Gemeinschaft Sant’Egidio

Humanitäre Kanäle als Alternative zum Sterben auf dem Mittelmeer

von Matthias Leineweber

Seit dem Besuch von Papst Franziskus auf Lampedusa kurz nach seinem Amtsantritt im Jahr 2013 ist die Aufmerksamkeit der europäischen Öffentlichkeit auf ein dramatisches Phänomen gelenkt worden. Jährlich sterben Tausende Menschen auf den Wegen der Flucht und auf der Suche nach Zuflucht vor Krieg, Terror, Ausbeutung und Elend. Als Antwort auf eine Kultur der Gleichgültigkeit fordert Franziskus eine Globalisierung der Solidarität und Barmherzigkeit. Das aktuelle, vom Papst ausgerufene Jubiläum der Barmherzigkeit hat die Gemeinschaft Sant’Egidio als Herausforderung angesehen, sich diesem schrecklichen Leid zu stellen. Daraus entstand ein ökumenisches Projekt der Hilfeleistung für die Flüchtlinge im Nahen Osten und in Afrika.

 

Das Drama der Flüchtlinge bewegt in diesen Monaten viele BürgerInnen, während die europäischen Länder keine gemeinsame Linie finden. Angesichts dieser Lähmung gegenüber einer humanitären Notlage mobilisieren sich die Menschen auf unerwartete Weise in der Aufnahme von Menschen auf der Flucht. Viele BürgerInnen wollen nicht in eine Zeit der Mauern zurückkehren, die gerade in Deutschland noch bei vielen leidvolle Erinnerungen wachrufen. Es ist als anachronistisch anzusehen, wenn man überkommene und gescheiterte Wege als Lösung für gesellschaftliche und politische Probleme anwendet.

In dieser Hinsicht ist das Engagement der Gemeinschaft Sant’Egidio mit der Union der Evangelischen Kirchen Italiens und der Waldensertafel zunächst in Italien ein Vorschlag, eine humane Alternative für die Flüchtlingsproblematik zu finden. Ende 2015 wurde mit dem italienischen Außen- und Innenministerium ein Abkommen unterzeichnet, das im Modellprojekt der „humanitären Kanäle“ für eintausend Flüchtlinge in besonderen Notlagen eine legale Einreisemöglichkeit nach Italien gewährt. Denn das Problem ist nicht, dass das europäische Boot voll ist, sondern dass die Boote der Flüchtlinge voll sind. Und dass zu viele dieser Boote untergehen. Das sind die wahren Notlagen, nicht die angeblich nicht zu bewältigende Zahl der Flüchtlinge. Deshalb möchte das Projekt durch humanitäre Visa, die im Libanon, in Marokko und in Äthiopien durch italienische Behörden ausgestellt werden, einen sicheren und menschlichen Weg auftun, um in Italien ein rechtmäßiges Asylverfahren für Personengruppen zu ermöglichen, die nach den Kriterien des UNHCR einen besonderen Anspruch auf internationalen Schutz besitzen.

Bewertungskriterien für die Auswahl der Flüchtlinge, die in das Modellprojekt aufgenommen werden, beziehen sich auf die jeweilige persönliche und familiäre Situation. Dabei werden insbesondere Personen aus Ländern mit schweren bewaffneten Konflikten, endemischer Gewalt oder mit systematischer Verletzung der Menschenrechte, beispielsweise Syrien und Eritrea, berücksichtigt. Außerdem sind Personen mit persönlicher Gefährdung, vor allem alleinstehende Frauen mit Kindern, unbegleitete Minderjährige, alte Menschen, Behinderte und durch Krieg traumatisierte Personen bevorzugte Zielgruppen. Zudem können Personen mit familiären und stabilen sozialen Beziehungen in Italien und der erklärten Bereitschaft, sich in Italien dauerhaft niederzulassen und zu integrieren, in das Projekt aufgenommen werden. Dieses Kriterium dient dazu, die Integrationswege zu fördern und eine Niederlassung in Italien zu gewähren.

Modellhaft an den humanitären Kanälen ist auch die Zusage der Trägerorganisationen, die Kosten für Unterkunft und Verpflegung im ersten Abschnitt der Antragstellung zu übernehmen, sowie durch vorhandene Netzwerke von sozialem Engagement und ehrenamtlichem Einsatz die Integration der neuen BürgerInnen zu fördern. Dabei sind Sprachkurse und Begleitung bei Behördengängen sowie Aufbau von sozialen Kontakten zu Einheimischen Teil der Maßnahmen. Diese Maßnahmen entlasten den Staat und sind zudem eine Möglichkeit, die Immigration zu überwachen und die Sicherheit zu gewähren. Die Anträge werden nämlich schon vor der Einreise nach Italien durch Abteilungen des Innenministeriums geprüft, die Daten der Antragsteller registriert und erst dann das notwendige Visum ausgestellt. Somit werden illegale Aufenthalte von vornherein vermieden, und den Flüchtlingen wird Schutz gewährt. Auch die Flugkosten für die Einreise werden von den Trägern des Projektes übernommen.

Damit ist der Weg der humanitären Kanäle nicht nur eine Alternative zu den Schlepperbanden, sondern er rettet das Leben gerade der Schwächsten unter den Flüchtlingen, die auch am leichtesten Opfer von Missbrauch und Menschenhandel werden. Nach Abschluss der Modellphase, die bis Ende 2016 dauert, und nach Auswertung des Modells der eintausend humanitären Visa durch eine Expertengruppe aus Regierung und Trägerorganisationen wird über eine Fortsetzung und mögliche Ausweitung des Modells nachgedacht.

Die Gemeinschaft Sant’Egidio möchte gemeinsam mit den Projektpartnern weitere europäische Länder in das Projekt einbeziehen und für eine Modellphase auch in ihren Ländern gewinnen. Eine legale und nach diesem Modell auch gesteuerte Immigration wird ein Durcheinander und nutzloses Leiden der Flüchtlinge vermeiden, wie wir es jetzt in dramatischer Weise auf dem Balkan und in anderen Regionen erleben. Es ist nicht nur eine Präventionsmaßnahme gegen Kriminalität und Missbrauch, sondern auch eine Möglichkeit für die europäischen Länder, ohne Mauern und Grenzzäune eine humanitäre Kultur zu pflegen, für die das europäische Projekt steht und das nicht hinter Stacheldraht begraben werden darf.

Darüber hinaus können über ein hastiges Reagieren auf immer neue Alarmrufe und ein Schüren von Ängsten, die sicher nicht weiterhelfen, Energien freigesetzt werden, um auf das eigentliche Problem zu reagieren, nämlich die Ursachen für die Flucht. Neben der Friedensvermittlung in Syrien und im Nahen Osten, der Ukraine und Nordafrika ist auch eine neue Politik der wirtschaftlichen Zusammenarbeit gefordert, die nachhaltige Antworten auf die Armutssituationen gibt. Dies erscheint hilfreicher und zielführender als eine politische Sprache, die Armut als Fluchtgrund abwertet oder Wirtschaftsflüchtlinge kriminalisiert. Dadurch wird nämlich gesellschaftlicher Schaden angerichtet und die Armut banalisiert. Auch wenn Armutsflüchtlinge nicht unter das Asylrecht fallen, sind sie doch Menschen mit einer unantastbaren Würde.

Was politischer Wille möglich macht, zeigte sich, als Europa zur Bewältigung der Finanzkrise intensivste politische Aktivitäten entfaltete und enorme Geldmengen für Griechenland mobilisierte. Europa wuchs immer durch die Überwindung von Krisen, und wird auch heute gestärkt und vereint, wenn es sich für Frieden und Gerechtigkeit einsetzt.

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