Ostukraine

Krieg in der Ostukraine – wie lange noch?

von Bernhard Clasen
Krisen und Kriege
Krisen und Kriege

13.000 Menschen sind seit 2014 bei Kämpfen zwischen den von Russland mit Waffen und Militärs unterstützten Aufständischen und Angehörigen der ukrainischen Armee und zum großen Teil rechtsradikalen Freiwilligenbataillonen in der Ostukraine ums Leben gekommen. Seit dem 27. Juli 2020 gilt ein unbefristeter Waffenstillstand. Es ist der 21. unbefristete Waffenstillstand in diesem Krieg und wie die vorherigen Waffenstillstände, wird auch er ständig gebrochen.

Man ist bescheiden geworden, kann sich schon darüber freuen, dass weniger Menschen ihre Leben verlieren als noch 2014 und 2015. 2021 sind mit Stand vom 7. Mai nach Angaben des Portals 24tv.ua 43 ukrainische Militärs in der Ostukraine umgekommen.

Doch eine weitere Eskalation ist nicht auszuschließen, bleiben doch die Ursachen, die zu diesem Krieg geführt haben, weiterhin bestehen.

Die Ursachen des Konfliktes
Immer mehr entfernen sich die Menschen in den von Kiew nicht kontrollierten Gebieten der Ostukraine mental von der restlichen Ukraine: In Donezk und Lugansk lernen die Kinder aus Schulbüchern, die die Geschichte aus russischer Sicht erklären, dort spricht man fast nur noch russisch, sieht russisches Fernsehen, fast alle ukrainischen Nachrichtenportale sind dort blockiert.

In den von Kiew kontrollierten Gebieten der Ukraine wird Russisch hingegen nur noch, wenn überhaupt, im Alltag gesprochen. Ukrainisch ist Amtssprache und wer nicht ukrainisch kann, soll zusehen, wie er bei einer Gerichtsverhandlung oder im Umgang mit Behörden zurechtkommt. In diesem Teil der Ukraine sind viele Nachrichtenportale des Donbass und Russlands blockiert, russlandfreundliche Fernsehkanäle weitgehend verboten.

Russland heizt den Konflikt weiter an, mit Truppen und medial. Im April 2021 hat Russland die Sperrung der Meerenge von Kertsch am Asowschen Meer bis Oktober angekündigt. Damit kann die Ukraine nicht mehr so ohne weiteres die eigenen Häfen von Mariupol und Berdjansk anlaufen. Russland muss der Ukraine einen reibungslosen Zugang zu seinen eigenen Häfen im Asowschen Meer ermöglichen. Das verlangt das internationale Seerecht und das verlangt auch ein 2003 zwischen der Ukraine und Russland geschlossener Vertrag über die gemeinsame Nutzung des Asowschen Meeres. Faktisch ist Russlands Vorgehen eine schleichende Annexion des Asowschen Meeres.

Dass russische Soldaten in der Ukraine sind, weiß ich aus eigener Erfahrung. Im November 2014 habe ich in der Budjonova-Strasse in Lugansk 50 Militärlastwagen gesehen, die direkt von der russisch-ukrainischen Grenze gekommen sind. Bei einem Besuch in Donezk 2015 konnte ich nicht in einem preisgünstigen Hotel unterkommen, weil, wie mir eine Donezker Bekannte gesagt hatte, „sich dort die Russen einquartiert haben“.

Hass auf beiden Seiten
Hinzu kommt der Hass auf beiden Seiten. Am 22. und 23. April 2021 tagte in Donezk ein Forum „Einheit der Russen“. Auf diesem Forum, dem neben den Chefs der „Volksrepubliken“ von Donezk und Luhansk auch Abgeordnete der russischen Staatsduma beiwohnten, wurden nicht nur Menschenrechtsverletzungen der ukrainischen Armee dokumentiert.

Auch der Ruf nach einem militärischen Angriff auf die ukrainischen Streitkräfte und einer „Entnazifizierung der Regierung in Kiew“ wurde laut. So kritisierte der Donetzker Publizist Gennadi Dubowoj auf dem Forum die von den „Volksrepubliken“ geplanten humanitären Programme. Stattdessen forderte er unter großem Applaus eine militärische Lösung. Auch Putin habe im Tschetschenienkrieg den „Feind auf dem Klo kaltgemacht“, so Dubowoj. Dass Russlands Machthaber härter im Umgang mit Separatisten als die ukrainische Regierung sind, scheint Dubowoj nicht aufzufallen. Russisches Militär hatte die Hauptstadt des separatistischen Tschetschenien, Grosnij, dem Erdboden gleichgemacht.

Auch in den von Kiew kontrollierten Gebieten ist der Hass auf die „Terroristen“ von Donezk und Lugansk augenfällig. Der Ruf „Tod dem Feind“ gehört zum Repertoire fast jeder Demonstration ukrainischer Patriot*innen.

Jedes Jahr gedenken Bürger*innen von Odessa am 2. Mai der 48 russlandfreundlichen Demonstrant*innen, die beim Sturm des Gewerkschaftshauses durch ukrainische Patrioten am 2. Mai 2014 ums Leben gekommen sind. Und jedes Jahr verlieren Präsident und andere Vertreter*innen des ukrainischen Staates kein einziges Wort über diese Toten. Im Gegenteil: immer wieder werden Gedenktafeln mit Fotos der Toten vor dem Gewerkschaftshaus von Odessa von den Behörden und ukrainischen Patrioten entfernt. Gleichzeitig wird der Toten des proeuropäischen Maidan sehr feierlich und in Anwesenheit des Präsidenten gedacht.

Während Sympathisant*innen der „SS-Galizier“, einer Einheit von Ukrainern, die im Zweiten Weltkrieg Hitler die Treue geschworen und auf Seite der Deutschen gekämpft und gemordet hatten, geschützt von der Polizei am 28. April durch Kiew marschierten, werden russlandfreundliche Sender geschlossen.

Wie weiter?
Die Friedensverhandlungen zwischen den Konfliktparteien gehen im Schneckentempo voran. 2014 war ein Friedensplan für die Ostukraine, die Minsk-Vereinbarung, unterzeichnet worden. Die Kämpfe gingen trotzdem weiter. Insbesondere in Kiew gibt es derzeit keine Akzeptanz mehr für einige Punkte dieser Vereinbarung. So sträubt sich Kiew gegen eine allgemeine Amnestie für alle am Konflikt Beteiligten und einen Sonderstatus für das derzeit von Kiew nicht kontrollierte Gebiet. Während in den Minsker Vereinbarungen festgehalten ist, dass die Ukraine die Grenze erst nach Kommunalwahlen wieder kontrollieren darf, will Kiew die Reihenfolge ändern. Zuerst will Kiew die Grenze kontrollieren können und dann sollen dort Regionalwahlen stattfinden, so das offizielle Kiew. Derzeit scheint die Zeit für ein Nachverhandeln der Vereinbarungen von Minsk nicht reif.

Das Recht auf Selbstbestimmung der Völker und das Recht von Staaten auf territoriale Integrität sind nicht immer kompatibel. Ich bin aus pragmatischen Gründen der Auffassung, dass das Recht von Staaten auf territoriale Integrität Vorrang hat. In der Regel führen einseitig erklärte Abspaltungen und Grenzänderungen zu Kriegen. Dass die Veränderung der Grenze bei der deutschen Wiedervereinigung und der Aufspaltung der Tschechoslowakei in Slowakien und Tschechien gewaltlos vonstatten gegangen ist, liegt ja gerade daran, dass da nicht einseitig gehandelt wurde. Diesen Grenzänderungen sind vielmehr lange Verhandlungen vorausgegangen.

Wohl kaum ein Begriff hat zu so viel Blutvergießen geführt wie der Begriff der „historischen Gerechtigkeit“. Doch wenn man sich diesen Begriff zum Leitfaden politischen Handelns machen würde, stände ganz Afrika in Flammen. Die absolut geraden Grenzen vieler afrikanischer Staaten zeigen ja gerade, dass diese Grenzen künstlich, von den Kolonialherren gemacht und somit „ungerecht“ sind. In Afrika hat man sich geeinigt, diese Grenzen trotzdem anzuerkennen. Einfach deswegen, weil alles andere weiteres Blutvergießen bedeuten würde.

Viele Kriege in der früheren Sowjetunion, seien es der Karabach-Krieg, der Tschetschenien-Krieg oder die Kriege in Georgien hätten ohne die Forderung nach „historischer Gerechtigkeit“ vielleicht gar nie stattgefunden.
Ich bin der Auffassung, dass alle Staaten ein Existenzrecht in den Grenzen haben, in denen sie in die UNO aufgenommen worden sind. Bezogen auf die Ukraine bedeutet dies: die Krim und der Donbass sind ukrainisch.
Doch wie soll die Ukraine es schaffen, ohne einen neuen Krieg die Kontrolle über den Donbass und die Krim zu erringen?

Wenn eine Frau einen Mann verlässt und dieser ihr anschließend mit Gewalt droht, hat er sie endgültig verloren. Wenn er ihr jedoch ein gutes Angebot macht, kann er hoffen, dass sie zurückkommt. (Vergleich?)
Übertragen auf die Ukraine bedeutet dies: Solange Kiew den Bevölkerungen des Donbass und der Krim mit Bomben, Raketen und dem Entzug von Trinkwasser droht, wird es sich dort schwerlich Sympathien erwerben. Sinnvoller wäre es, diesen Bevölkerungen ein gutes Angebot zu machen.

Ein gutes Angebot für die Ostukraine
Es sind vor allem zwei Dinge, die die Menschen in den von Kiew nicht kontrollierten Gebieten bei einer erneuten Kontrolle ihrer Gebiete durch Kiew fürchten: Rache und rechtradikales Gedankengut.

Deswegen ist es wichtig, dass die Regierung in Kiew ein Amnestie-Gesetz erlässt, bei dem sich niemand in Donezk, Lugansk oder auf der Krim vor einer Verfolgung durch die ukrainischen Behörden fürchten muss, nur weil er oder sie in einer Behörde der nicht anerkannten „Volksrepubliken“ von Donezk und Lugansk gearbeitet hat. Ausgenommen von einer Amnestie-Regelung sollten jedoch Personen werden, die Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen haben.

In der Ukraine sind Personen wie die Nazi-Kollaborateure Stepan Bandera und Roman Schuchewytsch immer noch hoch angesehen, in vielen Städten sind Straßen nach ihnen benannt, kaum ein Ort in der Westukraine, in dem nicht ein Denkmal für einen dieser beiden Nationalistenführer steht. Vor einem derartigen Gedankengut fürchtet man sich in Donezk, Lugansk und der Krim. Solange Kiew nicht gegen dieses Gedankengut vorgeht, solange Sympathisant*innen der „SS-Galizien“ ungehindert durch Kiew marschieren können, so lange werden auch diese Befürchtungen vieler Menschen im Osten des Landes berechtigt bleiben.

Als am 28. April 2021 Sympathisant*innen der SS-Galizier durch Kiew marschiert sind, hatte die deutsche Botschafterin diesen Marsch auf ihrem Twitter-Account kritisiert. Ich hätte mir eine entschiedenere Form der Missbilligung gewünscht. Frau Botschafterin hätte bei einem derart schweren Fall von Nazi-Propaganda persönlich vor die Presse treten müssen.

Bei aller Kritik an der Ukraine: Russland ist keine Alternative. Dort werden Homosexuelle in Tschetschenien hingerichtet, die Presse ist geknebelt, Menschenrechtler*innen müssen sich selbst als „ausländische Agenten“ bezeichnen, Folter ist in russischen Gefängnissen an der Tagesordnung.

Und wir sollten auch vor der eigenen Haustüre kehren. In meiner Heimatstadt Mönchengladbach „ziert“ die wichtigste Straße der Name „Hindenburg“. Zur Erinnerung: Hindenburg hatte Adolf Hitler mit der Regierungsbildung beauftragt und er hatte auch das Ermächtigungsgesetz unterschrieben. Immer wieder sehe ich auf deutschen Friedhöfen Denkmäler für Soldaten, die im Zweiten Weltkrieg "auf dem Feld der Ehre" gefallen sind. Vielleicht wäre es besser, wenn wir erst einmal die eigenen Spuren unserer Nazi-Vergangenheit beseitigen, bevor wir andere Völker kritisieren.

Bernhard Clasen ist Kiew-Korrespondent von taz und Eurotopics.net

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