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Friedenspolitik im SPD-Grundsatzprogramm-Entwurf:
Grundsätzlich nach allen Seiten offen
vonEin Grundsatzprogramm ist kein Regierungsprogramm. Meistens hat es den Anspruch, wenigstens ein bis zwei Jahrzehnte zu gelten. Gleichzeitig verändern sich unsere Lebensbedingungen und die damit einhergehende Politik immer schneller. Ein Grundsatzprogramm von heute müßte also inhaltlich viel mehr Vorausschau, Utopie präsentieren als 1959 ("Godesberger Programm"). Dazu scheint die SPD-Friedenspolitik jedoch nicht in der Lage zu sein.
"Wir wollen die atomare Abschrekkung überwinden, indem wir blockübergreifend Sicherheit organisieren. Dazu gehört, daß der Weltraum von Waffen frei bleibt. Die Bundesrepublik Deutschland darf atomare Waffen nicht herstellen, besitzen oder verwenden.
Wir wollen die Dynamik der Aufrüstung brechen und eine Dynamik der Abrüstung in Gang setzen. Wir wollen den Export von Waffen und Rüstungsgütern verhindern."
Bemerkenswerte Zweideutigkeit
Eine Passage, die sehr genau gelesen werden muß. Einerseits schreibt sie etwas fest, was in den letzten Jahres als Fortschritt der SPD-Friedenspolitik angesehen werden muß: der Abschied von der Abschreckung. Andrerseits enthält sie eine bemerkenswerte Zweideutigkeit. Das Subjekt in dieser Passage ist "wir". Dort, wo es um "herstellen, besitzen oder verwenden" von Atomwaffen geht, ist das Subjekt jedoch die "Bundesrepublik Deutschland". In dieser Formulierung ist es lediglich eine Beschreibung geltenden (wenngleich bereits mehrmals gebrochenen) Rechts, nicht jedoch die Beschreibung der Zielsetzung der SPD. Dann hätte es ja heißen können: "wir". So bleibt das Schlupfloch zur westeuropäischen Atomstreitmacht offen. Einige wenige Sozialdemokraten - z. B. Karsten D. Voigt - sind auch so ehrlich, dazu zu stehen.
"Gemeinsame Sicherheit" ist der Begriff, mit dem es der SPD in den letzten Jahren gelungen ist, einen entscheidenden Impuls in der internationalen sicherheitspolitischen Diskussion zu geben. Doch wie wird so ein Begriff inhaltlich ausgefüllt? Wichtige und positive Punkte im Entwurf sind:
- Mitverantwortung für die Sicherheit des anderen;
- Zubilligung von Existenzberechtigung und Friedensfähigkeit;
- Überwindung der Konfrontation der Blöcke "und schließlich der Blöcke selbst".
Angriffsunfähigkeit als Ziel, nicht als Zwischenschritt
Doch dann heißt es: "Bis dahin findet die Bundesrepublik Deutschland das ihr erreichbare Maß an Sicherheit im Atlantischen Bündnis... Das Bündnis muß voll verteidigungsfähig, strikt defensiv und entspannungsbereit sein... Gemeinsame Sicherheit verlangt den Abbau von atomaren und konventionellen Drohpotentialen bis hin zur beiderseitigen strukturellen Angriffsunfähigkeit."
Mehrerlei Merkwürdigkeiten:
Das Bündnis muß eigentlich nordatlantisch heißen (hoffentlich nur ein redaktionelles Versehen). Doch noch entscheidender erscheint mir, daß die strukturelle Angriffsunfähigkeit, wie von vielen ihrer KritikerInnen in der Friedensbewegung und -forschung befürchtet, in diesem Grundsatzprogramm nicht als Zwischenschritt, sondern als Ziel eingeordnet ist. Bei Bedarf wird es Verteidigungsministern nicht schwerfallen, damit dann höhere Rüstungsausgaben zu rechtfertigen - für "moderne defensive" Waffen natürlich.
"Wir stehen zu den Streitkräften und bejahen die Wehrpflicht. Wir garantieren das Grundrecht auf Kriegsdienstverweigerung." Von Utopien in einem Grundsatzprogramm also auch hier keine Spur. Wie wäre es mit einem Satz wie diesem gewesen: "Sozialdemokratische Friedenspolitik bestreitet die Möglichkeit militärischer Konfliktlösung. Sie ist daher bestrebt, langfristig militärische Strukturen überflüssig zu machen und abzuschaffen." Von dieser Position waren die AutorInnen offensichtlich weit entfernt. Mehr als die geltende Rechtslage haben sie sich nicht getraut, ins Grundsatzprogramm aufzunehmen.
EG: Anpassung oder Realismus?
Genauso klar steht die SPD zur Europäischen Gemeinschaft (EG). Eine Problematisierung dieser Einrichtung ist nicht zu entdecken. Eine andere institutionelle Option von gesamteuropäischer Politik wird überhaupt nicht erwogen. Alle durchaus sinnvollen Ziele, z. B. gerechte Weltwirtschaftsordnung, selbstbestimmte Entwicklung "des Südens", gesamteuropäische Friedensordnung sollen mittels der EG erreicht werden. Realismus oder Anpassung? Ist das hinreichende denkerische Kreativität für die Zusammenarbeit, die dieser Kontinent heute braucht?
Zwei besonders kritische Stellen: die EG solle ihren Völkern in der internationalen Beziehung "mehr Gewicht" verleihen. Noch mehr? Ist das nicht angesichts der heutigen Wirklichkeit nicht Legitimation für eigenes Großmachtstreben?
Gesamteuropäische Zusammenarbeit soll das "gemeinsame Erbe Europas" pflegen. Eine Definition dieses "Erbes" fehlt. Darum klingt das leicht nach "Abendland"; darum ist daraus Europa-Chauvinismus entwickelbar. Ist das beabsichtigt?
Nationalkonservativ: Die sog. "Frage der Nation"
Bekannt defensiv und nationalkonservativ die Haltung zur Frage der Nation. Die "hat sich nicht erledigt... Es muß offen bleiben, ob und wie die Deutschen in beiden Staaten in einer europäische Friedensordnung zu institutioneller Gemeinschaft finden." Ein "deutscher Sonderweg" wird großzügigerweise ausgeschlossen. Mit einer solchen Position ist es nicht verwunderlich, daß die SPD in der jetzigen Ostlandritterstimmung gegenüber der DDR monatelang auf einer völligen ideologischen Tauchstation war. Statt jetzt erst recht für staatliche Bestandsgarantien und damit eine Stabilisierung in Mitteleuropa einzutreten - die effektivste Solidarität mit Oppositions- und Reformkräften in der DDR - wird auf den kurzfristigen Vorteil geschielt: die Wahlarithmetik hier, und die Etablierung möglichst SPD-ähnlicher und abhängiger Kräfte dort. Daß dieses Reiten auf der nationalen Frage der Ritt auf einem ungezähmten Tiger ist, sollte doch die deutsche Geschichte eigentlich hinreichend nachgewiesen haben.
Im wohltuendem Kontrast dazu befinden sich die knappen Aussagen zur Nord-Süd-Politik und zur internationalen Gemeinschaft. Es wird Partei genommen für eine Stärkung der Interessenvertretung des Südens. Die Verantwortung der Industrieländer für die Verelendung wird anerkannt und von der SPD übernommen. So sollen die Industrieländer z. B. für den Umweltschutz im Süden zur Kasse gebeten werden. Nähme die SPD das wirklich ernst, könnte es ja mal wieder eine interessante Regierungszeit mit ihr werden.
Erfreulich auch das Bekenntnis zur "Weltgesellschaft" und zur "Weltinnenpolitk" durch die UNO. Wir dürfen gespannt sein. Am 19. und 20. Dezember soll in Bremen beschlossen werden. Vor dem Wahlkampfjahr 1990.