Friedenspolitik im SPD-Grundsatzprogramm-Entwurf:

Grundsätzlich nach allen Seiten offen

von Martin Böttger

Ein Grundsatzprogramm ist kein Regierungsprogramm. Meistens hat es den Anspruch, wenigstens ein bis zwei Jahrzehnte zu gelten. Gleichzeitig verändern sich unsere Lebensbedingungen und die damit einhergehende Politik immer schneller. Ein Grundsatzprogramm von heute müßte also inhaltlich viel mehr Vorausschau, Utopie präsentieren als 1959 ("Godesberger Programm"). Dazu scheint die SPD-Friedenspolitik jedoch nicht in der Lage zu sein.

"Wir wollen die atomare Abschrek­kung überwinden, indem wir block­übergreifend Sicherheit organisieren. Dazu gehört, daß der Weltraum von Waffen frei bleibt. Die Bundesrepublik Deutschland darf atomare Waffen nicht herstellen, besitzen oder verwen­den.

Wir wollen die Dynamik der Aufrü­stung brechen und eine Dynamik der Abrüstung in Gang setzen. Wir wollen den Export von Waffen und Rüstungsgütern verhindern."

Bemerkenswerte Zweideutigkeit
Eine Passage, die sehr genau gelesen werden muß. Einerseits schreibt sie etwas fest, was in den letzten Jahres als Fortschritt der SPD-Friedenspolitik angesehen werden muß: der Abschied von der Abschreckung. Andrerseits enthält sie eine bemerkenswerte Zweideutigkeit. Das Subjekt in dieser Passage ist "wir". Dort, wo es um "her­stellen, besitzen oder verwenden" von Atomwaffen geht, ist das Subjekt je­doch die "Bundesrepublik Deutsch­land". In dieser Formulierung ist es le­diglich eine Beschreibung geltenden (wenngleich bereits mehrmals gebro­chenen) Rechts, nicht jedoch die Be­schreibung der Zielsetzung der SPD. Dann hätte es ja heißen können: "wir". So bleibt das Schlupfloch zur westeu­ropäischen Atomstreitmacht offen. Ei­nige wenige Sozialdemokraten - z. B. Karsten D. Voigt - sind auch so ehr­lich, dazu zu stehen.

"Gemeinsame Sicherheit" ist der Be­griff, mit dem es der SPD in den letz­ten Jahren gelungen ist, einen ent­scheidenden Impuls in der internatio­nalen sicherheitspolitischen Diskus­sion zu geben. Doch wie wird so ein Begriff inhaltlich ausgefüllt? Wichtige und positive Punkte im Entwurf sind:

  • Mitverantwortung für die Sicherheit des anderen;
  • Zubilligung von Existenzberechti­gung und Friedensfähigkeit;
  • Überwindung der Konfrontation der Blöcke "und schließlich der Blöcke selbst".

Angriffsunfähigkeit als Ziel, nicht als Zwischenschritt
Doch dann heißt es: "Bis dahin findet die Bundesrepublik Deutschland das ihr erreichbare Maß an Sicherheit im Atlantischen Bündnis... Das Bündnis muß voll verteidigungsfähig, strikt de­fensiv und entspannungsbereit sein... Gemeinsame Sicherheit verlangt den Abbau von atomaren und konventio­nellen Drohpotentialen bis hin zur beiderseitigen strukturellen Angriffs­unfähigkeit."

Mehrerlei Merkwürdigkeiten:
Das Bündnis muß eigentlich nordat­lantisch heißen (hoffentlich nur ein re­daktionelles Versehen). Doch noch entscheidender erscheint mir, daß die strukturelle Angriffsunfähigkeit, wie von vielen ihrer KritikerInnen in der Friedensbewegung und -forschung befürchtet, in diesem Grundsatzpro­gramm nicht als Zwischenschritt, son­dern als Ziel eingeordnet ist. Bei Be­darf wird es Verteidigungsministern nicht schwerfallen, damit dann höhere Rüstungsausgaben zu rechtfertigen - für "moderne defensive" Waffen na­türlich.

"Wir stehen zu den Streitkräften und bejahen die Wehrpflicht. Wir garantie­ren das Grundrecht auf Kriegsdienst­verweigerung." Von Utopien in einem Grundsatzprogramm also auch hier keine Spur. Wie wäre es mit einem Satz wie diesem gewesen: "Sozialde­mokratische Friedenspolitik bestreitet die Möglichkeit militärischer Kon­fliktlösung. Sie ist daher bestrebt, langfristig militärische Strukturen überflüssig zu machen und abzuschaf­fen." Von dieser Position waren die AutorInnen offensichtlich weit ent­fernt. Mehr als die geltende Rechts­lage haben sie sich nicht getraut, ins Grundsatzprogramm aufzunehmen.

EG: Anpassung oder Realismus?
Genauso klar steht die SPD zur Euro­päischen Gemeinschaft (EG). Eine Problematisierung dieser Einrichtung ist nicht zu entdecken. Eine andere in­stitutionelle Option von gesamteuro­päischer Politik wird überhaupt nicht erwogen. Alle durchaus sinnvollen Ziele, z. B. gerechte Weltwirtschafts­ordnung, selbstbestimmte Entwicklung "des Südens", gesamteuropäische Frie­densordnung sollen mittels der EG er­reicht werden. Realismus oder Anpas­sung? Ist das hinreichende denkerische Kreativität für die Zusammenarbeit, die dieser Kontinent heute braucht?

Zwei besonders kritische Stellen: die EG solle ihren Völkern in der inter­nationalen Beziehung "mehr Gewicht" verleihen. Noch mehr? Ist das nicht angesichts der heutigen Wirklichkeit nicht Legitimation für eigenes Groß­machtstreben?

Gesamteuropäische Zusammenarbeit soll das "gemeinsame Erbe Europas" pflegen. Eine Definition dieses "Erbes" fehlt. Darum klingt das leicht nach "Abendland"; darum ist daraus Eu­ropa-Chauvinismus entwickelbar. Ist das beabsichtigt?

Nationalkonservativ: Die sog. "Frage der Nation"
Bekannt defensiv und nationalkonser­vativ die Haltung zur Frage der Na­tion. Die "hat sich nicht erledigt... Es muß offen bleiben, ob und wie die Deutschen in beiden Staaten in einer europäische Friedensordnung zu insti­tutioneller Gemeinschaft finden." Ein "deutscher Sonderweg" wird großzügi­gerweise ausgeschlossen. Mit einer solchen Position ist es nicht verwun­derlich, daß die SPD in der jetzigen Ostlandritterstimmung gegenüber der DDR monatelang auf einer völligen ideologischen Tauchstation war. Statt jetzt erst recht für staatliche Bestands­garantien und damit eine Stabilisie­rung in Mitteleuropa einzutreten - die effektivste Solidarität mit Oppositions- und Reformkräften in der DDR - wird auf den kurzfristigen Vorteil geschielt: die Wahlarithmetik hier, und die Eta­blierung möglichst SPD-ähnlicher und abhängiger Kräfte dort. Daß dieses Reiten auf der nationalen Frage der Ritt auf einem ungezähmten Tiger ist, sollte doch die deutsche Geschichte ei­gentlich hinreichend nachgewiesen ha­ben.

Im wohltuendem Kontrast dazu befin­den sich die knappen Aussagen zur Nord-Süd-Politik und zur internatio­nalen Gemeinschaft. Es wird Partei ge­nommen für eine Stärkung der Inter­essenvertretung des Südens. Die Ver­antwortung der Industrieländer für die Verelendung wird anerkannt und von der SPD übernommen. So sollen die Industrieländer z. B. für den Umwelt­schutz im Süden zur Kasse gebeten werden. Nähme die SPD das wirklich ernst, könnte es ja mal wieder eine in­teressante Regierungszeit mit ihr wer­den.

Erfreulich auch das Bekenntnis zur "Weltgesellschaft" und zur "Weltinnenpolitk" durch die UNO. Wir dürfen gespannt sein. Am 19. und 20. Dezem­ber soll in Bremen beschlossen wer­den. Vor dem Wahlkampfjahr 1990.

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Hintergrund
Martin Böttger ist Mitarbeiter des Ko­mitees für Frieden, Abrüstung und Zu­sammenarbeit und Mitglied im Bun­deshauptausschuß der Jungdemokraten.