Afghanistan

Kein Wiederaufbau für breite Bevölkerungsschichten

von Julia Wisniewski

Seit dem Sturz der Taliban im Herbst 2001 hat die von den USA geführte internationale Gemeinschaft (IG) ihr Versprechen, Afghanistan wieder aufzubauen, stets energisch beteuert. Trotz nun mehr als sieben Jahre internationalen Einsatzes, bleibt Afghanistan eines der ärmsten Länder der Welt und rangiert auf den untersten Rängen aller wichtigen Entwicklungsindizes. Seit 2004 hat sich zudem die Sicherheitslage dramatisch verschlechtert; die Gewalt hat die Provinzen um Kabul erreicht und droht nun auch den als zuvor ruhig geltenden Norden zu erfassen.

Afghanistans humanitäre Notlagen und ausufernde Drogenproduktion stellen eine reale und direkte Bedrohung für die Stabilität des Staates dar. Die Unfähigkeit der IG, die Grundbedürfnisse der Bevölkerung aufgrund mangelnder Koordinierung und fehlgeleiteter Politiken zu befriedigen und ein solides Fundament für eine langfristige und nachhaltige Entwicklung zu schaffen, trägt dazu bei, dass das Land nach mehr als 25 Jahren des Konflikts erneut im Chaos zu versinken droht.

Die Übersicht über die am zivilen Aufbau beteiligten Akteure in Afghanistan zu behalten, gestaltet sich schwierig angesichts der Fülle an staatlichen und nichtstaatlichen Akteuren. So gibt es zwei militärische Operationsfelder; "Enduring Freedom", die sich dem Anti-Terror-Kampf widmet, und die Internationale Schutztruppe (International Security Assistance Force, ISAF), die für die Stabilisierung des Landes und die Ausbildung der Sicherheitskräfte zuständig ist. Zur ISAF gehören aus zivil-militärischen Komponenten bestehende regionale Wiederaufbauteams (Provincial Reconstruction Teams, PRT). Derzeit agieren 25 von 34 geplanten PRTs in Afghanistan. Im Land sind zudem hunderte nationale und internationale Nichtregierungsorganisationen (NROs) präsent. Die Vereinten Nationen (VN) sind mit 19 ihrer Sonderorganisationen vertreten, hinzu kommen Arbeitsgruppen, staatliche Wiederaufbauteams sowie das Engagement einzelner Geberstaaten.

Völkerrechtliche Grundlagen der Internationalen Präsenz
Während ISAF eine Sicherheits- und Aufbaumission unter NATO-Führung in Afghanistan ist, die vom VN-Sicherheitsrat im Dezember 2001 völkerrechtlich mandatiert wurde, beruht Operation Enduring Freedom auf dem Selbstverteidigungsrecht der USA sowie der Beistandspflicht der Bündnispartner der NATO. Der Einsatz ist eine direkte Folge der Terroranschläge vom 11. September 2001 mit dem Ziel, den weltweiten Terrorismus zu bekämpfen. Als Rechtsgrundlage werden zwei Resolutionen des Sicherheitsrats herangezogen. Diese schätzen die Terroranschläge in New York als Bedrohung für den internationalen Frieden und die Sicherheit ein. Allerdings wird die IG an keiner Stelle explizit dazu aufgerufen, militärische Maßnahmen nach Artikel 42 der VN-Charta zu ergreifen. Deshalb berufen sich die USA auf das Selbstverteidigungsrecht gemäß Artikel 51 der VN-Charta und den Bündnisfall gemäß Artikel 5 des NATO-Vertrags.

Neubeginn auf dem Bonner Petersberg
Der Grundstein für den politischen und wirtschaftlichen Wiederaufbau Afghanistans wurde im Dezember 2001 auf der internationalen Konferenz auf dem Petersberg bei Bonn gelegt. Dort unterzeichneten die Vertreter der siegreichen afghanischen Fraktionen der Nordallianz, der VN, der USA und andere internationale Akteure ein Abkommen, das einen ambitionierten Zeitplan für den politischen Aufbau auf den Weg brachte: Innerhalb von nur zweieinhalb Jahren sollte die Transformation von einem kriegsgeschundenen „Land ohne Staat“ hin zu einem friedlichen, demokratischen Staat nach westlichem Vorbild gelingen. 2006 wurde auf der internationalen Afghanistan-Konferenz in London der erfolgreiche Abschluss des Petersberg-Prozesses festgestellt und der Afghanistan Compact beschlossen, eine aus drei Säulen (Sicherheit, Governance, Entwicklung) bestehende Strategie, die bis Ende 2010 angelegt ist. Auf ihr baut der nationalen Entwicklungsplan (ANDS) der afghanischen Regierung auf.

Staatsaufbau ohne Staat
Im September 2005 waren mit der Durchführung der Parlaments- und zuvor der Präsidentschaftswahlen im Jahr 2004, die letzten Meilensteine des Bonner Abkommens erreicht worden. Insgesamt betrachtet, haben die internationalen Anstrengungen beim Aufbau eines handlungsfähigen afghanischen Staates jedoch nicht die erwünschten Erfolge gebracht.

Das Parlament wird von der Mehrheit der Bevölkerung nicht als „Volksvertretung“ wahrgenommen. Ein Grund dafür ist, dass rund 80 der gewählten 240 Parlamentarier Kommandeure bewaffneter Milizgruppen sind.

Staatliche Institutionen sind schwach oder existieren so gut wie gar nicht, erst recht nicht in den Provinzen. Dies und die ausufernde Korruption innerhalb der existierenden Strukturen sind die zentralen Kernprobleme Afghanistans, was wiederum die Geberländer früh veranlasste, ihre zugesagten Mittel zum Teil selbst zu verwalten. Mehr als zwei Drittel der Gelder fließen an den Ministerien in Kabul vorbei direkt in Projekte, wodurch die ohnehin geringe Autorität der Regierung zusätzlich geschwächt wird.

Afghanistan hängt am Finanztropf der IG, da etwa 90% der öffentlichen Ausgaben von außen kommen. Beobachter berichten von Verschwendung etwa aufgrund von Unterschlagungen dieser Gelder. Demnach verwandele sich Afghanistan langsam in ein schwarzes Loch, das Milliarden absorbiere, ohne einen feststellbaren positiven Effekt auf das Leben der Bevölkerung und die Stabilität der staatlichen Institutionen zu haben.

Unzureichende Fortschritte beim zivilen Wiederaufbau
Positive Entwicklungen sind im Bildungsbereich, beim Aufbau der Wasserversorgung sowie der zerstörten Infrastruktur in Kabul und einer verbesserten Gesundheitssituation zu vermerken. Sie erreichen jedoch vor allem die Bevölkerung in Kabul, im Norden und teilweise im Westen des Landes. Rasche, flächendeckende, für die lokale Bevölkerung deutlich sichtbare Wiederaufbauprojekte und -programme mit spürbaren Beschäftigungs- und Einkommenseffekten sind von der IG nicht verwirklicht worden. Die Arbeitslosigkeit beträgt ca. 70%, mancherorts, vor allem im Osten und Süden, sogar 90%.

Die anfänglichen Erwartungen nach der Befreiung vom Taliban-Regime wurden enttäuscht. Die extreme Armut und mangelhafte Ernährung des größten Teils der Bevölkerung bedroht die Legitimität der Regierung. Die Bevölkerung hat Zweifel daran, dass die Regierung in der Lage ist, Sicherheit und grundlegende soziale Versorgung bereitzustellen.

Aufgrund fehlender nachhaltiger Existenzgrundlagen floriert der illegale Opiumanbau, an dem 14% der Bevölkerung unmittelbar beteiligt sind. Die Drogenökonomie nimmt direkten Einfluss auf die Politik, da die Haupthändler über sehr gute Kontakte in die Politik verfügen und somit ihre kriminellen Aktivitäten absichern können. Trotz der Bemühungen der IG, den Drogenhandel zu unterbinden, ist Afghanistans Opiumproduktion 2007 um 34% gestiegen.

Rolle der Nichtregierungsorganisationen
Aufgrund mangelnder staatlicher Umsetzungskapazitäten sind NROs in Afghanistan zum unverzichtbaren und wertvollen Bestandteil der internationalen zivilen Aufbauhilfe geworden. Derzeit sind ca. 290 internationale und 980 nationale NROs im Land vertreten. Zeitungsberichte sprechen von mehr als 1.500.

Seit 2003 mehrt sich von afghanischer Seite die Kritik, zu viele NRO-Aktivitäten würden den Aufbau staatlicher Strukturen unterminieren, da diese Regierungsaufgaben (insbesondere im Bereich Wohlfahrt) übernehmen. Nicht wenige Organisationen verfolgen eher eigennützige Interessen. Erhebliche Mittel, die für den Wiederaufbau vorgesehen sind, werden so für die Eigenausstattung verwendet, weshalb die afghanische Regierung 2005 ein Gesetz erlassen hat, durch welches die Tätigkeit der NROs beschränkt wird.

Das Verhältnis zwischen der afghanischen Regierung und den NROs ist gespannt, seitdem diese der Regierung mangelnde Planungsfähigkeit und Korruption unterstellten und im Gegenzug nur mäßig auf bewaffnete Angriffe auf NRO-MitarbeiterInnen reagiert wurde. Daraus resultierend besteht heute eine mangelnde Koordination und sogar Konkurrenz zwischen beiden.

Zunehmend schwierig gestaltet sich auch das Verhältnis von NROs und den VN. Diese kritisieren, die VN würden innerhalb ihrer Aufbaumission zu zaghaft auf die humanitäre Krise reagieren und bemängeln deren Koordinierungsleistung. Zudem zeigen sie sich beunruhigt über die zunehmende Verwicklung der UNAMA (United Nations Assistance Mission in Afghanistan) in militärische Aktivitäten – insbesondere in den PRTs – einerseits und der Leitung und Koordinierung humanitärer Aktionen andererseits. Die Verwischung der Grenzen zwischen Militärs und Zivilisten gefährde die Neutralität der humanitären Hilfe.

Mangelnde Koordination und Kohärenz
Die unzureichenden Fortschritte sind zum einem sicherlich auf die schwierige Ausgangssituation in einem Post-Konfliktland zurückzuführen, andererseits resultieren sie aus Kohärenz- und Koordinationsproblemen der einzelnen Akteure der IG (darunter auch NROs) und dem Fehlen einer internationalen Gesamtstrategie. Je nach eigenen Prioritäten und Interessen verfolgen unterschiedliche Akteure eigene Ziele und stecken ihre Förderbereiche ab, ohne sich ausreichend abzusprechen. Die Folge dieser Aufteilung war nicht nur mangelnde Koordination, sondern vor allem fehlende konzeptionelle Kohärenz, wie z. B. die Abstimmung zwischen Polizei- und Justizreform. Dadurch kommt es zu großen Reibungsverlusten unter den Gebern und zu Verzögerungen bei der Umsetzung von Projekten. Die Konzepte orientierten sich zudem zu sehr an den Vorstellungen der jeweiligen Geber und weniger an den Bedürfnissen und Möglichkeiten Afghanistans. Der Compact und die ANDS stellen einen Versuch der verbesserten Koordination des zivilen Aufbaus dar, getan hat sich bisher wenig. Ob die VN-Mission in Afghanistan, der auf der Konferenz in Paris eine stärkere Rolle bei der Leitung und der Koordinierung des zivilen Wiederaufbaus zugesprochen wurde, etwas ändern kann, bleibt fraglich, denn auch diese Mission ist auf den guten Willen der großen Geberländer angewiesen. Die aber haben ihr die notwendige personelle und institutionelle Ausstattung für die neuen Aufgaben bisher verwehrt.

Ausgabe

Rubrik

Schwerpunkt

Themen

Julia Wisniewski hat Politikwissenschaft an der Universität zu Köln studiert.