Buchbesprechung

"Mein Weg zwischen Gewalt und Gewaltfreiheit"

von Michael Schmidt

"Wo Recht zu Unrecht wird, wird Widerstand zur Pflicht!" Dieser Plakattext aus den Tagen des Widerstandes um den Bau des Atomkraftwerkes in Wyhl könnte auch als Überschrift über das Leben eines gewaltfreien Aktivisten stehen, dessen Autobiographie gerade erschienen ist. Dennoch würde dieses Motto zu kurz greifen, um das Leben von Wolfgang Sternstein in seiner gesamten Bandbreite zu charakterisieren. "Mein Weg zwischen Gewalt und Gewaltfreiheit" - dieser Titel spiegelt treffend diesen ungewöhnlichen Lebensweg wieder. Herausgekommen ist ein sehr persönliches, selbstkritisches, offenherziges Buch. Sehr gelungen finde ich dabei die Verknüpfung von persönlichen Lebensereignissen mit Berichten über die Teilnahme von direkten gewaltfreien Aktionen bis hin zur theoretischen Reflexion verschiedener Problematiken.

Wolfgang Sternstein, 1939 in Braunschweig geboren, lernte brutale Gewalt früh kennen, vor allem durch seinen Vater, der mit Leib und Seele Nazi war. Er wollte seine Söhne zu "arischen Herrenmenschen" erziehen, die hart im Nehmen und noch härter im Geben sein sollten. So gab es schon in früher Kindheit viel Gewalt zu spüren und zu erleben. Am eigenen Körper, aber auch wenn der Vater in Anfällen von Jähzorn die Mutter unbarmherzig schlug. Diese "Hölle", wie Wolfgang Sternstein das Leben der Familie charakterisiert, bis es schließlich zur Scheidung der Eltern kam, hat er durchlebt, aber ist nicht völlig daran zerbrochen. Es scheint so, dass ihn diese früh erlittene Gewalt tief geprägt und sensibel gemacht hat gegenüber vielfältigen Formen von Gewalt und Unrecht.

Kriegsdienstverweigerung und Suche nach konstruktiven Alternativen
Weil er anderen nicht antun wollte, was ihm selber angetan worden war, verweigerte er den Kriegsdienst. Zu Beginn der 60er Jahre gewiss eine ziemlich mutige Entscheidung, galten Kriegsdienstverweigerer damals noch allemal als Drückeberger und Feiglinge, waren auch völlig in der Minderheit. Zudem wurden den kriegsdienstverweigernden jungen Männern damals beträchtliche Schwierigkeiten gemacht - vor allem durch die jahrzehntelang berühmt-berüchtigten Gremien zur Gewissensprüfung - bevor sie als Kriegsdienstverweigerer anerkannt oder doch abgelehnt wurden. Und so war dieser Schritt zur Kriegsdienstverweigerung für den heranwachsenden Wolfgang ein wichtiger Schritt zur Selbstfindung. Er lernte zu dem zu stehen, wofür er sich entschieden hatte.

Noch etwas anderes brachte die Kriegsdienstverweigerung für Wolfgang Sternstein: die Auseinandersetzung mit der Frage nach einer konstruktiven Alternative zur militärischen Verteidigung. Er widmete sich fortan der Forschung über gewaltfreie Aktion und Soziale Verteidigung. Seine Doktorarbeit, die ihn jahrelang stark beanspruchte, schrieb er allerdings zu einem Thema aus der Marxismus-Forschung.

Ergebnisse dieser Forschungsarbeiten finden sich in diesem Buch in zusammenfassender Form, zum Beispiel in zwei Kapiteln über das Konzept der Sozialen Verteidigung und in vier Kapiteln über Gandhi. Gerade Gandhi nennt Wolfgang Sternstein als den bedeutendsten unter seinen "Ersatzvätern". Kein Wunder, dass dessen Experimente mit der Wahrheit sowohl in seinem eigenen Leben und entsprechend in seiner Autobiografie eine herausragende Rolle spielen. Deshalb hat es im Übrigen durchaus seine Berechtigung, wenn Filme, die über Wolfgang Sternstein dann später fürs Fernsehen gedreht wurden, mit den Titeln "Gandhis Enkel" (SDR 1991) und "Auf den Spuren Gandhis" (SWR 2004) versehen wurden.

Persönlicher Wendepunkt: "Wyhl"
Doch bevor es soweit war, musste sich erst noch Verschiedenes ereignen. Mitte der 70er Jahre sollte im badischen Wyhl ein Atomkraftwerk gebaut werden. Ohne dessen Bau, so der damalige baden-württembergische Ministerpräsident Filbinger, hätten in den 80er Jahren die Lichter ausgehen sollen. Aufgrund eines breitgefächerten gewaltfreien Kampfes wurde das AKW in Wyhl nicht gebaut - die Lichter gingen trotzdem nicht aus. Wolfgang Sternstein sieht diese Auseinandersetzungen "um Wyhl" als persönlichen Wendepunkt an. Von nun an wurden ihm die Bürgerinitiativen, wurde ihm die gewaltfreie Aktion immer wichtiger. Spätestens ab diesem Zeitpunkt lebt er in einer "Zwitterexistenz als Friedensforscher und Friedensarbeiter, als Wissenschaftler und "Basispolitiker`", wie er es selber nennt.

Stichwortartig einige Stationen seines Engagements: Bürgerinitiativen, Alternativbewegung, Aktionen an verschiedenen Brennpunkten der Anti-AKW-Bewegung und der Friedensbewegung: Brokdorf, Großengstingen, EUCOM, Mutlangen, Pflugschar-Aktionen, Gefängnisaufenthalte. Die Aktionen des Zivilen Ungehorsams brachten Wolfgang Sternstein zwangsläufig und gewollt mit dem Gesetz in Konflikt, unter anderem mit dem Ergebnis von acht Gefängnisaufenthalten (zum neunten ist er bereits verurteilt worden).

Die Autobiografie macht deutlich, wie Wolfgang Sternstein versucht, seinen eigenen Einsichten gerecht zu werden. Dazu gehört der Verzicht auf das sonst für einen Akademiker übliche Einkommen und eine angemessene Karriere. Dass mit Friedensaktivitäten kein oder nur wenig Geld zu verdienen ist, ist leider eine altbekannte Tatsache in unserer Republik. Deshalb, daran lässt Wolfgang Sternstein keinen Zweifel, gelingt das eigene Engagement nur in dieser Form, weil auch die Familie mitmacht. Insbesondere Gisela Sternstein, die als Kunstmalerin teilweise ganz für das Familieneinkommen gesorgt hat, zieht mit ihrem Mann an einem Strang.

Wer in einer derartigen Weise versucht, in seinem Leben von dem abzuweichen, was als "normal" gilt, findet sich gewiss oft in einer Minderheitenposition wieder. Der Autor klagt darüber wenig. Offensichtlich gilt für ihn das Motto: Wenn du dich konsequent gewaltfrei betätigen willst, weil du nicht anders kannst und weil das deiner analytischen Überzeugung entspricht, dann musst du dich damit anfreunden, dass dein Platz am Rande dieser Gesellschaft ist. Das ist der Normalzustand. Wolfgang Sternstein scheint sich ganz gut mit diesem randständigen Platz angefreundet zu haben, wenngleich es sicherlich nicht seinem Lebensziel entspricht, Minderheit sein zu wollen.

Erfolgreiche soziale Bewegungen und dennoch gescheitert?
Am Ende seines Buches zieht Wolfgang Sternstein Bilanz. Er kommt zu einem zwiespältigen Ergebnis.

Die sozialen Bewegungen der vergangenen Jahrzehnte hätten im Vergleich zu früheren Emanzipationsbewegungen - abgesehen von der Ausnahme der Arbeiterbewegung - erstaunlich viel erreicht. Die Anti-AKW-Bewegung habe den Bau des Atomkraftwerks Wyhl und den Betrieb des Atomkraftwerks Mülheim-Kärlich verhindert. Sie habe zumindest dazu beigetragen, dass der Schnelle Brüter bei Kalkar nicht ans Netz gegangen und das gigantische Projekt einer Wiederaufbereitungsanlage weder in Gorleben noch in Wackersdorf verwirklicht worden sei. Ohne die gewaltlose Friedensbewegung in den 80er Jahren wäre der INF-Vertrag zur Verschrottung der atomaren Mittelstreckenraketen wohl kaum zustande gekommen. Und ohne das mutige Eintreten der Bürgerrechtler in der DDR hätte das dortige Regime seine morbide Existenz vermutlich noch jahrelang aufrechterhalten.

Es wäre zu wünschen, dass zumindest die jeweils in den sozialen Bewegungen Beteiligten sich selber ihrer durch sie errungenen Erfolge bewusst würden. Dazu kann diese Autobiografie einen guten Beitrag leisten.

Ganz nüchtern und ohne Illusionen stellt Wolfgang Sternstein aber weiter fest, er sei insofern gescheitert, weil er keinen Weg zu dem Ziel sehe, dem er seine Lebensarbeit gewidmet habe: der radikalen Umkehr weg von der zivilen und militärischen Nutzung der Atomkraft.

Anstatt mit Gandhis Konzepten die Welt in einen Himmel auf Erden, einen Garten Eden oder ein Paradies zu verwandeln, wie der Autor schreibt, hätten wir die Hölle daraus gemacht. Das Potential an struktureller, personaler und sublimer Gewalt sei in den vergangenen Jahrhunderten so sehr angewachsen, dass das Ende nahe sei. Wir würden bereits in der Endzeit leben. Zwar sei - theoretisch - eine Umkehr noch möglich, praktisch aber eher ausgeschlossen, weil das Kräfteverhältnis zwischen denen, die den atomaren Holocaust herbeiführen, und denen, die dagegen ankämpften, sich in der Größenordnung von einer Million zu eins bewegen würde. Und weil jene Kraft, welche die Welt dem Ende entgegentreibe, unsere Gier nach Macht, Geld, Reichtum und Privilegien sowie unsere Furcht vor Ohnmacht, Mangel, Armut und Erniedrigung sei.

Alles Schwarzmalerei oder unseriöse Prophezeiungen? Ich denke: nein. Es handelt sich um aus analytischer Arbeit gewonnene Überzeugungen. Es fehlt uns nur oft der Mut, solchen und vielen weiteren höchst unbequemen Tatsachen ins Auge zu blicken. Wir alle beherrschen wohl gut die Kunst der Verdrängung, des Vergessens und Verleugnens solcher Tatsachen, die das Ende der Menschheit nahe gebracht haben.

Anstrengung um Frieden trägt Sinn und Lohn in sich selber
Warum aber engagiert sich dann einer weiter angesichts dieses illusionslosen Fazits? Wolfgang Sternstein hat eine tröstliche Antwort für sich selber und all jene Menschen bereit, die von einem absehbaren Ende her alle unsere Bemühungen um Demokratie, Menschenrechte, Frieden und Schöpfungserhalt nicht als vergeblich ansehen (wollen). Für ihn "trägt jede Anstrengung auf diesen Gebieten ihren Sinn und ihren Lohn in sich selbst, unabhängig von Erfolg oder Scheitern." Sein Glaubensbekenntnis lautet: "Nichts, was Gutes in der Welt geschieht, ist verloren, aber alles, was Böses in ihr geschieht, ist verloren. Mag das Böse auch täglich triumphieren, so handelt es sich doch um lauter Pyrrhussiege da es unter dem Blickwinkel der Ewigkeit betrachtet nicht existiert."

Wer das Geschehen von drei Jahrzehnten gewaltfreier Widerstandsgeschichte in der Bundesrepublik kennen lernen oder sich daran erinnern möchte - die Autobiografie von Wolfgang Sternstein bietet eine wahre Fundgrube. Gerade das Persönliche ist es, was so wichtig und herausfordernd ist, weil dadurch Einblicke in die Hoffnungen und Wünsche, in die Enttäuschungen und Konflikte eines Menschen möglich werden, der sich im Laufe seines Lebens immer mehr zu einem gewaltfreien Aktivisten gewandelt hat. Für mich war die Lektüre höchst interessant, spannend, aufschlussreich, herausfordernd und ermutigend. Ich wünsche dem Buch viele Leserinnen und Leser. Vielleicht bewirkt es bei der einen oder dem anderen, sich ein wenig von diesem geschilderten Lebensweg anstecken zu lassen. Wir alle brauchen solche Vorbilder!

Wie schreibt Horst-Eberhard Richter in seinem Vorwort: "Dieses Buch ist ein großartiges Dokument, wie ein eher stiller, introvertierter Mensch einfach aus seinem Glauben an die Menschlichkeit und an die Verantwortlichkeit Einzelner für das Ganze zu einem Vorbild für viele werden könnte, die in einer Zeit der Duckmäusigkeit und des Verdrängens wieder das Standhafte lernen könnten und sollten."

Wolfgang Sternstein: Mein Weg zwischen Gewalt und Gewaltfreiheit. Autobiografie. Vorwort: Horst-Eberhard Richter. - Norderstedt: Books of Demand 2005. ISBN 3-8334-2226-2. 488 Seiten, 50 Fotos. 28,-

Das Buch kann über den Buchhandel oder bei Wolfgang Sternstein bestellt werden (Bestelladresse: W. Sternstein, Hauptmannsreute 45, 70192 Stuttgart, Tel.: 0711-120 46 55, Fax: 0711-120 46 57, E-Mail: sternstein [at] uwi-ev [dot] de - 28 + Versandkosten).

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