(D'Artagnon)

Konsens: Alle gemeinsam und keineR ist einsam!

von Markus Beuschlein
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Was haben der Vorstand der Deutschen Bank und manche politische Aktionsgruppe gemeinsam? Beide Gruppen entscheiden nur gemeinsam, ohne Abstimmungen, durch die Zustimmung aller Gruppenmitglieder. Seit das Konsensprinzip als Entscheidungsform in den 70er Jahren aus den USA von der westdeutschen Friedensbewegung übernommen wurde, gab es damit viele, teilweise gescheiterte Versuche. Es erwies sich jedoch als einzig sinnvolle und basisdemokratische Alterna-tive zu den bisher praktizierten Entscheidungsformen. Das ist gerade bei politischen Aktionsgruppen wichtig, denn werden Minderheiten in der eigenen Gruppe schlicht überstimmt, kann das den Zusammenhalt gefährden, und so manche politische Aktion wurde auf diese Weise zum Alptraum. Ode wer kennt denn nicht die triviale Einsicht "Einigkeit macht stark"?

Eine Möglichkeit, Konsens zu finden, oder: die gängige Alternative
Viele langjährige FriedensaktivistInnen erinnern sich noch an das Modell der vier Konsensstufen, das von der westdeutschen Friedensbewegung im Rahmen des gewaltfreien Widerstands gegen den NATO-Nachrüstungsbeschluß (Pershing 2 und Cruise Missiles) ausprobiert wurde. Viele Basisgruppen wenden das vierstufige Modell heute noch erfolgreich an. Es enthält vier praktikable und eine eher problematische Konsensstufe.

Konsens erster Klasse ist ein Konsens, dem alle Gruppenmitglieder uneingeschränkt zustimmen können. Die zweite Stufe ist ein Konsens mit Einschränkungen. Dies bedeutet, daß einzelne Grup-penmitglieder leichte Bedenken gegen die Gruppenentscheidung haben, mit dieser aber ansonsten leben können. Die Konsensstufe 3 bedeutet "Beiseite stehen" und drückt so schwere Bedenken des Gruppenmitglieds aus, daß es bei der Ausführung der Gruppenentscheidung nicht teilnehmen wird. Sie ist vergleichbar mit der Enthaltung bei Mehrheitsentscheidungen. Wird ein Konsens so erzielt, ist das zwar nicht sonderlich befriedigend, aber akzeptabel. Als vierte Möglichkeit existiert das Veto. Das Veto eines Gruppenmitglieds blockiert auf jeden Fall einen Konsens. Es sollte deshalb sehr verantwortungsvoll damit umgegangen werden. Andernfalls be-steht die Gefahr, daß Konsensentscheidungen zu einem Austausch von Vetos verkommen. Hier ist v.a. die Gruppenatmosphäre entscheidend: Leichtsinnige Vetos werden meistens dann eingesetzt, wenn Gruppenmitglieder fürchten müssen, übergangen zu werden. Eine fünfte "Lösung" ist nicht unbedingt eine Lösung. Sie bedeutet "Aus der Gruppe gehen". Wird das Veto eines Mitglieds von der Gruppe nicht akzeptiert, so ist dies manchmal der letzte Ausweg, der einem Gruppenmitglied bleibt -- inwieweit so etwas akzeptabel ist ...

Entscheidungen mit Zustimmung aller Beteiligten zu treffen, ist in kleineren Gruppen leichter zu praktizieren als z.B. in Plenumssitzungen mit über 30 Leuten. Die maximale Größe einer Gruppe, die mit Konsens entscheiden kann, liegt etwa bei 15-20 Personen. Gruppen können jedoch mit Konsensbeschluß auch SprecherInnen ernennen und diese in eine übergeordnete Entscheidungs-gruppe delegieren (die dann Konsensvorschläge finden, die dann in den Basisgruppen diskutiert und wieder in die Delegiertengruppe zurückgegeben werden, usw.). Dieses Verfahren heißt SprecherInnenrat und wurde im Beispiel von Seabrook/USA, das weiter unten vorgestellt ist, bei zwei Delegationsstufen bereits mit 1400 Menschen erfolgreich angewendet.

Einheit in der Vielfalt: Die politischen Gruppen nicht nur der Friedensbewegung
Konsensgruppen in der Friedensbewegung entscheiden auf regionaler Ebene, wie beispielsweise die Ohne Rüstung leben-Gruppe Heidelberg oder die Aktionsgruppe Soziale Verteidigung Marburg. Aber auch bundesweite Organisationen der Friedensbewegung wenden das Konsensprinzip an, wie die Werkstatt für gewaltfreie Aktion Baden in ihrem Mitarbeiter/innenkreis oder der Versöhnungsbund und der Bund für Soziale Verteidigung BSV (letzterer mit starken Einschränkungen).

Ein weiteres Beispiel der anarchistischen Bewegung ist die Föderation gewaltfreier Aktionsgrup-pen/ Graswurzelrevolution FögA. In den Gremien der FögA wird ein leicht modifiziertes Konsensprinzip angewendet. Wenn Entscheidungen getroffen werden sollen, muß zuerst versucht werden, Konsens zu erreichen. Wenn Konsens nicht möglich ist, müssen mindestens 50 Prozent der Stimmberechtigten für den Vorschlag oder Antrag sein. Gleichzeitig ist er nur dann akzeptiert, wenn nicht mehr als 15 Prozent der Stimmberechtigten dagegen sind. Dieses Verfahren heißt "50/15-Regel".

Auch in politischen Aktionsbündnissen auf Zeit machen sich Gruppen auf die Suche nach Konsens. Erstmalig wurde das Konsensprinzip in gewaltfreien Aktionen von der Ökologiebewegung der USA angewendet, bei der Besetzung des AKW-Bauplatzes in Seabrook im amerikanischen Bundesstaat New Hampshire am 30. April/1. Mai 1977. Dort schafften es die besagten 1400 AktivistInnen, sich mit ihren Bezugsgruppen (jeweils 8-15 Leute) nach ihrer Verhaftung einstimmig zu entschließen, aus Protest im Gefängnis zu bleiben. Das Konsensprinzip kam dann nach Europa und wurde bei der Besetzung des Bohrplatzes 1004 in Gorleben und bei den Blockaden von Brokdorf eingesetzt. Seither sind Übungen zur Konsensfindung fester Bestandteil von aktionsvorbereitendem gewaltfreien Aktionstraining geworden.

In sogenannten utopischen politischen Kommunen, also solchen, die versuchen, die Vision einer anderen, gewaltfreien Gesellschaft im Kleinen heute schon zu verwirklichen, wird zunehmend auf Konsensentscheidung im Plenum oder in Kleingruppen gesetzt. Beispiele für solche Projekte sind die Kommune Niederkaufungen bei Kassel, die anarchistische Kommune "Burgdomäne Lutter" im Harz oder der Finkhof im Allgäu. Kommuneähnliche, jedoch spirituell orientierte Gemeinschaften wie die "Bauhütte" im Südschwarzwald, der "Lebensgarten Steyerberg" im gleichnamigen Dorf in Niedersachsen, die "Arche" in Frankreich (gegründet von dem gewaltfreien Streiter Lanza del Vasto) oder auch "Findhorn" in Nordschottland haben mit der Entscheidungsform "Konsensprinzip" in Kleingruppen bereits Erfahrungen gesammelt.

Basisdemokratische Entscheidungsformen im konservativen Gewand
Es ließen sich unzählige weitere kleine Gruppen aufzählen, aus den unvermutetsten Gesellschaftsbereichen, die heutzutage bereits ohne Mehrheitsabstimmungen auskommen. Bemerkenswert sind jedoch Beispiele, die für die aktuelle Entwicklung stehen, das Konsensprinzip auch in traditionellen Bereichen einzuführen. Die 13köpfige Vorstandsetage der Deutschen Bank entscheidet nach Konsensprinzip ebenso wie die meisten durchschnittlichen Wirtschafts-unternehmen in Japan. Dort heißt Konsensprinzip "Ringi-System", und es hat sich die Erfahrung durchgesetzt, daß trotz längerer Entscheidungsdauer letztlich Konsensentscheidungen auch in der Marktwirtschaft effektiver sind als reine Managemententscheidungen. In der Deutschen Bank hat übrigens A. Herrhausen sich für Konsensstrukturen stark gemacht.

Was also in der alternativen Wirtschaft, in Hunderten von selbstverwalteten Betrieben der Bundesrepublik tägliche Realität ist, nämlich gemeinsam zu entscheiden, funktioniert auch in den großen Konzernen. Selbst in umstrittenen betrieblichen Weiterbildungsprogrammen, z.B. in der "Organisationsentwicklung", ist Kleingruppenbildung und Konsensfindung mittlerweile gang und gäbe. Warum auch nicht, das Prinzip der Suche nach Gruppenkonsens macht zunächst nicht vor ideologischen Schranken halt. Selbst Schwurgerichte in den USA verhängen mit Konsensbeschluß Todesurteile.

Aber das ist kein Grund, in den Gruppen der Friedensbewegung die Uhr zurückzudrehen und Mehrheitsrecht wieder einzuführen. Eher ist die Entwicklung in konservative Kreise hinein ein Anlaß, einmal mehr kritisch nachzufragen und die Unterschiede zu "unseren" Entschei-dungsstrukturen herauszustellen. Wir sollten unsere guten Ideen, wie das Konsensprinzip, weiterentwickeln und nicht so einfach, wie die "Ökologiebewegung", vermarkten und vereinnahmen lassen.
 

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