Und wenn das Schlimmste nicht gewiss ist

Nachdenken über die Globalisierung

von Jacques Daniere
Schwerpunkt
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Die Globalisierung ist Gegenstand zahlreicher aktueller Debatten. Muss sie zwangsweise zum sozialen und menschlichen Rückschritt führen, wie man oftmals hört oder kann sie auch positive Entwicklungen mit sich bringen? Jacques Daniére sieht in der Globalisierung eine "großartige Chance für die wirtschaftlichen und sozialen Akteure, ein solidarischeres Gesellschaftsmodell zu fördern und zu stärken, sofern sie bereit sind, Anpassungen vorzunehmen".

Der Begriff der "Globalisierung" hat sich in die politische Diskussionen mit unterschiedlichen Bedeutungen eingeführt. Es ist immer noch möglich, einen radikalen Wandel, der das ökonomische wie auch das politische und soziale Handeln verändert, mitzudenken.

In den letzten vierzig Jahren hat sich der Welthandel mit 14 multipliziert, aber die Produktion nur mit 5,5. Aber das weltweite Wirtschaften blieb im wesentlichen Sache der entwickelten Länder: Nordamerika, Europa, Japan sichern sich allein 3/4 des Handels sowie beim Import wie beim Export. Zudem bleibt dieser Austausch auf das Innere derselben geographischen Zone beschränkt. Diese Regionalisierung ist ein wesentlicher Bestandteil der Globalisierung. So bestehen im Falle Europas 80% des Handels der Mitgliedsstaaten aus Austausch innerhalb der Gemeinschaft.

Seit einem Dutzend Jahren haben die direkten Investitionen von multinationalen Firmen im Ausland eine wahrhafte Explosion erlebt. Dies betrifft zunächst die entwickelten Länder und hier sind wiederun die regionale Warenflüsse dominant. Dennoch sind das Wachstum und die Macht der multinationalen Konzerne, auch wenn sie unbestreitbar sind, quantitativ nur ein relativ marginales - wenn auch spektakuläres - Phänomen.

Nach Japan in den 50er und 60er Jahren, nach der ersten Generation der neuen industrialisierten Länder in den 70er bis 90er Jahren sind jetzt neue aufeinanderfolgende Wellen von sich industrialisierenden Ländern auszumachen. Den "kleinen Drachen" schließt sich China an. Diese Länder haben eine Entwicklungsstrategie gewählt, die auf internationaler Öffnung beruht. Ihre Produktion und ihr Export wachsen extrem schnell. Die industrielle und produktive Geographie der Welt befindet sich in Umwälzung und der Vorteil, der auf der alten Arbeitsteilung beruhte, der vor allem der Industrie des Nordens den Vorteil sicherte, ist dabei zu verschwinden.

Von der Autarkie zur Internationalisierung
In weniger als zwei Jahrzehnten hat die Welt sich von finanzieller Autarkie zu einer grenzenlosen Internationalisierung entwickelt. Die finanziellen Transaktionen erreichen täglich neue schwindelerregende Höhen. Rund 500 amerikanische und europäische Manager der Versicherungsgesellschaften und Rentenfonds verfügen über rund 800 Milliarden US-Dollar, die sie jederzeit von einem Land zum anderen verschieben können, um Devisenvorteile zu erzielen. Die Tendenzen der "Globalisierung" zeichnen eine neue internationale Ökonomie, die unzweifelhaft anders ist als die der ersten drei Jahrzehnte nach dem zweiten Weltkrieg. Die neue Konfiguration verpflichtet dazu, neu nachzudenken und die Einsätze an diesem Jahrhundertende neu zu definieren.

Wenn Globalisierung als solche auch kein neues Phänomen ist, so ist die "neue" Globalisierung eine Kombination von mehrereren Faktoren, die den individuellen Eindruck verstärken, man sei in eine neue -ra eingetreten, in der nichts mehr wie früher sein würde. Die alte bipolare Ordnung wurde durch die globale atomare Drohung "stabilisiert". Das Ungleichgewicht von heute hat dazu beigetragen, die Hemmungen des kalten Krieges aufzuheben. Die aktuellen Konflikte werden toleriert und vernachlässigt, weil sich ihre Natur verändert hat. Konflikte um Macht und Souveränität sind dabei, auszusterben. Man kommt zu den Konflikten, die mit der Schwäche von Staaten zu tun haben. Zonen von Nicht-Recht lassen Krieg, Terror, Drogenhandel und das Entstehen von informellen Sektoren in den Metropolen der Dritten Welt wachsen. Es entstehen Zonen des Bruches, die sich dort entwickeln, wo "Entwicklung" ihre Trümmer hinterlassen hat. Dies ist der Fall im Mittelmeerraum.

Die Globalisierung de Kommunikationstechniken ist ungefähr ein Jahrhundert alt. Lange Zeit war sie auf die Eliten beschränkt, jetzt dehnt sie sich durch die globalen Ton- und Bildmedien auf die Massen aus. Die heutigen Mittel der Telekommunikation profitieren von den Kostensenkungen, und die Vervielfältigung der Übermittlungstechniken bieten neue Möglichkeiten der Verbreitung. Gleichzeitig muss man ein Sich-Herausziehen des Staates aus dem Feld der Kommunikation feststellen. Diese Entwicklung gibt Nahrung der Angst vor der kulturellen Homogenisierung, für die Coca Cola, Microsoft, CNN und Walt Disney stehen. Man kann nicht leugnen, dass das Risiko besteht, dass sich ein bestimmtes geokulturelles Modell als universelles Referenzmodell aufzwingt.

In Frankreich wächst die Sorge um die Arbeit. Einige politische und ideologische Strömungen machen die Globalisierung für die De-Regulierung, die Unsicherheit, die Arbeitslosigkeit und die Armut verantwortlich. Man konnte den Streik von November-Dezember 1995 als den ersten Streik gegen die Globalisierung beschreiben. Aber man braucht einen Ansatz, der sich nicht auf eine rein ökonomische Dimension oder eine rein hexagonale Debatte beschränkt. Die Entwurzelungen und Importe aus Niedriglohnländern seien die Ursache für die massive Zerstörung von Arbeitsplätzen... Tatsächlich erkläre der Aussenhandel weitgehend die Arbeitslosigkeit. Ebenso sei das Anwachsen von Ungleichheit in den entwickelten Ländern allein auf den Druck von Niedriglohnländern auf den wenig qualifizierten Arbeitsmarkt zurückzuführen.

Es gibt Lösungen, sofern unsere Gesellschaften diese wollen. Denn die Industrialisierung der Länder des Südens schafft Rückwirkungen, die, ohne dass man sie vernachlässigen dürfte, auf finanzieller Ebene im Norden beherrschbar sind. Der Verlust der Autonomie der Wirtschaftspolitik ist nicht so augenfällig wie oft behauptet wird und die Finanzmärkte könnten sich anpassungsfähiger an Bedingungen zeigen, sofern die Wirtschaftspolitik kohärent und glaubhaft ist.

Zu einem soldiarischen Gesellschaftsmodell?
Aus der Sicht von Gewaltfreien könnte die Globalisierung eine Chance darstellen, wenn es sich darum handelt, die Menschenrechte weltweit durchzusetzen, die Kinderarbeit zu bekämpfen und eine nachhaltige Entwicklungszusammenarbeit zu schaffen, in der bei den Schwächsten angefangen wird. Es ist die Schaffung einer solidarischeren und demokratischeren Welt, die ihre Bürger nicht ausgrenzt, die fundamentale Rechte und die Menschenwürde schützt und die gesamte internationale Gemeinschaft einschließt.

Die Realität, die beim Aufbau einer Weltwirtschaft entsteht, ist die einer gegensetiigen Abhängigkeit und nicht die eines homogenen Raumes, viel weniger eines weltweiten Marktes, auf dem die Gesetze der Konkurrenz herrschen. Die Tendenz geht viel eher zur Regionalisierung. Die Schaffung eines globalen Arbeitsmarktes wird noch lange der Science Fiction angehören. Es steht nirgendwo, dass es das am wenigsten soziale Modell sein muss, dass sich notwendigerweise mit der Globalisierung durchsetzen muss. Es sind ebenso die profunden soziokulturellen Veränderungen wie die Globalisierung, die den internen Zusammenhang unserer Gesellschaften gefährden. Im Gegenteil, es gibt eine großartige Chance für die wirtschaftlichen und sozialen Akteure, ein solidarischeres Gesellschaftsmodell zu fördern und zu stärken, sofern sie bereit sind, Anpassungen vorzunehmen.

Der Artikel wurde leicht gekürzt der Zeitschrift "Non-Violence Acutalité" vom April 1998 entnommen. Übersetzung: Red.

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Jacques Daniére ist Mitglied des Koordinierungskomitees von MAN (Mouvement pour une alternative Non-Violence) und radikaler Gewerkschafter.