Neuruppin geht neue Wege

Skins betreiben offenen Freizeittreff - Polizei: Gewalttaten gehen zurück.

von Robert Hülsbusch

"Nazis raus!" Von Wänden, Schildern und Fassaden leuchten dem Be­sucher der Stadt Neuruppin diese Parolen entgegen - mal kunstvoll ge­sprayt, mal nur einfach mit Pinsel und Farbe geschmiert. Zum Kreis Neuruppin unterhält der Kreis Coesfeld eine Partnerschaft. Die Häufig­keit der Begegnungen mit diesen Aufschriften zeigt, daß auch der Part­nerkreis Probleme mit rechtsradikalen Jugendlichen hat. Die Lösung dieses Problems sieht die Stadt Neuruppin jedoch nicht darin, diesen Ausgrenzungsparolen zu folgen. "Integration!" heißt die Formel, mit der in Neuruppin gearbeitet wird. Seit dem August 1992 gibt es ein "Skinhead-Projekt", seit dem Juni 1993 unterhalten die rechten Jugendlichen - mit Unterstützung der Stadt und mit öffentlichen Geldern - einen eigenen Clubkeller. Modell auch für den Kreis Coesfeld? Vorbild auch für die Kommunen hier?

 

Noch vor nicht allzu langer Zeit schlug der Schutzbereichsleiter der Neuruppi­ner Polizei Alarm: In einer Analyse zur Gewaltausbreitung im Raum Neuruppin konstatierte er in nur neun Monaten 170 Gewaltstraftaten. Sozialpädagogen der "Initiative Jugendarbeitslosigkeit Neu­ruppin" (IJN) setzten aus ihrer Kenntnis - noch eins drauf: Man muß davon ausge­hen, daß es in Neuruppin (20.000 Ein­wohner) etwa 100 gewaltbereite rechte Jugendliebe gibt. Und durch die Zu­sammenarbeit mit den örtlichen Schulen wußten sie, daß noch etwa 200 Jugend­liche mit rechten und gewaltbereiten Tendenzen nachwachsen. Diese Zahlen schreckten die Verantwortlichen in der Stadt Neuruppin auf klar war: "Es muß etwas getan werden!" Auf Anregung der IJN wurde ein Runder Tisch installiert, der sich seit fast zwei Jahren nun regel­mäßig trifft. Teilnehmer sind der Bür­germeister, der Polizeichef, Vertreter der Schulen, der Leiter des Ordnungsamtes und des Jugendamtes, die IJN und Streetworker, die mit den Skins arbei­ten. In diesem Rahmen entstand ein so­zialpädagogisches Konzept für die Ar­beit mit rechtsradikalen Jugendlichen. Nach der Zustimmung durch den Jugendhilfeausschuß übernahm die IJN die Umsetzung dieses Konzeptes und begann mit der Arbeit. Das Ergebnis kann sich sehen lassen: Seit einigen Wochen unterhalten rechtsorientierte Jugendliebe in Eigenregie in den Keller­räumen eines Kindergarten einen Frei­zeittreff. In zwei gemütlich eingerichte­ten Räumen kann Poolbillard oder an Flipperautomaten gespielt werden, Mu­sik gehört oder einfach nur ein Bier ge­trunken werden. Besucher werden von den Jugendlieben - viele mit Glatze, Springerstiefeln und Militärjacken - freundlich begrüßt und in Unterhaltun­gen mit einbezogen. Natürlich hat die Stadt, die die Räume zur Verfügung stellt, Auflagen erlassen, diese aber auf wenige beschränkt: So sind Öffnungs­zeiten vorgegeben (wochentags bis 23 Uhr, am Wochenende bis 1 Uhr), der Treff muß für alle Jugendlichen offen sein, Gewalt und rechte Propaganda werden nicht toleriert. Den Schlüssel zu den "Clubräumen" haben die Skins. Es ist "ihr" Keller, für den sie Verantwor­tung tragen. Ständig "besucht" werden sie jedoch von Martina Utpott und Thomas Nowak, die als "Streetworker" das Projekt begleiten. Sie bieten sich als Person und als Gesprächspartner an, leisten Hilfe und Unterstützung bei den zahlreichen Problemen und Konflikten, nehmen zur Polizei und zu den Gerich­ten Kontakt auf, wenn die Jugendlieben auffällig geworden sind. Sie verstehen sich nicht als Pädgogen, sondern als So­zialarbeiter. Martina Utpott: "Der pädagogische Zeigefinger bleibt in der Tasche. Umerziehung findet hier nicht statt." Dennoch weiß sie, daß ihre Tä­tigkeit. und auch der Freizeittreff nicht ohne Wirkung auf die Jugendlieben bleibt: "Die Jugendlieben identifizieren sich sehr mit diesem Keller, viele haben zum ersten mal eigene Räume, ein Zu­hause, in dem sie sich wohlfühlen. Sie werden akzeptiert als Person, unabhän­gig von ihren Straftaten und von ihrer rechten Gesinnung - auch dies für viele eine ganz neue Erfahrung." Ein Stück Reintegration werde so möglich. Die Folge: Nach Statistiken der Polizei sind die Gewaltstraftaten in Neuruppin seit Eröffnung des Jugendkellers drastisch zurückgegangen. Ein glatzköpfiger Ju­gendlicher, Mitarbeiter im Jugendkeller, formuliert dies auf seine Weise: "Seit wir hier unseren Club haben, machen wir echt nicht mehr so viel Scheiß!" Auch bei der Planung und Einrichtung des Kellers waren die beiden "Streetworker" unterstützend beteiligt. Die Hauptarbeit jedoch leisteten bis da­hin arbeitslose Jugendliche aus der rechten Szene. Vier von ihnen wurden als ABM-Kräfte mit Hilfe des Ar­beitsamtes bei der Stadt Neuruppin an­gestellt. Fußböden wurden ausgegli­chen, Parkett verlegt, Sanitäreinrichtun­gen eingebaut, eine Theke errichtet und Wände und Decken gestrichen. Die Fi­nanzierung erfolgte durch den Bund ("Aktionsprogramm gegen Aggression und Gewalt" des Bundesministeriums für Frauen und Jugend), durch das Lan­desjugendamt und durch die Stadt. Öf­fentliche finanzielle Unterstützung er­fuhr dieses Projekt aber auch durch Sponsoren, so z.B. durch die Sparkasse Neuruppin und durch einige Unterneh­mer.

Und die Anwohner des Skin-Kellers? Die Eltern des Kindergartens äußerten zunächst Protest. Doch der legte sich schnell. Als der Hausmeister erkrankte, sprangen Jugendliche aus dem Keller ein und übernahmen dessen Arbeit. Seitdem herrsche - so Martina Utpott - ein gutes Verhältnis, getragen von gegenseitiger Akzeptanz. Die Polizei wurde erst einmal gerufen. Als die Skins nach einer Sylvester-Feier die Straße kehrten, rief ein Anwohner bei der Poli­zei an.

Auch über Aktivitäten außerhalb des Ju­gendkellers weiß die Sozialarbeiterin zu berichten. So ist eine Fahrt nach Frankreich geplant. Fest konzipiert sind ein Computerkurs, den ein Skin, der eine Programmierer Ausbildung absol­viert hat, leiten wird, und ein Englischkurs. Anmeldungen sollen für alle Jugendlichen möglich sein. Für den Herbst bereiten die rechten Jugendlichen für alle Neuruppiner ein Open-Air-Konzert vor. Interesse äußerten die Jugendlichen bisher auch an Motorrad- und Fahrra­dreparaturkursen. Dies scheiterte bis­lang jedoch an den fehlenden räumli­chen Kapazitäten.

Über neue Räume für das Skin-Projekt wird derzeit in Neuruppin intensiv nachgedacht. Wünschenswert - so die IJN - wäre ein Gebäude, das als Offenes Haus für Jugendliche das bisherige Angebot fortführen und ergänzen soll. Mit so einem Haus wäre nach Meinung der Streetworker langfristig die Möglichkeit gegeben, erfolgreich im Bereich der Prävention von Gewalt und Aggression bei Jugendlichen zu arbeiten. Die UN hatte bereits ein stark sanierungsbedürf­tiges Haus aus dem ehemaligen GUS-­Bestand übernommen. Fest geplant war, daß rechte Jugendliche dieses in Eigen­regie und wieder als ABM-Kräfte reno­vieren sollten. Herausgestellt hat sich jedoch, daß dies zur Zeit nicht finanzierbar ist. So wird das Projekt zunächst zurückgestellt und nach kostengünstige­ren Alternativen gesucht.

Natürlich gibt es auch kritische Stim­men in der Stadt Neuruppin zu diesem Skin-Projekt. Die rechten Jugendlichen sollen nicht auch noch unterstützt wer­den, möglicherweise bei der Verbrei­tung ihrer radikalen Ideen. Der Runde Tisch in Neuruppin allen voran der Bürgermeister Joachim Zindler weist diese Kritik als "zu kurzsichtig" zurück. Neue Wege müßten beschritten werden. Und wörtlich heißt es in einem Papier des Runden Tisches: "Der Trend zu rechten Lösungsvorschlägen für gesell­schaftliche Probleme und die zunehmende Gewaltbereitschaft von Gruppen Jugendlicher und junger Erwachsener kann nicht allein mit polizeilichen Me­thoden bearbeitet werden."

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Robert Hülsbusch, Friedensinitiative Nottuln.