Zwei sicherheitspolitische Konzepte

„Sicherheit neu denken“ und Soziale Verteidigung

von Renate Wanie
Schwerpunkt
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Ein neues sicherheitspolitisches Konzept liegt vor! Es basiert nicht auf dem Einsatz von Gewalt und Krieg, sondern auf Gewaltprävention und Kooperation: „Sicherheit neu denken“ (Snd) beschreibt eine zivile Außen- und Sicherheitspolitik ohne Militär. In der vierten Säule „Resiliente Demokratie“ ist der organisierte Zivile Widerstand ein Element. Dabei beziehen sich die Autoren zunächst auf Instrumente aus der Sozialen Verteidigung (SV), einem verteidigungspolitischen Konzept. (Snd: 87)  

Die Soziale Verteidigung geht auf Überlegungen aus der Zeit noch vor dem Zweiten Weltkrieg zurück. Seit den 50er Jahren wurde das Konzept weiterentwickelt. Im Folgenden vergleiche ich die Konzepte „Sicherheit neu denken“ (2018) und der „Sozialen Verteidigung“ (1987). Dabei interessiert auch die Frage, ob das Konzept Snd sich bei neurechten Bedrohungen mit dem Konzept der SV verbinden ließe?

Die beiden Szenarien Snd und SV
Kernstück des Konzeptes von Snd ist ein „Positivszenario“, das eine Alternative zur militärischen Aufrüstung aufzeigt. Es führt zu einem Sicherheitsverständnis, weg von der militärischen Sicherheit, hin zu einer entmilitarisierten Zivilen Konfliktbearbeitung. International unterstützt von UN-Polizeikräften, soll es den Aufbau einer gewaltfreien Konfliktkultur einleiten. Fünf Säulen stehen für diese Weichenstellungen: Gerechte Außenbeziehungen, nachhaltige Entwicklung der EU, Teilhabe an der internationalen Sicherheitsarchitektur, Resiliente Demokratie und Konversion von Bundeswehr und Rüstungsindustrie. (1)
Auf der Grundlage der Theorie gewaltfreier Konfliktaustragung ist die SV ein Konzept für Konfliktsituationen, „in denen bestehende gesellschaftliche Verhältnisse mit gewaltfreien Mitteln gegen Versuche illegaler Machtergreifung und demokratischen Abbaus von innen oder außen verteidigt werden sollen“ (2). Also eine Abkehr von der militärischen Verteidigung des Territoriums hin zu der Verteidigung gesellschaftlicher Strukturen. Anders als beim Konzept Snd geht es beim Konzept der SV darum, gesellschaftliche Verhältnisse im eigenen Land zu verteidigen. Es wird immer wieder Situationen geben, in denen sich eine Gesellschaft mit den Methoden gewaltfreien Widerstands als „demokratische Selbstbehauptung“ verteidigen muss – um eine bestimmte Lebensweise und demokratische und soziale Strukturen zu bewahren.

Sicherheit, ein zeithistorischer Vergleich
Das Konzept Snd basiert auf einem entmilitarisierten Sicherheitskonzept, das auf Gewaltprävention, Kooperation und stabile Beziehungen mit anderen Ländern setzt. Dem Konzept von Snd liegt ein Verständnis von Sicherheit zugrunde, weg von der militarisierten Sicherheit, hin zu einer „nachhaltigen zivilen Sicherheitspolitik“. (Snd: 15) Verteidigung spielt dabei eine untergeordnete Rolle, der Blickpunkt ist vielmehr auf eine „gemeinsame Sicherheit aller Beteiligten“ in den internationalen Beziehungen gerichtet, Deutschland ist mit anderen Staaten ein ziviler Akteur. Es ist die Regierungsebene, die als primärer Akteur in den Blick kommt.

Das friedenspolitische Konzept der SV fand seine weiteste Verbreitung in der Zeit des Kalten Krieges und der Atombewaffnung in den 70er und 80er Jahren. Im Deutschland der 80er Jahre wurde von einem Angriff des Warschauer Paktes ausgegangen. Die Regierung sollte radikal abrüsten und eine ökologische Politik einläuten. Die potenziellen Akteure der SV sollten neben der staatlichen Verwaltung, dem öffentlichen Dienst, eine in Trainings vorbereitete Bevölkerung sein. Die zivilen Widerstandsformen, für den Fall einer Besatzung, kommen aus dem Spektrum gewaltfreier Aktionen: z.B. die direkte Gehorsamsverweigerung der Angegriffenen gegenüber bewaffneten Besatzern, eine Politik der „dynamischen Weiterarbeit ohne Kollaboration“. Schon die Vorbereitung und Ankündigung des zivilen Widerstands sollen auf potenzielle Aggressoren eine abschreckende Wirkung zeigen.

Ziele und Inhalte
Im Konzept von Snd wird die militärgestützte Sicherheitspolitik kritisiert. Sie schaffe keine dauerhafte Sicherheit, sondern neue Unsicherheiten. Grundbestandteil militärischer Sicherheitslogik sei die Überzeugung, dass Gewalt „das Böse“ und damit die Bedrohungen beseitigen könne. Notwendig sei die Änderung des Sicherheitskonzeptes von der militärischen Sicherheitslogik hin zu einer zivilen Sicherheitslogik, vgl. den Ansatz der Friedensforscherin Hanne-Margret Birckenbach. (3) Vielfach erprobte Instrumente ziviler und gewaltfreier Krisenprävention lägen vor, auf die für die neue Sicherheitslogik zurückgegriffen werden könne. Anders als beim Konzept der SV, entwickelt Snd die Perspektive der Teilhabe an einer internationalen Sicherheitsstruktur, in der Deutschland weiterhin Mitglied in der EU, OSZE, einer reformierten UNO und, besonders umstritten, als ziviles Mitglied in der NATO bliebe. Zugleich soll der Lebens- und Wirtschaftsstil (des globalen Nordens) in seiner Konsequenz für Menschen in anderen Ländern einbezogen werden. Gefordert wird die „konsequente Umsetzung“ der auf UN-Ebene 2015 vereinbarten Ziele nachhaltiger Entwicklung (bis 2030), den Sustainable Development Goals (SDGs). (Snd: 13)

Machtpolitische Fragen
Wie könnte das Szenario von Snd dem Diskurs über Sicherheit und Frieden tatsächlich eine neue Richtung geben? Noch immer bestimmt der Mythos von der erlösenden Gewalt das Denken sowie ein „unangefochtenes Wachstumsdogma“. Im Positivszenario wird auf Fakten aus der Friedensforschung und dem Bericht der Bundesregierung über die Umsetzung des Aktionsplans „Zivile Krisenprävention, Konfliktlösung und Friedenskonsolidierung“ (2016) hingewiesen. Hier sehen die Snd-Autoren im schrittweisen Gewinnen „derjenigen, die heute noch das Vorhandensein einer Armee als eine für die Sicherheit notwendige Institution befürworten“, eine Chance. (Snd: 15)

Eine Einschätzung in den 80er Jahren war es, dass für die Durchsetzung des SV-Konzeptes nicht einzig die Zivilgesellschaft und die Bewegungen ausreichen. So wurde von dem Friedensforscher Theodor Ebert ein Amt für Abrüstung mit einer Abteilung für SV angedacht, das dem Verteidigungsministerium zugeordnet sein sollte. Die Bedenken: Eine Unterabteilung für SV könne nicht den Anspruch erfüllen, eine alternative Alternative zur militärischen Verteidigung darzustellen. Auch seine Idee (1984), ein „Bundesamt für Zivilen Widerstand“ vorzuschlagen, wurde als nicht realisierbar verworfen. Mit der Gründung des Bundes für Soziale Verteidigung (BSV) wurde schließlich ein „Ministerium für Abrüstung, Konversion und Soziale Verteidigung“ gefordert. Kritik am Konzept wurde damals u.a. von Aktiven aus dem Graswurzelspektrum (4) geübt. Eine Einführung der SV von oben sei nicht umsetzbar, und ein auf Ausbeutung, Gewalt und Militär basierender Staat könne SV nicht freiwillig in die Praxis umsetzen (5)

Umsetzungsstrategien
In den 80er und 90er Jahren dominierte die Hoffnung auf eine Rot-Grüne Regierungskoalition. Damals standen Gewaltfreiheit und Soziale Verteidigung noch im Parteiprogramm der Grünen. Zwei bekannte Grüne, Petra Kelly und Roland Vogt, waren Gründungsmitglieder des BSV. 1998 stimmten die Grünen dann dem NATO-Einsatz im Kosovokrieg zu. Doch im Jahr 1987 galten die Grünen noch als Hoffnungsträger, die SV auf der parlamentarischen Ebene einzubringen. Dabei wurde - ähnlich wie bei Snd – überlegt, die Mehrheit der Bevölkerung zu gewinnen - gedacht als „Massenlernprozess“, einer Mischung der Erfahrungen aus dem verbreiteten gewaltfreien Widerstand gegen die Atomraketenstationierung und über Aufklärung. (Ebert 1989, GWR: 34) Und - wie 2018 im Konzept Snd – wurde 1989 festgehalten, dass SV nur funktionieren könne, wenn die Gruppen in den sozialen Bewegungen die SV freiwillig anwenden und ein Netzwerk gewaltfreier Widerstandsfähigkeit bilden. „Da Politik immer auch ein Zusammenspiel gesellschaftlicher Kräfte ist, braucht es für die Realisierung dieses Szenarios (…) eine breite zivilgesellschaftliche Bewegung.“  (Snd: 14) Ähnlich, wie bei der „Erlassjahr-Kampagne“ (1996-2000) können - den Snd-Autoren zufolge - die Kirchen eine Vorreiterrolle übernehmen. Europäische kirchlich-zivilgesellschaftliche Bündnisse könnten sich für die Akzeptanz einer nachhaltigen, zivilen Sicherheitspolitik einsetzen. Für die institutionelle politische Umsetzung werden „wegweisende Beschlüsse des Bundestags zur zivilen Sicherheitspolitik“ angestrebt. Um Druck auf die Politik zu machen, sind verschiedene Schritte geplant: (Aufklärungs-) Kampagnen der Zivilgesellschaft und Kirchen. Für mediale Aufmerksamkeit sollen anhaltende Aktionen der Mitträger-Organisationen sorgen, die am Auf- und Ausbau ziviler Konfliktkultur und resilienter Demokratie mitwirken. Angestrebt werden Bundestagbeschlüsse zur Konversion der Bundeswehr (2035) und der Rüstungsindustrie bis 2040 (Snd: 33). Auch ist eine Kooperation, z.B. mit Österreich, Schweden und den Niederlanden angedacht.

Keine Frage: Snd ist ein umfassendes und durchdachtes Konzept. Angesichts zunehmender rechtsextremer und menschenfeindlicher Bewegungen und einer AfD im Bundestag komme ich auf die zu Beginn gestellte Frage zurück: Wie ließe sich die SV, verstanden als die Verteidigung bewahrenswerter sozialer Strukturen und Institutionen, in die vierte Säule von Snd, „Resiliente Demokratie“, integrieren? Darüber sollte die Diskussion weitergeführt werden.

Anmerkungen
1 Becker, Ralf; Maaß, Stefan; Schneider-Happrecht, Christoph (Hg.) (2018): Sicherheit neu denken. Von der militärischen zur zivilen Sicherheitspolitik – Ein Szenario bis zum Jahr 2040
2 Jochheim, Gernot (Hg.) (1988): Verteidigung mit einem menschlichen Gesicht. Eine Handreichung. Patmos Verlag, S. 9
3 http://www.konfliktbearbeitung.net/sites/default/files/reader_friedenslo... 2016
4 Ebert, Theodor (1989): Diskussionsforum Nr. 1, Ohne Waffen, aber nicht wehrlos! Bund für Soziale Verteidigung e.V., S. 36-37
5 Ebert, Theodor (1987): Graswurzelrevolution. Sonderheft 123/124: Für eine gewaltfreie, herrschaftsfreie Gesellschaft, Vermutungen … über die Wende zur Sozialen Verteidigung, S. 33-36

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