Friedensfilmpreis 2002

von Ulla Gorges
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Neue Zeiten bei den Berliner Filmfestspielen brachten auch Neues für die Initiative Friedensfilmpreis: Nachdem wir uns 16 Jahre lang am Rande der Berlinale engagiert hatten, mit zunehmender Resonanz beim Publikum, aber gleichbleibender Missachtung durch die Festivalleitung, wurde das Engagement der Initiative jetzt durch den neuen Festspielleiter Dieter Kosslick ausdrücklich begrüßt und unterstützt. So organisierte die Initiative Friedensfilmpreis auf Bitten Kosslicks die Vorführung eines Films, der aus formalen Gründen nicht ins Berlinale-Programm aufgenommen werden konnte: "Un mondo diverso e possibile" (Eine andere Welt ist möglich) - ein Dokumentarfilm über die Ereignisse während des G-8-Gipfels in Genua im Juli 2001.

33 italienische Regisseure waren dem Aufruf ihres Kollegen Francesco Maselli gefolgt und hatten die Demonstrationen, Workshops, Straßentheaterszenen und Feste der mehr als 200.000 Globalisierungskritiker aus aller Welt dokumentiert - ein bewegender Streifen über eine neue Bewegung - aber auch mit beklemmenden Bildern vom dumpf-gewalttätigen Agieren des Schwarzen Blocks, vom Tod eines Demonstranten durch eine Polizeikugel, von Verletzten nach brutalem Schlagstockeinsatz durch die mit unverhältnismäßiger Gewalt agierende italienische Polizei. Auch wenn der Film manchen Anlass zur Kritik bietet - einigen war der Film zu wenig politisch, anderen zu wenig künstlerisch - die Initiative Friedensfilmpreis wollte dieses Projekt der italienischen Filmemacher würdigen, die sich mit den Globalisierungskritikern solidarisch zeigten und damit nicht zuletzt angesichts des Rechtsruck Italiens unter Berlusconi ein Zeichen des Widerstands setzten.

Die Vorführung am 8. Februar war somit ein Politikum und wurde ein überwältigender Erfolg. Wenngleich mehr als 400 Filme auf der Berlinale zu sehen waren, tägliche Pressekonferenzen mit Stars und Sternchen die Journalisten in Atem hielten, schien es doch, als hätte die Initiative Friedensfilmpreis, in Verbindung mit der Heinrich-Böll-Stiftung und der IPPNW, mit der Veranstaltung um den Genua-Film den eigentlichen Knüller der Festspiele gelandet. Ausführliche Zeitungsartikel hatten den Film angekündigt, und der Kinosaal am Potsdamer Platz platzte schon aus den Nähten, als sich noch die Hälfte der Schaulustigen vor der Tür drängelte. In der anschließenden Diskussion mit einigen der Filmemacher ging es vor allem um Arbeitsbedingungen, Perspektiven und Anfänge des Widerstands von immer mehr Künstlern gegen die Kulturpolitik Berlusconis, deren Gleichschaltungstendenzen in ganz Europa Besorgnis erregen (sollten).
 

Mit der Entscheidung um den Friedensfilmpreisträger hatte es die neunköpfige Jury am Ende der Berlinale recht schwer, denn mehrere auszeichnungswürdige Filme waren lange Zeit in der intensiven Diskussion. Die Wahl fiel auf "August - A Moment Before the Eruption" vom israelischen Regisseur Avi Mograbi, ein verstörender, anstrengender, aufregender Film, der eine durch ständige Gewalt und Angst beherrschte israelische Gesellschaft porträtiert.

Zur Handlung: Der Regisseur Mograbi hat den Auftrag, einen Film über das Massaker an einer Gruppe betender Moslems zu drehen, das der israelische Arzt und Siedler Baruch Goldstein 1994 verübt hatte. Der Produzent drängt auf Fertigstellung, aber das Projekt bleibt schon in den Vorarbeiten stecken, in quälenden Wiederholungen von Castings für die Rolle von Goldsteins Witwe, die erstarrt und verbohrt die Rückgabe der Tatwaffe verlangt. Auch der Wunsch von Mograbis Frau, einen heiteren Film über Israel im Sommermonat August zu drehen, bleibt unerfüllbar: Das Vorhaben stockt schon an der Strandpromenade, wo Passanten achtlos an einer hilflos daliegenden Person vorbeigehen. Scheinbar wie von selbst wird die Kamera angezogen von Straßenszenen, in denen alltägliche Vorurteile und rassistische Einstellungen zwischen verschiedenen jüdischen Einwanderergruppen, vor allem aber von Juden gegenüber Palästinensern als Normalität erscheinen. Laut und aggressiv ist der Umgangston, nirgends scheint es Nachdenklichkeit oder selbstkritische Zurückhaltung zu geben. Stress, Hysterie und Paranoia als Folge von aufeinanderfolgenden Kriegen und permanenter Bedrohung kennzeichnen das Krankheitsbild dieser Gesellschaft. Der täglich eskalierende Konflikt zwischen Juden und Palästinensern ist Ursache und Folge dieser Krankheit. "Wir sind Gefangene dieser Situation und ein Teil unserer Seele ist zu Eis gefroren", sagt der israelische Schriftsteller David Grossmann. Mich hat eine Szene besonders bestürzt, in der anscheinend die traumatische historische Erfahrung der Shoah auf den Feind "Araber" übertragen wird: "Man sollte sie verbrennen" sagen Kinder auf einem Spielplatz in die Kamera und fordern damit die Ausrottung der Palästinenser.

Ein Friedensfilmpreis für ein Werk, das nur Unfrieden und Aggression dokumentiert und keinen Ausweg zeigt, von dem der Regisseur schreibt: "Ich wollte einen Film schaffen, der nur aus Gewalt, Zänkerei und Ärger besteht. Denn das ist Israel. Es ist, als ob wir für eine nahe Katastrophe bestimmt sind, die ohne Vorwarnung über uns hereinbricht." Als er von der Auszeichnung hörte, witzelte Mograbi, Mitglied der israelischen Friedensbewegung: "Der Film hätte eher einen Ariel-Sharon-Preis verdient". Und doch ist die Jury für diese Entscheidung zu beglückwünschen. In ihrer Begründung der Auszeichnung heißt es: "Ironisch und selbstironisch schafft Mograbi ein filmisches Bild seines Landes, indem er satirisch-theatralische Szenen mit dokumentarischen Alltagsbeobachtungen verbindet. So gelingt ihm das irrwitzige Bild einer Zeit "kurz vor der Eruption". Seine filmische Sprache ist schillernd und neurotisch wie die Gesellschaft, die er vorfindet. Der Film vermittelt uns einen Eindruck von Ursachen und Wirkungen der Gewalt im Nahen Osten und hilft uns, die aktuelle Situation besser zu verstehen."

In der anschließenden Diskussion sagte Didi Remez, ein junger Sprecher der israelischen Friedensbewegung "Peace Now", die Filme von Mograbi seien für ihn und seine Freunde wie eine Therapie, zeigen sie doch genau das, was ihnen selbst an ihrer Gesellschaft so anstößig und verstörend erscheint. Für uns, angesichts der täglich erschreckenderen Nachrichten aus Nahost, ist der Film ein Lehrstück über eine Seite, eine Ursache des Konflikts. Was er auch enthält, und darin sehe ich ein großes Stück Hoffnung, ist ein Witz und Humor, der in unserem Teil der Welt vor Jahrzehnten verbrannt wurde, der im Nahen Osten Juden und Palästinensern gleichermaßen zu eigen ist, auch wenn sie ihn jetzt nicht teilen können. Und dazu gehören auch, im Film immer gegenwärtig, Zivilcourage und das selbstbewusste Einfordern von Bürgerrechten, von Errungenschaften jener zivilen Gesellschaft, die Israel, bei aller inneren und äußeren Bedrohung, bis heute bewahren konnte. Die israelische Friedensbewegung, die sich nach Monaten gelähmten Schweigens jetzt wieder machtvoll zurückgemeldet hat, ist Garant dieser Zivilgesellschaft. Die Initiative Friedensfilmpreis weiß sich mit ihr solidarisch.

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Ulla Gorges ist Mitarbeiterin der IPPNW, Internationale Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges, Ärzte in sozialer Verantwortung e.V. Die IPPNW ist seit 1991 Schirmherrin des Friedensfilmpreises.