Bundesverfassungsgericht

Karlsruher Abbruchunternehmen - Die Demontage des verfassungsrechtlichen Friedensgebots

von Martin Kutscha

Alexander Gauland, ehemals Staatssekretär unter dem hessischen CDU-Ministerpräsidenten Wallmann, redete im Berliner „Tagesspiegel“ vom 23. Juli 2012 Klartext: Die Deutschen hätten ein gestörtes Verhältnis zur Gewalt, deshalb löse „eine Selbstverständlichkeit wie der militärische Schutz von Handelswegen fast eine Staatskrise aus“. Zustimmend zitierte er Bismarck: Die großen Fragen der Zeit würden nicht durch Reden und Mehrheitsbeschlüsse entschieden, „sondern durch Eisen und Blut“.

Gauland steht mit solchen Auffassungen nicht allein, sondern bringt nur in schöner Offenheit zum Ausdruck, wie in gewichtigen Teilen der politischen und ökonomischen Führungsschicht Deutschlands inzwischen – wieder – gedacht wird. Dies belegen nicht nur die „unreflektierten“ Äußerungen des ehemaligen Bundespräsidenten Köhler sowie Stellungnahmen des ebenfalls ehemaligen Verteidigungsministers v. Guttenberg, sondern auch die „Verteidigungspolitischen Richtlinien“ des Bundesverteidigungsministeriums vom Mai 2011. Wo vornehm-abstrakt von „Krisenbewältigung“ durch Streitkräfteeinsätze rund um die Welt gesprochen wird, geht es konkret um die militärisch-gewaltsame Durchsetzung von Wirtschaftsinteressen.

Dies freilich ist weder mit den Grenzziehungen des modernen Völkerrechts noch mit den Normen des deutschen Grundgesetzes vereinbar. Art. 87a GG beschränkt die Bundeswehr auf die Funktion der Verteidigung und lässt hiervon nur durch die Verfassung selbst eng begrenzte Ausnahmen für den Einsatz im Inneren zu. Das Friedensgebot des Art. 26 GG, eine entschiedene Absage an die schlimme Tradition des deutschen Militarismus, verbietet bereits die Vorbereitung eines Angriffskrieges. Wie aber lassen sich damit die inzwischen kaum noch zählbaren bewaffneten Einsätze der Bundeswehr weit jenseits der Grenzen des Territoriums der Bundesrepublik Deutschland vereinbaren? „Die Bundeswehr auf dem Balkan, am Hindukusch und vor dem Horn von Afrika, im Einsatz gegen Terror und Piraten – wer hätte so etwas vor zwanzig Jahren für möglich gehalten?“ So fragte Bundespräsident Gauck in der Rede bei seinem Antrittsbesuch bei der Bundeswehr in Hamburg am 12. Juni 2012. Gemeint war diese Frage allerdings nicht als Kritik, sondern als Anerkennung: Gauck pries die Bundeswehr als „Stütze der Freiheit“ und als „Demokratiewunder“ – hieran zu zweifeln besteht allemal Anlass.

Über Sicherheitssysteme und Parlamentsvorbehalte
Den Weg zu dieser Entwicklung hat das Bundesverfassungsgericht bereits in seiner Grundsatzentscheidung vom 12. Juli 1994 zu Auslandseinsätzen der Bundeswehr geebnet. Es umschiffte die hier eigentlich einschlägige Aufgabenbegrenzung in Art. 87a GG und verwies stattdessen auf Art. 24 Abs. 2 GG. Danach kann sich der Bund „zur Wahrung des Friedens einem System gegenseitiger kollektiver Sicherheit einordnen“ und die damit verbundenen Beschränkungen seiner Hoheitsrechte hinnehmen. Als ein solches „System gegenseitiger kollektiver Sicherheit“ betrachtete das Gericht nicht nur die UNO, sondern zum Erstaunen vieler Völkerrechtler auch die NATO, immerhin ein einseitig ausgerichtetes Militärbündnis. „Die schon im ursprünglichen Text des Grundgesetzes zugelassene Mitgliedschaft in einem System gegenseitiger kollektiver Sicherheit und die damit mögliche Teilnahme deutscher Streitkräfte an Einsätzen im Rahmen eines solchen Systems sollten“, so das Bundesverfassungsgericht, durch den später geschaffenen Art. 87a GG „nicht eingeschränkt werden“. Dabei wurde geflissentlich verschwiegen, dass die Einordnung in ein solches System keineswegs mit der Bereitstellung von Militär verbunden sein muss. In Art. 24 GG fehlt denn auch jegliche Erwähnung von Streitkräften, die von Art. 87a Abs. 2 GG verlangte „ausdrückliche Zulassung“ von Einsätzen jenseits der Verteidigung enthält diese Bestimmung also gerade nicht.

Möglicherweise gedacht als eine Art Kompensation für die Umgehung des Art. 87a GG, kreierte das Gericht immerhin einen Parlamentsvorbehalt für Bundeswehreinsätze: „Das Grundgesetz verpflichtet die Bundesregierung, für einen Einsatz bewaffneter Streitkräfte die – grundsätzlich vorherige – konstitutive Zustimmung des Deutschen Bundestages einzuholen.“ Diesen Parlamentsvorbehalt hat das Bundesverfassungsgericht in späteren Entscheidungen zu Bundeswehreinsätzen bekräftigt und in letzter Zeit auch als eine Art Sicherheitsgarantie gegen den Ausverkauf von Hoheitsrechten insbesondere durch die diversen „Euro-Rettungsschirme“ postuliert. Allerdings ist zweifelhaft, ob das Parlament als „Friedenswächter“ gegenüber der Regierung überhaupt geeignet ist: Nur die Opposition hat ein Interesse an Kontrolle und Kritik der Regierung, während die Parlamentsmehrheit im Regelfall bestrebt sein wird, das Handeln „ihrer“ Regierung zu stützen und damit die Chancen für ihre Wiederwahl zu verbessern. Die Mehrheit der Bundestagsabgeordneten, ja häufig sogar eine informelle Große Koalition hat denn auch jedem der inzwischen weit über 50 Anträge der Bundesregierung, bewaffnete Streitkräftekontingente im Ausland einzusetzen, ihre Zustimmung erteilt. Es fragt sich mithin, ob dieser Parlamentsvorbehalt mehr darstellt als ein bloßes verfassungsrichterliches Placebo für eine besorgte Bevölkerung.

Völkerrechtliche Einschränkungen
Immerhin statuierte das Bundesverfassungsgericht in seinem Grundsatzurteil von 1994  eine Beschränkung, deren besondere Brisanz sich erst an der Schwelle zum 21. Jahrhundert erweisen sollte: Es legitimierte nur Bundeswehreinsätze, die „im Rahmen und nach den Regeln“ der Systeme kollektiver Sicherheit, also konkret den Vorgaben des NATO-Vertrages sowie der UNO-Charta, stattfinden. „Im Rahmen und nach den Regeln“ dieser völkerrechtlichen Dokumente bewegte sich aber z. B. die Bombardierung Jugoslawiens durch NATO-Streitkräfte unter Beteiligung der Bundeswehr im März 1999 keineswegs. Auch im Hinblick auf den Einsatz deutscher Truppen in Afghanistan ist insbesondere angesichts der organisatorischen Verquickung der ISAF-Mission mit der USA-geführten „Operation Enduring Freedom“ strittig, ob die völkerrechtlichen Bindungen dabei eingehalten werden. In seinem „Tornado-Urteil“ vom 3. Juli 2007 mochte das Bundesverfassungsgericht dennoch keinen Verfassungsverstoß feststellen. Es ging sogar soweit, der NATO eine Art Unbedenklichkeitsbescheinigung auszustellen: An „Anhaltspunkten für eine strukturelle Entfernung der NATO von ihrer friedenswahrenden Ausrichtung fehlt es. Die angegriffenen Maßnahmen lassen keinen Wandel der NATO hin zu einem Bündnis erkennen, das dem Frieden nicht mehr dient und an dem sich die Bundesrepublik Deutschland von Verfassung wegen daher nicht mehr beteiligen dürfte.“

Man würde den beteiligten Richtern und Richterinnen sicher Unrecht tun, wenn man solche Einschätzung der NATO-Militäreinsätze als Ausdruck beruflich bedingter Naivität wertet. Das Ergebnis dürfte eher dem Bestreben des Gerichts geschuldet sein, bei politischen Entscheidungen von so grundsätzlicher Bedeutung wie dem Engagement in der NATO der Regierung nicht in den Arm zu fallen. Schließlich wird niemand in das Bundesverfassungsgericht gewählt, der nicht das Vertrauen der beiden großen Bundestagsparteien genießt. Zugespitzt formuliert: Die zu Kontrollierenden wählen ihre Kontrolleure selbst. Gleichwohl hat sich das Bundesverfassungsgericht bei der Verteidigung wichtiger Grundrechte wie z. B. der Meinungsfreiheit beträchtliche Verdienste erworben. Auf der anderen Seite hat seine Rechtsprechung zu Bundeswehreinsätzen bewirkt, dass vom Friedensgebot des Grundgesetzes und den damit verbundenen Beschränkungen für Streitkräfteeinsätze nur noch eine imposante Fassade erhalten ist, hinter der sich Schritt für Schritt die Rückkehr zur überwundenen geglaubten „Normalität“ militärischer Gewalt zur Interessendurchsetzung vollzieht.

Bundeswehreinsätze im Inneren
Doch das Ende der militärischen Fahnenstange ist noch nicht erreicht: In Abkehr vom Urteil des Ersten Senats von 2006 zum „Rettungsabschuss“ von Flugzeugen erklärte das Plenum des Bundesverfassungsgerichts kürzlich auch den Einsatz „spezifisch militärischer Waffen“ bei Bundeswehreinsätzen im Inneren unter bestimmten Voraussetzungen für zulässig (Beschluss vom 3. 7. 2012, 2 PBvU 1/11). Zwar soll sich eine solche militärische „Amtshilfe“ nach Art. 35 Abs. 2 u. 3 GG nicht auf Gefahrenlagen erstrecken, die von einer „demonstrierenden Menschenmenge drohen“.  Die Voraussetzungen, unter denen die Bundeswehr militärische Mittel im Inneren einsetzen darf, sind in der Plenarentscheidung allerdings recht vage formuliert und lassen „viel Spielraum für subjektive Einschätzungen“ und „voreilige Prognosen“ seitens der Verantwortlichen. Darauf hat der Verfassungsrichter Gaier in seinem Minderheitsvotum warnend hingewiesen. Er fragt: „Wie ist beispielsweise zu verhindern, dass im Zusammenhang mit regierungskritischen Großdemonstrationen – wie etwa im Juni 2007 aus Anlass des ‚G8-Gipfels’ in Heiligendamm – schon wegen befürchteter Aggressivität einzelner teilnehmender Gruppen ‚mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit in Kürze’ eintretende massive Gewalttätigkeiten mit ‚katastrophalen Schadensfolgen’ angenommen werden und deshalb bewaffnete Einheiten der Bundeswehr aufziehen?“

Die Bundeswehr nicht nur als weltweit agierende Eingreiftruppe, sondern auch als schwer bewaffnetes Hilfsorgan der Polizei bei Protestaktionen im Inneren - soweit darf es nicht kommen!

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Prof. Dr. Martin Kutscha lehrt Staats- und Verwaltungsrecht an der Hochschule für Wirtschaft und Recht in Berlin und ist Vorstandsmitglied der deutschen Sektion der IALANA.