muss für jeden auf allen Seiten garantiert werden.“

Die Durchsetzung des Rechts auf Wehrdienstverweigerung und Desertion ist ein wichtiger Schritt in der Weiterentwicklung der Menschenrechte und trägt zur Infragestellung bis hin zur Abschaffung des Krieges wesentlich bei. „Jedes Land hat das Recht, seine Bürger*innen in Notsituationen zu den Waffen zu rufen“, heißt es auf der Website des UNHCR Österreich. Hat es das? Kein Land hat das Recht, seinen Bürger*innen das Morden zu befehlen. Jeder Mensch und auch jeder Staat hat das Recht, das Morden zu verweigern.

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Friedensbewegung international
Irmgard Ehrenberger ist Co-Geschäftsführerin des Internationalen Versöhnungsbundes – österreichischer Zweig. Sie ist für die Themenbereiche Friedenskultur und Friedenspolitik zuständig. Darüber hinaus arbeitet sie in der Arbeitsgruppe „Stoppt den Kreislauf der Gewalt in der Türkei“ (der VertreterInnen von WRI, dem Bund für Soziale Verteidigung und Connection e.V. angehören) mit.