Ostasien

Kriegsgefahren im Fernen Osten

von Karl Grobe

Satzungsgemäß müssen Parteitage alle sechs Jahre abgehalten werden. In Nordkorea sind seit dem vorigen Kongress dieser Art aber 36 Jahre vergangen. Als er zusammentrat, war der gegenwärtige starke Mann des Regimes, Kim Jong Un, noch nicht geboren; sein Großvater Kim Il Sung, Staatsgründer und Urheber der Partei-Dynastie, überlebte den 6. Parteitag sogar noch um 14 Jahre. Parteikonferenzen hat es einige Male gegeben, sie segneten einige Veränderungen der Tagespolitik ab, doch von einem Parteitag musste man auch wegen der lautstarken Vorbereitung eigentlich mehr erwarten.

Es ist denn auch mehr beschlossen worden, als mit bloßem Auge zu sehen ist. Der Wechsel der aktuellen Zweisilben-Slogans deutet es an: von Opas Juche (Aus eigener Kraft) über Vater Kim Jong Ils Songun (Das Militär zuerst) zu Kim Jong Uns Byungjin (ungefähr: hinreichende Atommacht, um wirtschaftliche Unabhängigkeit und Fortentwicklung zu sichern) zeigt die veränderte Qualität.

Knappe Wirtschaftsreformen, die meilenweit hinter denen Chinas zurückbleiben, haben immerhin eine wohlhabendere Schicht mit Karrierechancen außerhalb von Partei und Armee geschaffen, die eine spezialisierte südkoreanische Publikation schon als „Generation Jangmadang“ bezeichnet; Jangmadang bedeutet Markt in einem sehr weiten Sinne inklusive Korruption. Die Interessen dieser auch in der Hierarchie verwurzelten neuen Schicht widersprechen zum Teil denen der Militärhierarchie. Die Parteibürokratie Schiedsrichter bleiben zu lassen – oder sie dazu zu machen – war eine Aufgabe des Parteitags.

Dass Kim Jong Un unüberhörbar den Anspruch seines Landes auf Anerkennung als Nuklearmacht wiederholte, ist den meisten ausländischen BeobachterInnen und KommentatorInnen anscheinend weniger interessant vorgekommen als die Passform des europäischen Maßanzugs (plus Krawatte) des Parteichefs. Selbst die angesehenste Zeitung des Nachbarlands Japan, Asahi Shimbun, begnügte sich mit einem Vier-Zeilen-Zitat aus der Parteitagsresolution. Nordkoreas regierende Gruppe besteht  darauf, die A-Waffe nur zur Verteidigung (zur Vergeltung gegen Angriffe mit vergleichbaren Massenvernichtungsmitteln) einsetzen zu wollen, und meint das wahrscheinlich auch ehrlich.

Japan – eine „normale Nation“
Hatte man aber bisher eher über Pannen bei Atomtests und Raketenstarts gespottet, so wird in kurzer Zeit die Tokioter Regierung rüstungspolitisch aktiv werden – und die in Seoul wohl auch bald. Das Streben des japanischen Premierministers Shinzo Abe nach einer gründlichen Verfassungsreform hat ebenso ein stützendes Argument erhalten wie das (verdeckte) Bemühen südkoreanischer interessierter Kreise nach Wiederaufnahme der ‚natürlich rein zivilen‘ nuklearen Grundlagenforschung. Wankt aber in Tokio die Verteidigung des Verfassungsartikels 9, der dem Krieg abschwört und lediglich „Selbstverteidigungskräfte“ erlaubt, so kommen auch unkeusche Gedanken bezüglich der nuklearen Müllhalden im Lande auf – Plutonium für hundert Bomben ist ja vorhanden, es muss nur extrahiert werden.

Japans Revisionisten (die mit dem Artikel 9 auch die Nachkriegsgeschichte zu revidieren wünschen) argumentieren vorderhand nur mit der vorgeblichen Notwendigkeit, Japan dadurch zu einer „normalen Nation“ zu machen, dass man ihm die Rüstungsbeschränkungen erlässt: Nur ein Staat, der hoch gerüstet ist, ist in dieser Sicht ein normaler Staat. Da die US-Regierung auch unter Friedensnobelpreisträger Barack Obama Japan heftig ermuntert, eine aktivere außenpolitische Rolle zu spielen, dadurch Washingtons „Pivot to Asia“ zu untermauern und den Aufstieg Chinas abbremsen zu helfen, wird kaum ein Veto vom Potomac ertönen. Obamas Visite in Hiroshima – die erste eines US-Präsidenten am Explosionsort der ersten US-Atombombe – ist keineswegs eine mahnende Friedensgeste. Es gibt ja noch den Sicherheitsvertrag zwischen Tokio und Washington. Shinzo Abe, der Erz-Revivionist, ließ den Gast aus den USA nicht aus den Augen.

Viel Streit um kleine Inseln
Japan hat territoriale Ansprüche an drei Nachbarstaaten, die eine partnerschaftliche Zusammenarbeit mindestens erschweren. Mit Russland streitet Japan seit Kriegsende um vier kleinere Inseln am Ende der Kurilen-Kette, die ökonomisch uninteressant sind, aber von denen aus der Zugang zum Fernost-Hafen Wladiwostok arg behindert werden kann. Mit Südkorea besteht eine heftige Kontroverse um die Liancourt-Klippen, die in japanischer Lesart Takeshima und in koreanischer Dokdo heißen, mitten im Japanischen Meer bzw. auf Koreanisch: der Ostsee. Der Inselstreit mit China ist der heftigste. Ob die Inselgruppe Diaoyutai oder Senkaku heißt, ist Nebensache; der Ankauf dreier dieser Eilande durch Japan bleibt eine windige Sache, solange ungeklärt ist, wie der verkaufende japanische Geschäftsmann in deren Besitz gekommen war; Chinas Ansprüche aus Rechtsverhältnissen im 14. oder 17. Jahrhundert haben historischen Rang, aber kaum aktuelle Relevanz. In den Gewässern um diese Inseln geraten aber immer wieder japanische und chinesische Schiffe aneinander, die nicht gerade lupenreine  Fischereifahrzeuge sind. Und China hat kurzerhand seinen Luftraum auf die Region ausgedehnt, was weder japanische Freiwillige (=Abenteurer) noch Selbstverteidigungs-Abfangjäger von Erkundungsmissionen abhält.

Kurilen, Dokdo, Senkaku – drei kleinere Symptome, welche eine politische Diagnose kennzeichnen: Unter den größeren und kleineren Staaten Ostasiens ist keiner auch nur mit einem seiner Nachbarn befreundet. Unbewältigte Erfahrungen aus dem Zweiten Weltkrieg, revolutionäre Bürgerkriege, unterschiedliche Wege der Entkolonisierung, Block-Konfrontationen (in Korea und zwischen China und Taiwan), in Fall Japan das ambivalente Verhältnis zu den Kriegs-Verantwortlichen (verurteilte Kriegsverbrecher werden gleichwohl in dem wichtigen Yasukuni-Schrein verehrt), wirtschaftliche Abhängigkeiten und zuletzt die wachsende Konkurrenz zwischen Japan, den „Tiger-Staaten“ und China – alles sind Elemente, die in verschiedenen Kombinationen Spannungen zwischen Staaten erzeugen.

Hegemonialmacht China
China ist auf dem Sprung zur wirtschaftlichen, politischen und auch militärischen Hegemonialmacht in der Region. Erstmals seit der Ming-Dynastie, als die gigantischen Flotten des muslimischen Admirals und Eunuchen Zheng He (1371-1435) den Indischen Ozean und die chinesischen Randmeere von dem heutigen Shanghai über Ceylon (Sri Lanka) und Aden bis Mombasa und Hormuz beherrschten, baut es wieder eine maritime Position auf. Häfen oder Hafenrechte in Pakistan, Sri Lanka und Myanmar sind nicht nur kommerziell bedeutend; Seewege werden auch durch Marine gesichert. Der Seemacht der USA kommt China noch nicht nahe, aber es konzentriert seine Anstrengungen auf das Südchinesische Meer. Das ist das Randbecken des Pazifik zwischen den Philippinen und Vietnam, von Hongkong und Taiwan bis an die indonesisch-malaysische Insel Borneo.

Durch dieses Seegebiet werden alle Rohstoffe transportiert, die Japan, Korea, China, Vietnam und Hongkong benötigen, und durch dieses Meer werden schlechthin alle ihre Exporte verschifft. Alternativen hat nur China: die Landroute quer durch Asien, die der klassischen Seidenstraße folgt, und deren südliche Abzweigungen nach Myanmar und nach Pakistan. Wenn China also die Routen durch die Südchinasee beherrscht, kann es den Warentransport extrem behindern – es geht um 40% des Welthandels, eine Größenordnung wie die des transatlantischen und innereuropäischen Warenverkehrs.

Es war nahezu unvermeidlich, dass die Pekinger Führer feste Positionen in der Region aufzubauen begannen. Dabei steht eine Gruppe von 600 Inseln, Sandbänken und Korallenriffen im Brennpunkt, die sich über fast tausend Kilometer von Westsüdwest nach Ostnordost dehnt: die Spratly-Inseln, chinesisch Nansha Qundao, vietnamesisch  Quần đảo Trường Sa und malaiisch  Kepulauan Spratly genannt. Nach einer Aufstellung des in Tokio erscheinenden angesehenen Internet-Magazins The Diplomat kontrolliert Vietnam derzeit 21 Inseln, Riffe und Sandbänke, die Philippinen deren zehn, Taiwan eine, China sieben, Malaysia acht und Brunei eine. Vietnam und China beherrschen jedoch die wichtigsten und größten, die den Seeweg weitgehend überwachen lassen. Beide haben feste Posten eingerichtet, beide haben 1988 miteinander um eine strategisch wichtige Position gekämpft – und China hat militärtaugliche Flugplätze und eine weit außerhalb des Festlands liegende zivile Administration erbaut. Welche Kriegsgefahren sich dort aufbauen können, liegt auf der Hand; erst recht dann, wenn auch Japan sich „zu interessieren“ beginnt und wenn die USA den Satz in Taten umsetzen, mit dem die damalige Außenministerin Hillary Clinton vor vier Jahren die ASEAN-Staaten überraschte: Die Südchinasee sei eine Zone strategischen Interesses der USA. In Obamas „Pivot to Asia“ – der Wendung nach Asien – ist angelegt, dass solche strategischen Interessen militärische Komponenten haben. In Chinas maritimer Expansion steckt dieses Element ebenfalls. Chinas Interesse ist darüber hinaus gegenwärtig berechenbar; es sind die einer expansiven, dynamischen Weltmacht, die eher durch ihr schieres Gewicht als durch kriegerische Aktionen ihre Ziele zu erreichen sucht. Aber um Vietnam (offiziell: wegen regionalpolitischer Übergriffe in Kambodscha) zu bestrafen, hat die chinesische Armee auch schon angegriffen.

Da beruhigt es ein wenig, wenn aus Peking verlautet, man werde nicht jede Eskapade des nordkoreanischen Diktators unterstützen, schon gar nicht mit der Waffe. Es beruhigt, weil im Seegebiet westlich der koreanischen Halbinsel sich bei den alljährlichen amerikanisch-südkoreanischen Manövern eine gefährliche Sicherheitslücke auftut. Dort hat nach dem Koreakrieg die US-Besatzungsmacht eine Linie definiert, über die südkoreanische Schiffe nicht vordringen durften, die nördliche Begrenzungslinie (NLL). Seit aber beide koreanischen Staaten die Regelungen des internationalen Seerechts übernommen und unterschieben haben, verläuft die international gültige Grenze ganz woanders. Bei Seemanövern der dort üblichen Größenordnung wird das gelegentlich übersehen. Eine Über-Reaktion der neuen Atommacht Nordkorea, auch eine konventionelle, kann einen sehr großen Krieg zünden.

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Krisen und Kriege
Journalist und Historiker, war Außenpolitik-Redakteur der Frankfurter Rundschau.