Interview mit Rafat Hassan Abbas

Geschichte und Gegenwart der Gewaltfreiheit im Sudan

von Redaktion FriedensForum

Rafat Hassan Abbas ist ein freier Journalist und Trainer in Gewaltfreiheit. Außerdem ist er auch ein Aktivist in Sachen Demokratisierung und anderer Themen.

Red.: In den Schlagzeilen westlicher Zeitungen erscheint der Sudan vor allem im Kontext von Gewalt. Nicht viele Menschen wissen, dass der Sudan auch eine Unzahl von traditionellen Formen der Konflikttransformation hat und eine lange Geschichte gewaltfreier Bewegungen. Können Sie uns ein paar Beispiele der Verfahren traditioneller Konfliktlösung im Sudan geben?

RHA: Es gibt viele ethnische Gruppen im Sudan, und jede hat ihre eigenen Instrumente der Konflikttransformation. Ein übliches System ist das der Ältesten, in manchen Gegenden als Ajaweed bezeichnet. Im Falle eines Konfliktes übernehmen sie die Rolle von Vermittlern. Eine Methode ist, dass man mit jeder Konfliktpartei getrennt spricht. Sie betonen, dass der Konflikt selbst Probleme für das soziale Gefüge schaffen kann. Bevor die Konfliktparteien sich treffen, bringen sie sie dazu, zuzustimmen, dass sie die andere Seite in dem Treffen nicht konfrontativ angehen werden und nicht über die Ursachen des Konflikts sprechen werden. Wenn sie dann schließlich alle zusammenkommen, wird einer der Ältesten etwas sagen wie „Was geschehen ist, kann geschehen. Wir fordern Euch auf, nach vorne zu schauen. Steht auf und grüßt Euch“. Sobald sie das getan haben, sitzen alle zusammen und trinken Tee. Das funtioniert innerhalb von Familien und kleinen Gemeinschaften, aber auch in Konflikten zwischen Gemeinden können die Ajaweed eine vermittelnde Rolle spielen.

Red.: In der jüngeren Geschichte haben gewaltfreie Bewegungen zweimal militärische Diktaturen gestürzt. Können Sie uns sagen, wann und wie das geschah?

RHA: Das erste Mal war die „Oktober-Revolution“ von 1964, die die Regierung von Abud stürzte. Es gab damals allgemeine Unzufriedenheit mit der Diktatur und einen Wunsch nach Demokratie. Zu jener Zeit waren die politischen Parteien und Gewerkschaften gut organisiert und effektiv. Dies war entscheidend für den Erfolg der Bewegung. Die Menschen nutzten Streiks, Protestbriefe, Demonstrationen und politische Nichtzusammenarbeit als gewaltfreie Aktionsmethoden. Ein Wendepunkt in der Bewegung war, als ein Student namens Qureishi von der Polizei während einer großen Demo an der Universität von Khartoum erschossen wurde. Danach wurden die Proteste stärker, und schließlich gab die Abud-Regierung nach und trat zrück. Es gibt immer noch einen Park in Khartoum, der nach Qureishi benannt ist.

1985 stürzte das sudanesische Volk die Regierung von Nimeiri. Diese hatte als eine sozialistische Militärregierung begonnen, Nimeiri wurde aber unter dem Einfluss von Turabi und den Muslimbrüdern immer religiöser und führte schließlich im September 1983 die Scharia ein. Dies führte zu weitverbreitetem Protest, die in dem sog. „Volksaufstand“ im März-April 1985 kulminierte. Schlüsselfaktor war, dass es weit verbreitete Streiks gab. Sie begannen in Khartoum und weiteten sich bis nach Atbara aus, das ein wichtiges Eisenbahnzentrum war, so dass die Wirtschaft gelähmt wurde. Bis zum April hatten sich Ärzte, Richter, Lehrer, Professoren und fast alle Beamte dem Streik angeschlossen. Einige Menschen wurden bei Zusammenstößen getötet. Nimeiri war zu jener Zeit in Ägypten, aber ein weiser führender Militär sagte, dass wir alle dem Volk gehorchen müssen und beendete die Konfrontationen. Eine Übergangsregierung wurde gebildet und 1986 kam es zu Wahlen.

Doch die Demokratie dauerte nur drei Jahre. 1989 kam die heutige Reigerung an die Macht und führte auch sofort die Scharia wieder ein. Der Kontext war sehr fragil und Menschen fehlte die demokratische Erfahrung. Während die Regierung ein Land nach 16 Jahren Missmanagement übernahm, stellten die Gewerkschaften hohe Forderungen und setzten ihre Streiks fort. Schließlich fingen die Menschen an, die Nase voll von Demokratie zu haben. Wenn immer sie zum Krankenhaus, zur Schule gingen: Nichts – Streik! Die Nationale Islamische Front, die Teil der Regierungskoalition war, nutzte diese Situation aus und ergriff am 29. Juni 1989 die Macht. Sie nahmen praktisch schlicht alle politischen Führer fest und etablierten sich selbst als die neue Regierung.

Red.: Mahmoud Taha wurde von manchen als der „Gandhi Sudans“ bezeichnet. Wer war er, und warum wird er so bezeichnet?

RHA: Mahmoud Taha (1909-1985) hatte seine eigene Interpretation des Koran. Er sagte, dass der Islam zwei Grundbotschaften enthalte. Die erste war ihm zufolge an einen spezifischen Kontext gebunden, was Zeit und Ort angeht. Die zweite gilt für die ganze Welt. Diese zweite Botschaft enthält keinen Jihad, und schloss mehrere Aspekte aus, die für den heutigen Kontext nicht relevant sein mögen, z.B. jene Verse, die sich auf jede Art von Gewalt beziehen. In seinem täglichen Leben war Mahmoud Taha angeblich sehr friedlich. Wenn er sich wusch, achtete er sogar darauf, dass er Ameisen auf dem Boden nicht mit Wasser bespritzte. Als die Sicherheitskräfte kamen, um ihn festzunehmen, wird erzählt, dass seine Leute versuchten, ihn gewaltsam zu schützen, und dass er sie bat, damit aufzuhören. Die Machthabenden forderten ihn auf, seine Bewegung zu beenden, oder er würde getötet werden. Viele Anwälte versuchten, ihn zu unterstützen. Aber er sagte dem Gericht: „Ich respektiere dieses Gericht nicht und vertraue ihm nicht“, und er gab nicht nach. So hängte ihn die Regierung. Es wird behauptet, dass er auf dem Gang zum Galgen gelächelt habe. Er stellte zu jener Zeit eine Bedrohung für die islamistischen Gruppen dar, da er einen progressiven Islam vertrat, und das war für die Menschen sehr atttraktiv. Er sprach auch über Sozialismus im Islam.

Red.: Was sind die gegenwärtigen gewaltfreien Bewegungen, und wie schätzen Sie sie ein? Was sind ihre wichtigsten Erfolge und Probleme?

RHA: Während die Demokratisierungsbewegung (besonders vor den Wahlen) vor allem von politischen Parteien initiiert und angeführt wurde, beruhen andere Bewegungen wie die Menschenrechts- und Frauenbewegung mehr auf zivilgesellschaftlicher Basis. Nichtregierungsorganisationen haben z.B. Demonstrationen für die Journalistin Lubna Hussein organisiert, als sie letztes Jahr zur Auspeitschung verurteilt wurde, weil sie Hosen getragen hatte.

In jüngerer Zeit haben sich auch neue Gruppen wie Girifna gebildet, die eine starke gewaltfreie Ausrichtung haben und neue Aktionsmethoden entwickeln, die in unseren Kontext passen. Zum Beispiel halten sie Reden auf Märkten und an Busstationen, um ihre Forderungen zu verbreiten, was effektiver ist, als Menschen auf eine Demonstration einzuladen und dort auf sie zu warten. Die Menschen sind mehr bereit, zuzuhören, während sie auf einen Bus warten, und es ist auch weniger gefährlich für sie. Wenn die Polizei kommt, dann können sie einfach sagen: „Ich warte auf den Bus“. Sie haben auch Methoden von anderen ähnlichen Bewegungen übernommen, wie z.B. die Wahl einer Farbe und eines Symbols: Die orangene Hand mit dem V-Zeichen. Offensichtlich angeregt von dem Film „Bringing down a dictator“ über die serbische Otpor-Bewegung haben sie folgende Straßenaktion übernommen: Sie zeigen ein T-Shirt mit einem Foto von Präsident Bashir, stecken es in die Wäsche, und holen es dann „sauber“ ohne ein Foto heraus.

Girifna ist eine recht neue Bewegung und es ist noch nicht möglich, sie auszuwerten. Aber bislang haben sie es geschafft, junge Menschen zu mobilisieren und die Barriere der Angst zu durchbrechen. Doch sehen sie sich auch vielen Herausforderungen gegenüber: Viele Menschen können sich solch einer offenen Bewegung anschließen, so auch Informanten der Regierung. Kürzlich hat ein Mitglied ein anderes dringend gebeten, zu einem bestimmten Ort zu kommen, und als es dort ankam, wurde die Person festgenommen und gefoltert. Das ist eine der Herausforderungen.

Die Kajbar-Bewegung ist eine Erfolgsgeschichte der Gewaltfreiheit: Diese Bewegung gegen einen Staudamm im Nordsudan hat es bislang geschafft, den Bau des Dammes mit zu verhindern. Der Widerstand wurde gewaltfrei organisiert, und als später einige Leute darauf bestanden, Gewalt anzuwenden, weigerte sich die Basis, mitzumachen. So blieb der Protest friedlich und war effektiver. Eine andere Antistaudamm-Bewegung, die gegen den Shirek-Damm, entschied sich für Gewalt und es wurde sogar ein Vertreter der Regierungspartei nachts getötet. Natürlich gibt es keinen Beweis, dass dies direkt damit in Zusammenhang stand, aber Tatsache ist, dass dieser Staudamm immer noch geplant wird, während von dem Kajbar-Staudamm derzeit nicht mehr gesprochen wird.

Red.: Offizielle Stimmen im Sudan bezeichnen Konzepte wie „Menschenrechte“ und „Gewaltfreiheit“ manchmal als postkoloniale Werkzeuge des Westens. Wie sehen Sie das?

RHA: Menschenrechte sind ein Teil der menschlichen Natur und nichts etwas, das vom Westen erfunden wurde. Was Gewaltfreiheit angeht: Wenn man Menschen mit gewaltfreien Methoden ermutigt und mobilisiert, so kann das eine Regierung mehr bedrohen als bewaffneter Widerstand. Wenn Menschen mit Waffen kommen, dann kann sie es leicht rechtfertigen, zurückzuschießen. Aber gegen Gewaltlose hat sie keine Entschuldigung.

Red.: Was sind die ungenutzten Potentiale der Gewaltfreiheit im Sudan? Was könnte in Zukunft getan werden?

RHA: Die Sudanesen haben Krieg, Unglücke usw. erlebt, die durch Gewalt verursacht wurden. Die Mehrheit der Sudanesen sind überzeugt, dass Gewalt die Situation nur weiter komplizieren würde. Gewaltfreiheit ist der einzige Weg, aus dieser verfahrenen Lage herauszukommen. Selbst der Generalsekretaer der SPLM Pagan Amum, der während des Bürgerkriegs General war, sagt heute, dass die Zukunft des Sudans auf der Straße und nicht bei den Gewehren liegt. Als er sich den pro-Demokratie-Demonstrationen letzten November anschloss und festgenommen wurde, verbat er seinen Personenschützern sogar, Waffen mitzunehmen. Doch es liegt nicht im Interesse der Regierung, aus dieser gewaltsamen Situation herauszukommen, da sie von der Instabilität profitiert.

Bislang schützen die meisten Menschen schlicht sich selbst und ihre Interessen. Aber ich glaube, es ist im Sudan nur eine Frage der Zeit. Am Ende des Regimes wird Gewaltfreiheit die vorrangige Methode sozialen Wandels sein.

Red.: Wir danken für dieses Gespräch.

Das Interview wurde von der Redaktion des Friedensforums im Sudan durchgeführt und aus dem Englischen übersetzt.

Ausgabe

Rubrik

Schwerpunkt