Für ein KDV-Recht ohne Einschränkungen streiten!

Kriegsdienstverweigerung ist Menschenrecht

von Martin Singe
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Die Wiederinkraftsetzung der Allgemeinen Wehrpflicht steht vor der Tür. Die CSU wünscht das ausdrücklich, die CDU will ein allgemeines Pflichtjahr mit „aufwachsender“ Wehrpflicht – eine neue Regierung wird die geplante Auswahlwehrpflicht von Pistorius, die schon schlimm genug wäre, in die Tonne klopfen und die Allgemeine Wehrpflicht wieder aktivieren – sofern dem kein entschiedener Widerstand entgegengesetzt wird. Die Ausdehnung der Wehrpflicht auf Frauen ist ebenfalls zu befürchten. Auch das KDV-Anerkennungsverfahren könnte dann wieder für alle Verweigerer gelten. Dies alles kann aber auch als Chance begriffen werden, jetzt erneut für das Grundrecht auf Kriegsdienstverweigerung ohne jegliche Einschränkung zu streiten.

In diesem Kontext sollen die folgenden Darstellungen Argumentationshilfen zum Thema „Gewissensfreiheit“ und „KDV als Menschenrecht“ bieten.

Recht auf Kriegsdienstverweigerung
Als das Grundrecht auf Kriegsdienstverweigerung (KDV) 1949 in das Grundgesetz geschrieben wurde, war die junge Bundesrepublik noch weit entfernt von der Wiederbewaffnung oder einer Wehrpflicht. Trotzdem schien den Verfassern und den wenigen Verfasserinnen des Grundgesetzes dieses Recht so bedeutsam, dass sie es ausdrücklich in die Verfassung aufnahmen – als Absatz 3 des Artikels 4 zur Gewissensfreiheit. Die Erfahrungen mit den Schicksalen der Deserteure des Zweiten Weltkrieges sollten sich nie wiederholen. Etwa 30.000 Todesurteile wurden von der NS-Militärjustiz gegen „Deserteure/Fahnenflüchtige“, „Wehrkraftzersetzer“ und „Kriegsverräter“ (so die Straftatbestände) in der NS-Zeit verhängt, etwa 22.000 Urteile wurden durch Hinrichtungen vollstreckt.

Das KDV-Grundrecht – mit Hürden und Beschränkungen
Im Parlamentarischen Rat gab es 1948/49 inhaltliche Auseinandersetzungen um die Einführung eines Grundrechts auf KDV (vgl. hierzu Stefan Philipp in diesem Heft). Dem Grundgesetzabsatz zur KDV (Art. 4 Abs. 3) war hinzugefügt worden, dass das „Nähere“ durch ein Bundesgesetz zu regeln sei. Bereits durch die Formulierungen des KDV-Rechts „Niemand darf gegen sein Gewissen zum Kriegsdienst mit der Waffe gezwungen werden“ waren Einschränkungsmöglichkeiten eröffnet: Was ist das „Gewissen“, lässt sich dieses eventuell überprüfen? Wer definiert genau, was „Kriegsdienst mit der Waffe“ bedeutet? Was ist mit einem Kriegsdienst ohne Waffen? Inwieweit sind zivile Dienste im Ernstfall kriegsunterstützende Leistungen (vgl. die Argumente der Totalverweigerer!). Das zu erlassende Bundesgesetz wurde nun nicht als Gesetz zur Umsetzung des KDV-Rechts bzw. zur Gewissensfreiheit formuliert, sondern alles, was die KDV betraf, wurde - im Rahmen der Wiederbewaffnung - in das 1956 eingeführte Wehrpflichtgesetz integriert und damit der Wehrpflicht untergeordnet.

In den 1960er und 70er Jahren nahm die Zahl der Verweigerer ständig zu, der Ersatzdienst, später Zivildienst, wurde ausgebaut und sorgte tendenziell für höhere gesellschaftliche Anerkennung von Verweigerern wegen ihres nützlichen Dienstes. In diesen Jahren war die Anerkennung als KDVer nur nach einem entwürdigenden und inquisitorischen Gewissensprüfungsverfahren möglich. Absurde Zwickmühlenfragen zu Notwehrsituationen sollten den Antragsteller in die Enge treiben. Die Nicht-Anerkennungen waren extrem willkürlich. Bis zum Verwaltungsgericht musste man die eigene Anerkennung notfalls durchfechten. Wie viele Betroffene in diesen Verfahren gescheitert sind und aufgegeben haben, ist nicht bekannt. Von selbstbestimmter Gewissensfreiheit konnte mithin keine Rede sein.

Die sozialliberale Koalition scheiterte 1977 mit einer Gesetzes-Novelle zur Abschaffung der Gewissensprüfungen am verfasssungsrechtlichen Einspruch der CDU/CSU und der darauf folgenden einstweiligen Anordnung des Bundesverfassungsgerichts zur Außerkraftsetzung des neuen Gesetzes. Das höchste Gericht musste sich nun grundsätzlich mit der Gesetzeslage zur Kriegsdienstverweigerung beschäftigen.. Dieses fällte am 13.4.1978 eine – auch für die Folgezeit – verheerende, aber fundamental richtungsweisende Entscheidung. Deshalb wird an dieser Stelle ausführlicher auf dieses – umstrittene - Urteil eingegangen. Die allgemeine Wehrpflicht, eigentlich eine einfachgesetzliche Regelung, wurde in den Rang eines Verfassungsgebotes befördert und damit die Kriegsdienstverweigerung, eigentlich ein Grundrecht, zu einem Ausnahmerecht degradiert. Das höchste Gericht interpretiert die 1956 erfolgte Ermächtigung des Bundes zur Aufstellung von Streitkräften (Art. 87a GG) als ein verfassungsrechtliches Gebot: „Mit diesen nachträglich in das Grundgesetz eingefügten Bestimmungen hat der Verfassungsgeber zugleich eine verfassungsrechtliche Grundentscheidung für die militärische Landesverteidigung getroffen. Einrichtung und Funktionsfähigkeit der Bundeswehr haben verfassungsrechtlichen Rang.“ Daher habe der Staat auch das Recht, die von Verweigerern „in Anspruch genommene Gewissensposition festzustellen“.

Wenn aber allein die Zivildienstzeit die einzige „Probe auf das Gewissen“ darstelle, müsse diese gegenüber dem Gesetz deutlich verlängert werden, auch wenn das Gesetz dies eigentlich verbietet. Indem man alle möglichen Reservistendienstzeiten zusammenrechnete, gelang es, die Zivildienstzeit auszuweiten und damit die Gewissensentscheidung faktisch zu bestrafen.

Erst 1983 wurde das mündliche Anerkennungsverfahren durch ein schriftliches Antragsverfahren ersetzt. Die mündliche Gewissensprüfung vor den Ausschüssen galt weiterhin für verweigernde Soldaten. Übersehen wird in dieser Debatte um das sog. „Postkartenverfahren“, dass es dieses so gar nicht gegeben hat. Die zuständigen Ämter waren und sind bis heute berechtigt, Überprüfungen des Antrags durchzuführen, Zweifel anzumelden, nicht anzuerkennen und die Betroffenen ggf. bis vor das Verwaltungsgericht zu zwingen. Dieses unwürdige – mit echter Gewissensfreiheit nicht zu vereinbarende - Verfahren gilt auch aktuell weiterhin für verweigernde Soldaten. Im Falle der Wiedereinführung der Wehrpflicht würde es wieder für alle KDV-Antragsteller*innen gelten. Die Gewissensprüfung ist längst noch nicht abgeschafft!

Interessant ist in diesem Kontext die „Abweichende Meinung“ des Verfassungsrichters Martin Hirsch zu demselben Urteil, der – gegen die Mehrheitsmeinung der Richter - klarstellte, dass die allgemeine Wehrpflicht „kein Verfassungsgebot, sondern ‚nur‘ ein einfach-rechtliches Gebot ist“. Und weiter: „… es bleibt zu beachten, dass Art. 4 Abs. 3 GG Gewissensfreiheit bedeutet, die sich aus dem Grundrecht der Religionsfreiheit entwickelt hat und zum ‚Menschenrecht‘ geworden ist“. Hirsch sagt ganz eindeutig und kommt der Verfassungsvorgabe wohl näher als die anderen die Mehrheitsentscheidung tragenden Richter: „Diese Freiheit des Gewissens ist weder disponibel noch einem staatlichen Definitionsvorbehalt unterworfen. …  Ebenso (wie im Falle der Freiheit der Religionsausübung; d. Verf.) liegt im Falle des Art. 4 Abs. 3 GG die ‚Definitionsmacht‘ beim Kriegsdienstverweigerer und nicht bei einer Instanz außerhalb des Einzelgewissens, die bestimmen könnte, was eine ‚absolute‘ oder ‚relative‘ Entscheidung ist.“ Hirsch betonte weiterhin, dass im Konfliktfall zwischen Verteidigungsfähigkeit des Staates und der Gewissensfreiheit das Gewissen Vorrang habe. Er besteht gegen die herrschende Auffassung auch darauf, dass es für die Verweigerung keiner radikalpazifistischen Haltung bedarf, sondern auch eine situationsbezogene ethische Argumentation eine Gewissensentscheidung bedeuten kann, was von den Prüfungsausschüssen und -kammern regelmäßig abgelehnt wurde.

Kriegsdienstverweigerung ist Menschenrecht
Hirsch hatte bereits 1978 betont, dass er das KDV-Recht verfassungsrechtlich für ein Menschenrecht halte. Diese Position war immer wieder umstritten. Jedoch kommt die herrschende Meinung im internationalen Rechtsverständnis immer offensichtlicher zu der Mehrheitsposition, dass KDV als Menschenrecht zu gelten habe. Da „Recht“ immer umstritten ist und ständig weiterentwickelt wird, ist auch in dieser Frage der Kampf um das Recht nötig!

Sehr hilfreich für die Argumentation ist eine Ausarbeitung der Wissenschaftlichen Dienste des Bundestages von 2015 zu diesem Thema. Hier wird bei der Identifizierung des KDV-Rechtes als Menschenrecht vor allem auf den „Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte“ der UN (Staatenrechtliche Umsetzung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte; neben dem „Sozialpakt“) Bezug genommen, der das „Recht auf Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit“ ausdrücklich anerkennt – ebenso wie die Europäische Erklärung der Menschenrechte (EMRK).

Der Wiss. Dienst stellte zusammenfassend fest: „Betrachtet man jedoch die Entwicklung der letzten zwei Dekaden, so lässt sich sowohl auf europäischer als auch auf globaler Ebene eine zunehmende Anerkennung dieses Rechts beobachten. Geprägt ist diese Entwicklung durch entsprechende Resolutionen internationaler Organisationen, aber vor allem auch durch Entscheidungen des VN-Menschenrechtsausschusses, (der für die Einhaltung und Überwachung des Internationalen Pakts für Bürgerliche und Politische Rechte (IPbpR) verantwortlich ist) sowie durch Urteile des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) zur EMRK. …

Die internationale Spruchpraxis ist im Begriff, ein Recht auf Wehrdienstverweigerung durch eine entsprechend weite Interpretation des Grundrechts auf Gewissensfreiheit (sog. ‚conscientious objection‘) zu etablieren. Das Grundrecht auf Gewissensfreiheit ist in Art. 18 IPbpR sowie in Art. 9 der EMRK verankert. … Von den meisten Staaten und den menschenrechtlich maßgeblichen internationalen Organisationen ist ein Recht auf Kriegsdienstverweigerung aus Gewissensgründen mittlerweile als Menschenrecht anerkannt.“

Eine ausführlichere Zusammenfassung der zitierten Dokumente – Bundesverfassungsgerichtsentscheidung von 1978 und Ausarbeitung der Wiss. Dienste des Bundestages zu KDV als Menschenrecht - können beim Autor angefordert werden (martin [dot] singe [at] t-online [dot] de).

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Martin Singe ist Redakteur des FriedensForums und aktiv im Sprecher*innenteam der Kampagne "Büchel ist überall! atomwaffenfrei.jetzt".