Offener Brief jüdischer Intellektueller

Jüdische Intellektuelle fordern „Die Freiheit der Andersdenkenden“

von Christine Schweitzer
Krisen und Kriege
Krisen und Kriege

Am 22. Oktober veröffentlichten 110 in Deutschland lebende jüdische Intellektuelle - Schriftsteller*innen, Filmemacher*innen und Wissenschaftler*innen - einen Offenen Brief. Er erschien in deutscher Sprache in der taz, auf Englisch bei n+1. (1) Die Verfasser*innen kritisieren den Umgang der deutschen Politik mit den Protesten gegen die Angriffe auf den Gazastreifen.

Der Brief beginnt mit den folgenden Absätzen:

„Wir, die unterzeichnenden jüdischen Künstler, Schriftsteller und Wissenschaftler, die in Deutschland leben, verurteilen in diesem Schreiben das beunruhigende Vorgehen gegen die demokratische Öffentlichkeit nach den schrecklichen Gewalttaten in Israel und Palästina in diesem Monat.

Es gibt keine Rechtfertigung für vorsätzliche Angriffe auf Zivilisten durch die Hamas. Wir verurteilen vorbehaltlos die terroristischen Angriffe auf Zivilisten in Israel. Viele von uns haben Familie und Freunde in Israel, die von dieser Gewalt direkt betroffen sind. Mit gleicher Schärfe verurteilen wir die Tötung von Zivilisten in Gaza.

In den letzten Wochen haben Landes- und Stadtregierungen in ganz Deutschland öffentliche Versammlungen mit mutmaßlichen Sympathien für Palästinenser verboten. Diese Repressionen bestrafen auch Demonstrationen wie „Jugend gegen Rassismus“ und „Jüdische Berliner*innen gegen Gewalt in Nahost“. In einem besonders absurden Fall wurde eine jüdische Israelin festgenommen, weil sie ein Schild in der Hand hielt, auf dem sie den Krieg, den ihr Land führt, anprangerte.“

Die Polizei rechtfertigte dies gern mit der Gefahr volksverhetzender, antisemitischer Äußerungen. Nach Ansicht der Autor*innen bestand aber die Absicht, „legitime und gewaltfreie politische Äußerungen, die auch Kritik an Israel beinhalten dürfen, zu unterdrücken“.

Der Brief beschreibt anschließend repressive Übergriffe der Polizei in Berlin. In Neukölln, einem Stadtviertel mit großer arabischer Bevölkerung, zeigte die Polizei hohe Präsenz, griff Menschen mit Pfefferspray an, selbst Kinder wurden festgenommen. Palästinensische Symbole – die in Deutschland erlaubt sind! – wurden beschlagnahmt. Auch in Schulen wurden sie verboten. In Kulturstätten fand Selbstzensur statt. (Anmerkung der Autorin: Das Gleiche, nur gegen alles Russische gerichtet, war im ersten Jahr des russischen Angriffs auf die Ukraine vielfach zu beobachten.) Der Brief stellt eindeutig fest:

„Als Jüdinnen und Juden lehnen wir diesen Vorwand für rassistische Gewalt ab und bekunden unsere volle Solidarität mit unseren arabischen, muslimischen und insbesondere palästinensischen Nachbarn. Wir weigern uns, in vorurteilsbehafteter Angst zu leben. Was uns Angst macht, ist die in Deutschland vorherrschende Atmosphäre von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit, die Hand in Hand mit einem zwanghaften und paternalistischen Philo-Semitismus geht. Wir lehnen insbesondere die Gleichsetzung von Antisemitismus und jeglicher Kritik am Staat Israel ab.“

Antisemitismus wird durch Demonstrationsverbote verstärkt
Ebenso kritisieren sie antisemitische Übergriffe in Deutschland, die auch zahlreich zu beobachten waren – ein Molotowcocktail, der auf eine Synagoge geworfen wurde, und Davidstern-Kritzeleien auf die Türen jüdischer Einwohner*innen. „Klar ist jedoch: Es macht Juden nicht sicherer, wenn Deutschland das Recht auf öffentliche Trauerbekundung um verlorene Menschenleben in Gaza verweigert. Juden sind bereits eine gefährdete Minderheit; einige Israelis berichten, dass sie Angst haben, auf der Straße Hebräisch zu sprechen. Demonstrationsverbote und ihre gewaltsame Durchsetzung provozieren und eskalieren nur die Gewalt.“ 84% aller antisemitischen Straftaten, so die Briefschreiber, werden von Rechten begangen, nicht von Araber*innen oder Palästinenser*innen.

Der Aufruf endet mit den Sätzen: „Dissens ist eine Voraussetzung für jede freie und demokratische Gesellschaft. Freiheit, schrieb Rosa Luxemburg, ‚ist immer Freiheit der Andersdenkenden‘. Wir befürchten, dass mit der derzeitigen Unterdrückung der freien Meinungsäußerung die Atmosphäre in Deutschland gefährlicher geworden ist – für Juden und Muslime gleichermaßen – als jemals zuvor in der jüngeren Geschichte des Landes. Wir verurteilen diese in unserem Namen begangenen Taten.

Wir fordern Deutschland auf, sich an seine eigenen Verpflichtungen zur freien Meinungsäußerung und zum Versammlungsrecht zu halten, wie sie im Grundgesetz verankert sind, das wie folgt beginnt: ‚Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen, ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.‘“

Es bleibt zu hoffen, dass dieser Aufruf – und ähnliche Texte von Seiten jüdischer Friedensgruppen und Aktivist*innen, wie wir sie auch hier in diesem Heft dokumentieren – Gehör findet. Die Verbote praktisch aller pro-palästinensischen Proteste sind undemokratisch, und sie verschärfen die Konflikte. Vielleicht könnte sich Deutschland ein Beispiel nehmen an anderen europäischen Ländern, die solche Proteste aushalten?

Anmerkungen
1 https://taz.de/Offener-Brief-juedischer-Intellektueller/!5965154/ oder https://www.nplusonemag.com/online-only/online-only/freedom-for-the-one-...

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Rubrik

Krisen und Kriege
Christine Schweitzer ist Co-Geschäftsführerin beim Bund für Soziale Verteidigung und Redakteurin des Friedensforums.