Mobil gegen Mobilmachung

Kriegsdienstverweigerung in Russland, Ukraine und Belarus

von Rudi Friedrich
Krisen und Kriege
Krisen und Kriege

Am 21. September 2022 rief die russische Regierung eine Teilmobilmachung aus. In den Tagen danach fragten Hunderte bei Connection e.V., Pro Asyl und anderen Organisationen um Unterstützung an. Zehntausende flohen aus dem Land. Es war eine regelrechte Abstimmung mit den Füßen gegen den Krieg.

Die Bewegung für Kriegsdienstverweigerung in Russland berichtete wenige Tage später, dass massenhaft Personen festgenommen wurden, die rekrutiert werden sollten. Es fanden Razzien in Wohnheimen, U-Bahnen, Obdachlosenunterkünften und Wohnhäusern statt. Alle Festgenommenen wurden vorgeladen und dann unter Androhung von Strafverfahren dazu genötigt, die Einberufung zu akzeptieren. Dokumente, z.B. über Ausmusterung oder Zurückstellungen, wurden nicht überprüft. Über Wochen herrschte Willkür und Angst.

Viele fragten bei uns an, wie sie angesichts dieser Rekrutierungswelle das Land verlassen könnten. Andere schafften es, in angrenzende Länder, wie z.B. Kasachstan, Georgien oder Armenien, zu fliehen und suchten nach Möglichkeiten, ein Visum für Westeuropa zu erhalten. Einige wenige riefen auch aus Deutschland oder angrenzenden Ländern an. Sie hatten es geschafft, ein Visum zu bekommen oder auf anderen Wegen Deutschland zu erreichen. Wie können wir Asyl erhalten, fragten sie. Und wir mussten ihnen mitteilen, dass es trotz verschiedener Äußerungen von Politiker*innen, russischen Verweigerern Schutz geben zu wollen, für sie eher schwieriger geworden ist, Westeuropa zu erreichen und einen Schutz zu bekommen.

Flucht nicht nur aus Russland
Fast zur gleichen Zeit hatten wir die internationale Unterschriften-Kampagne #ObjectWarCampaign gestartet, mit der wir Schutz und Asyl für diejenigen einfordern, die sich - auf welcher Seite auch immer - dem Krieg in der Ukraine entziehen. Wir recherchierten auch dazu, wie viele in den verschiedenen Ländern das Land verlassen haben. Unserer Schätzung zufolge sind es 150.000 aus Russland, 145.000 aus der Ukraine und 22.000 aus Belarus. Es gibt also auch breiten Widerstand gegen Rekrutierung in Belarus und der Ukraine. Die Konsequenzen für die Betroffenen sind jedoch höchst unterschiedlich.

Humanitärer Aufenthalt für ukrainische Staatsbürger*innen
Die Ukraine hatte am 24. Februar die Generalmobilmachung verkündet und die Grenzen für militärdienstpflichtige Männer geschlossen. Später erfuhren wir über die Ukrainische Pazifistische Bewegung, dass das ohnehin restriktive Gesetz zur Kriegsdienstverweigerung einfach ausgesetzt wurde. Einige Kriegsdienstverweigerer wurden bereits zu mehrjährigen Haftstrafen verurteilt.

Von Angehörigen und Bekannten erhielten wir viele Anfragen, wie militärdienstpflichtige Männer trotzdem das Land verlassen können. Wer es auf illegalen Wegen versuchte, riskierte die Festnahme an der Grenze. So wurden im ersten Halbjahr 2022 8.000 Verfahren wegen illegalen Grenzübertritts eröffnet sowie 5.000 Verfahren wegen Militärdienstentziehung, Desertion oder ähnlicher Delikte.

Dennoch haben es viele geschafft, ins Ausland zu kommen. Und in der Europäischen Union erhalten sie zumindest befristet einen humanitären Aufenthalt. Das schützt sie vorläufig vor Verfolgung.

Kein Asyl für Militärdienstentzieher
Der überwiegende Teil der russischen Verweigerer und Deserteure floh in die Nachbarländer. Nur ein Bruchteil erreichte die Europäische Union. Und hinzu kommt: Die meisten waren so klug, dass sie angesichts einer möglichen Rekrutierung schon vorher das Land verließen und nicht erst eine Einberufung oder Rekrutierung abwarteten. Genau diese Gruppe wird die größten Probleme in der Europäischen Union haben, Schutz zu erhalten.

Die Bundesregierung hatte bereits im April 2022 erklärt, dass russische Deserteure Asyl erhalten sollen, sofern sie die Desertion nachweisen können. Ihre Desertion werde in Russland als politischer Akt gegen den Krieg angesehen. Für Militärdienstentzieher wurde dies jedoch ausdrücklich ausgeschlossen.

Das Europäische Parlament bleibt noch weit dahinter zurück. Es rief am 5. Oktober 2022 „alle Menschen aus Russland auf, sich nicht in einen Krieg hineinziehen zu lassen, der internationales Recht verletzt“ und fordert die Mitgliedstaaten auf, „sicherzustellen, dass jeder Asylantrag von Dissidenten, Deserteuren, Militärdienstentziehern und Aktivisten auf individueller Basis behandelt wird, die Sicherheitsbedenken der Mitgliedstaaten beachtet werden und dies in Übereinstimmung steht mit dem EU-Besitzstand.“ Kurz gesagt: Alles geht nach Recht und Ordnung. Und das bedeutet, dass Kriegsdienstverweigerung und Desertion grundsätzlich nicht als Asylgrund angesehen werden.

Bei den Visaregelungen gab es statt einer Öffnung eine Verschärfung. Die baltischen Staaten schlossen die Grenzen für russische Staatsbürger*innen. Andere Länder reagierten mit strikteren Visaregelungen. Und auch deutsche Botschaften, so wurde uns von Angehörigen mitgeteilt, verweigerten in so manchen Fällen eine Visumserteilung, weil nicht davon auszugehen sei, dass die Person rechtzeitig wieder zurückkehre. Die Grenzen wurden also abgeriegelt. Auf der anderen Seite ist der Status der Betroffenen in einem Teil der Fluchtländer extrem prekär und unsicher.

Es wird Zeit, dass sich wirklich etwas ändert. Mit unserer Initiative #ObjectWarCampaign wollen wir mehr Druck auf die europäischen Institutionen ausüben. Die Unterschriftensammlung läuft noch bis März 2023. Bitte beteiligt Euch daran: https://www.Connection-eV.org/ObjectWarCampaign

Ausgabe

Rubrik

Krisen und Kriege

Themen