Türkei

Das System Erdogan

von Memo Sahin
Krisen und Kriege
Krisen und Kriege
( c ) Netzwerk Friedenskooperative

Takiyya/Takiyye ist ein arabisches Wort und wird im Koran und in islamischen Denkschriften als Schleier und Tarnung der wahren Absichten definiert. Wenn es notwendig und nützlich für die Sache ist, darf ein Moslem täuschen.

So setzte Erdogan von Anfang an eine Maske auf und verheimlichte seine wahre Absicht. Heute, wo er sich seiner Sache sicher ist, braucht er keine Takiyye mehr und verheimlicht nicht, dass er die Türkei in eine islamische Republik unter seiner Führung umwandeln möchte.

Koalition zweier islamistischer Strömungen und die Zurückdrängung der Militärs
Als die AKP im Jahre 2002 den Annäherungsprozess zur EU beschleunigte und die Macht der Generäle begrenzen wollte, war sie eine reformoriente Erneuerungspartei.

Die unter dem Diktat der Kemalisten leidende Bevölkerung, die Intellektuellen und DemokratInnen haben damals nicht gezögert, den Kurs der AKP zu unterstützen. Auch aus dem Westen erhielt sie zunehmend Anerkennung und wurde international aufgewertet.

Mit Unterstützung der Gesellschaft und demokratischer Kräfte im In- und Ausland ging die AKP mit der Gülen-Bewegung gegen die Vorherrschaft der Armee vor. Putschpläne der Armeeführung wurden der Öffentlichkeit vorgelegt.

Ergenekon, Balyoz und Andic stehen für die Massenprozesse. Von Terrorbanden redeten die Koalitionäre. Tagtäglich berichteten sie von Machenschaften der Generäle, allerdings mit einer Ausnahme: Niemals wurden deren Verbrechen in Kurdistan zur Sprache gebracht.

Hunderte von Generälen und Offizieren wurden zum Teil zu lebenslänglichen Haftstrafen verurteilt. Die Koalitionspartner – AKP und Gülen-Bewegung - feierten ihren Sieg. Eine 90-jährige Knechtschaft ging für sie endlich zu Ende.

Abbruch mit dem inoffiziellen Koalitionspartner
Seit 2007 kontrolliert die AKP die Legislative und Exekutive und stellt das Staatsoberhaupt. Hinzu gekommen ist im Jahre 2010 auch die Judikative. Alle bis dahin von der AKP kritisierten Verfassungsorgane, darunter der Nationale Sicherheitsrat (MGK), wurden nicht abgeschafft, sondern unter Kontrolle von AKP-nahen Kadern gestellt.

Die große Zustimmung der Bevölkerung zur Beendigung der Vormachtstellung der Armee im Staatswesen ermutigten Erdogan zum Alleinregieren und zu einem „Nein” gegenüber den Forderungen der Gülen-Bewegung.

Die Gülen-Bewegung und Milli Görüs, die sich der Moslembruderschaft verbunden fühlt und von der Erdogan stammt, konkurrieren seit etwa 50 Jahren. Für Gülen sind Erdogan und die AKP keine wahren Verfechter der türkisch-islamischen Synthese mit nationalistischer Prägung. In ihren Augen sind sie islamistische Internationalisten, aber keine orthodoxen Kämpfer für den Pan-Turkismus. Beide Koalitionäre wussten genau, dass ihre Ehe zweckbestimmt und nur auf Zeit war.

Um Erdogan unter Druck zu setzen, führten die Gülenisten im Staatsapparat zwei Operationen durch. Am 7. Februar 2012 luden sie den Geheimdienstchef zu einer Anhörung über die geheimen Verhandlungen mit der PKK ein. Erdogan rettete seinen Mann durch ein Sondergesetz. Zum Zweiten umging die AKP-Regierung die internationalen Sanktionen gegen Iran. Iranische Gelder wurden gewaschen. Gegen Gold kaufte die Türkei Erdgas und Öl aus dem Iran. Über die staatliche Halk-Bank wurden etwa 87 Mrd. Dollar auf Umwegen nach Iran transferiert.

Ende Dezember 2013 gingen die Staatsanwälte gegen vier Minister und ihre Söhne, gegen den Sohn Erdogans sowie gegen die Bankiers der staatlichen Halk-Bank vor. Der Vorwurf lautete: Korruption, Bestechung und Unterlaufen der US-Sanktionen gegen den Iran.

Erdogan suspendierte die Staatsanwälte und rettete so seinen Sohn und seine Minister. Neue von ihm ernannte Staatsanwälte ließen die Anklage fallen. Es gibt aber ein Nachspiel. Seit März 2016 ermittelt ein New Yorker Gericht gegen die Akteure dieser Korruptionsaffäre. Als das Gericht am 7. September 2017 einen Haftbefehl gegen den damaligen Wirtschaftsminister erlies, sagte Erdogan, dass aus den USA „unangenehme Gerüche“ kämen. (TR-Presse, 8.9.17)

Da der AKP durch die Korruptionsaffäre tiefe Kratzer in Image und Charisma zugefügt wurden, hat sie alle Verantwortung zur Verurteilung der Generäle auf die Gülen-Bewegung geschoben. Laut Erdogan habe die Gülen-Bewegung ein Komplott gegen die Armee durchgeführt. Daraufhin wurden die verurteilten Generäle ohne eine Amnestie freigelassen.

Der gemäßigte Islam à la Erdogan
Die USA und der Westen hatten bis vor fünf Jahren noch vor, den sogenannten gemäßigten Islam der AKP als Modell für den Nahen Osten und die Arabische Welt zu installieren. Infolgedessen genoss die AKP unverdientes Ansehen.

Im Inland versuchte die AKP mit Mitteln der Macht, der Gesellschaft die islamische Lebensweise aufzuzwingen. Im Ausland hingegen unternahm sie den Versuch, den sunnitischen Islam unter ihre Obhut zu nehmen.

Sie schöpfte den Geheimfonds in vollem Umfang aus, um die djihadistischen Terrorbanden in den arabischen Ländern zu unterstützen. Sie ließ nichts unversucht, um den Einfluss demokratischer und säkularer Kräfte in der Türkei und im Nahen Osten zu verhindern. Wir waren Zeugen, wie die Staatsmacht den Gezi-Aufstand blutig niederschlug und die Gesellschaft terrorisierte. Mit der Ausbildung Tausender von islamistischen und von ihr rekrutierten Killerkommandos läutete sie den Export des Terrors nach Syrien ein.

Als die US-Regierung die von Erdogan unterstützte Al-Nusra-Front im Herbst 2012 auf die Terrorliste setzte und die Türkei vor Unterstützung islamistischer Djihadisten, darunter der Hamas in Palästina und der Moslem-Brüder in Ägypten, warnte, begann eine kritische Betrachtung der Türkei und des falsch eingeschätzten Islam der AKP durch den Westen.

Wendepunkt: Parlamentswahlen im Juni 2015
Nach einem langen, harten und blutigen Wahlkampf fanden am 7. Juni 2015 Parlamentswahlen statt. Die pro kurdische HDP (Partei der Demokratischen Völker) bekam über 6 Millionen (13%) Stimmen und entsandte 80 Abgeordnete ins Parlament.

Dank des Wahlerfolgs der HDP konnte der Alleinherrschaft der AKP ein Ende gesetzt werden. Dies passte Erdogan nicht. Er umging die Verfassung, verhinderte so eine Regierungsbildung und schrieb Neuwahlen zum 1. November aus.

Nachdem die Gülenisten aus der Macht vertrieben worden waren, blieb nur die kurdische Bewegung als Hindernis auf dem Weg zur Alleinherschafft. Deswegen wurde der Friedensprozess mit der PKK offiziell beendet und eine neue blutige Zeit begann. Türkische Kampfjets fingen im Juli 2015 an, die Stellungen der PKK im Inland und im Irak zu bombardieren.

Bomben gingen auch in den Städten wie Suruc und Ankara hoch und töteten über 130 friedvolle Menschen, Anhänger der HDP. Auch die Veranstaltungen und Büros der HDP blieben nicht verschont.

Um sich an den WählerInnen der HDP zu rächen, wurden mit Kampfpanzern, Artillerie und Raketenwerfern zehn kurdische Städte, darunter die Altstadt von Diyarbakir, unter Beschuss genommen und Hunderte von ZivilistInnen von Todesschwadronen der Regierung hingerichtet. Hunderttausende wurden vertrieben.
Es war kein Geheimnis mehr, dass Erdogan seine Macht ausbauen wollte - so sagte er am 14. August 2015 in Rize: ”Ob man es akzeptiert oder nicht, das Regierungssystem der Türkei hat sich geändert. Jetzt ist es nötig, die De-facto-Situation in die Verfassung zu übertragen.” (FR, 18.8.15)

Der Putschversuch war ein willkommener Anlass für die AKP
Heute – mehr als ein Jahr nach dem sogenannten Putsch vom 15. Juli 2016 - wissen wir, dass er für die Verfestigung der Alleinherrschaft von Erdogan inszeniert wurde.

Abdulkadir Selvi gab am 15. September 2016 in seiner Kolumne in Hürriyet zu, dass der türkische Geheimdienst MIT von den Putschplänen schon sechs Monate vorher, nämlich am 17. Februar 2016, erfahren hatte. (Hürriyet, 15.9.16)

Wie könnte sonst erklärt werden, dass fast die ganze Regierung samt dem allmächtigen Präsidenten vor dem Putsch untergetaucht und nicht in Ankara waren? Wie kann es sein, dass sich alle Armeechefs (Heer, Luftwaffe und Marine) auf einer Hochzeit befanden? Und wie kann es sein, dass der Geheimdienstchef fünf Stunden vor dem Putsch zum Hauptquartier des Generalstabs ging und sich dort aufhielt? Welcher Putschist würde den festgenommenen Generalstabschef unversehrt wieder freilassen?

Diese unbeantworteten Fragen, die Offenlegungen von Selvi sowie die aufgetauchten neuen Informationen verdeutlichen, dass die Regierung früh genug von den Putschplänen wusste, sich darauf vorbereitete und den willkommenen Anlass abwartete. Erdogan nannte den Putschversuch am 16. Juli 2016 ein „Gottesgeschenk”. (BirGün, AA, 16.7.2016)

Gleich danach begann eine landesweite Säuberungswelle. Über das Land wurde der Ausnahmezustand verhängt, das Parlament faktisch außer Kraft gesetzt und das Land seit über einem Jahr per Dekrete regiert. Über 50.000 Menschen verhaftet, darunter über 10.000 legale AktivistInnen der kurdischen Bewegung und 170 JournalistInnen. Neben 5.000 WissenschaftlerInnen wurden über 150.000 Beamtinnen und Angestellte entlassen. Etwa 5.000 Stiftungen, Vereine und Firmen wurden geschlossen und ihr Hab und Gut beschlagnahmt. Außerdem befinden sich über zehn gewählte ParlamentarierInnen, darunter die Ko-Vorsitzenden der HDP und über 90 kurdische BürgermeisterInnen in Haft. Neben Deniz Yücel und Mesale Tolu sitzen weitere zehn Deutsche in den türkischen Knästen. Tagtäglich finden neue Razzien statt.

Fast alle kritischen Medien wurden zum Schweigen gebracht. Weit über 140.000 Pässe wurden entzogen. Stattdessen wurden 38.000 Kriminelle und Mafiosi aus den Gefängnissen freigelassen, um politischen Häftlingen Platz zu machen. (TR 7/24, 13.9.17)

Mit diesen letzten Machenschaften installiert Erdogan mit rasanter Geschwindigkeit sein Sultanat. Wie lange diese Willkür dauern wird, weiß außer Erdogan niemand. Trotzdem aber die über 50% Nein-Stimmen beim Referendum, der Marsch für Gerechtigkeit und dessen Unterstützung durch die HDP beweisen, dass die Macht Erdogans nicht grenzenlos ist und die Menschen in der Türkei und in Kurdistan weiter für eine andere, eine friedliche, humanistische Türkei kämpfen.

Wer heute nichts gegen die herrschende Willkür tut und die Machenschaften der AKP stillschweigend hinnimmt, macht sich mitschuldig. Solidarität mit den Verfolgten und Eingekerkerten, Solidarität mit den kurdischen und türkischen DemokratInnen muss auf der politischen Agenda stehen und als Messlatte gelten!

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