"Wie kultiviere ich die Freiheit bei dem Zwange?"

Über den Zusammenhang von Freiheit, Anarchismus und Pädagogik

von Ulrich Klemm

Die Kernfrage des Anarchismus ist gleichzeitig auch eine Kernfrage der Neuzeit: Der Widerspruch und die Dialektik von Herrschaft und Freiheit.

Freiheit bedeutet im Anarchismus die Befreiung aus politisch und gesellschaftlich bedingter Herrschaft und Machtausübung von Menschen und Strukturen über Menschen. Freiheit ist für den Anarchismus ein politischer Sachverhalt, und er schließt dabei an ein grundlegendes Problem der politischen Philosophie der Neuzeit an, das in der Frage zu suchen ist, „wie die moralische Autonomie des Individuums mit der legitimen Autorität des Staates in Einklang gebracht werden kann“ (Wolff 1979, Anm. 2).

Dieser Konflikt, der als Widerspruch zwischen Freiheit und Zwang in der Neuzeit auftaucht, wird im Anarchismus anti-staatlich gelöst. Der Anarchismus beschreitet einen völlig anderen Weg zur vorherrschenden Philosophie und Politik. Er wendet sich mit seinem Ansatz gegen die gängige politische Philosophie der Neuzeit, die sich in erster Linie als eine Staatsrechtsphilosophie definiert. Der Staat, der die Lösung des Problems der Antinomie von (individueller) Autonomie und (struktureller) Autorität ermöglichen soll, wird vom Anarchismus als das eigentliche Problem gesehen. Freiheit wird im Anarchismus ähnlich wie bei Immanuel Kant als die Möglichkeit und Fähigkeit des Menschen zur Selbstverantwortung und Selbstgesetzgebung gesehen.

Der zentrale Grundkonflikt besteht für den Anarchismus im Widerspruch zwischen der legitimen (natürlichen) Autonomie des Individuums einerseits und der unrechtmäßigen (künstlichen) Herrschaft und Autorität des Staates andererseits. Die politische Lösung dieses Konflikts besteht für ihn in der Auflösung des Staates, d.h. in der Definition des Staates als Unrechtszustand gegenüber dem Individuum. Die staatliche Verfasstheit – auch eine demokratische – fordert vom Individuum die Aufgabe von Autonomieansprüchen und ist aus diesem Grund unvereinbar mit dem Naturrecht der Freiheit des Menschen.

In diesem Kontext erhalten Bildung und Erziehung für die gesellschaftliche Praxis des Anarchismus eine wesentliche Bedeutung und finden ihren Niederschlag in einer langen pädagogischen Tradition, die als libertäre oder anarchistische Reformpädagogik zu verorten ist.

I. Libertäre Pädagogik als Ideologie- und Institutionenkritik
Mit dem Begriff einer anarchistischen Pädagogik wird eine Bildungs- und Erziehungstradition definiert, die sich jedoch nicht allein auf eine explizit der Politik des Anarchismus verpflichtende pädagogische Praxis bezieht. Im Zentrum dieser Pädagogiktradition steht der Freiheitsbegriff. In diesem Sinne wird unter anarchistischer Pädagogik eine Tradition verstanden, die zwar vorrangig im Zusammenhang mit der politischen und sozialen Bewegung des modernen Anarchismus seit ca. 200 Jahren zu sehen ist, jedoch systematisch als eine Freiheitspädagogik verstanden werden muss, die über die Politik und Philosophie des Anarchismus hinausgeht.

Libertäre Pädagogik als kritische Pädagogik
Verstehen wir libertäre Pädagogik als eine kritisch-emanzipatorische Pädagogik, dann ist festzustellen, dass für den Anarchismus Pädagogik ebenso wie der Polizeiapparat, das Militär oder die Rechtsprechung Bestandteil eines Herrschaftsapparates im Ensemble der bürgerlichen, kapitalistischen und etatistischen Welt ist. Als kritische Instanz für Bildung und Erziehung lassen sich drei Kritikebenen bei der libertären Pädagogik herausfiltern:

Als Institutionenkritik fordert der Anarchismus neue Formen der Organisation von Bildung und Erziehung, d.h. kleine, funktionsgerechte, zeitlich begrenzte, freiwillige und selbstbestimmte Orte des Lernens.

Als Ideologiekritik wendet sich der Anarchismus gegen (Staats-)Schule, Familie und Kindheit in ihrer bürgerlichen und individualisierenden Definition als Orte tradierter Herrschafts- und Machtverhältnisse.

Als Kritik am Pädagogischen Bezug wendet sich der Anarchismus methodisch-didaktisch gegen autoritäre Formen des pädagogischen Umgangs zwischen den Generationen und fordert ganzheitliche, erfahrungsbezogene, koedukative, selbstbestimmte und „beiläufige“ Interaktionen.

Auf diesen drei systematischen Ebenen ist - so die These - libertäre Pädagogik(kritik) durchaus anschlussfähig an eine aktuelle Debatte und zeichnet sich signifikant durch Merkmale aus, die sie originär machen.

Zur Aktualität libertärer Staatsschulkritik
Zu den bekanntesten Vertretern einer gegenwärtigen Generation libertärer Schulkritiker zählen die nordamerikanischen Alternativschulpädagogen aus den 1960er Jahren Paul Goodman (1975), George Dennison (1971) und John Holt (1978), die sich ausdrücklich auf den Anarchismus beziehen und heute zu neuen Klassikern alternativer Schulmodelle geworden sind. Während sich John Holt vorwiegend auf lernpsychologische und antipädagogische Aspekte in der Diskussion und Kritik konzentriert (3), wird George Dennison mit seiner legendären „First Street School“ in New York 1964/65 weltweit zum Mentor einer neuen Generation von Reformschulen. (4) Paul Goodman, der libertäre Philosoph, Soziologe und Literat wird mit seiner grundsätzlichen Kritik am Schulsystem zum wichtigsten theoretischen und kritischen Impulsgeber für eine Ideologie- und Institutionenkritik am System Schule. (5) Er spricht vom „Verhängnis der Schule“ (engl. 1964, dt. 1975) als einem Zustand planmäßiger und parapolitischer Unterrichtung mit dem Ziel, Arbeitslosigkeit zu verzögern, zu verhindern und die gewünschte Ordnung aufrechtzuerhalten. Die staatliche Regelschule weist für den Anarchismus folgende Kritikpunkte auf:

  • Schule als Institution
  • Schule als Staatsschule
  • Schule als nicht-reformierbarer Lernort
  • Schule als Ort parapolitischen Handelns.

Für die libertäre Pädagogik heißt dies:

Schüler und Lehrer werden zu Objekten der Bürokratie und Verwaltung. Beide können sich gegen diese Form der indirekten und strukturellen Gewalt nur subversiv zur Wehr setzen. Schule wird für junge Menschen zu einem speziellen Rechtsraum mit vorgegebenen Verordnungen zur Regelung des Generationenverhältnisses.

Das Staatsschulwesen als verordneter Zwang (Schulpflicht) ist ein Relikt aus einer vordemokratischen Epoche. Staatsschule bedeutet, dass alle das lernen müssen, was wenige wollen. Staatsschule wird zum Exerzierfeld für Gehorsam und Einordnung.

Die Nicht-Reformierbarkeit der Regelschule ist System und hat Tradition. Schulreformen dienen der Anpassung an neue gesellschaftliche und ökonomische Veränderungen. Es findet keine wirkliche „Reform vom Kinde aus“ statt.

Libertäre Pädagogik als Ideologiekritik
Als ideologiekritischer Ansatz setzt sich der Anarchismus seit dem 19. Jahrhundert an verschiedenen Stellen mit dem Phänomen Erziehung grundsätzlich auseinander und sucht nicht nach Reformen und Veränderungen, sondern nach Wegen zur Abschaffung derselben.

Mit dieser fundamentalistischen Kritik an Erziehung nehmen sie einen Standpunkt vorweg, der erst ab Mitte der 1970er Jahre unter dem Begriff der „Antipädagogik“ und „Kinderrechtsbewegung“ eine breite Öffentlichkeit erreicht und seitdem mehr oder weniger in der Diskussion ist.

Die bislang differenzierteste Position dazu finden wir bei dem Individualanarchisten Walther Borgius mit seiner Schrift „Die Schule - Ein Frevel an der Jugend“ (1930), die heute als eine anarchistische Kinderrechtsposition zu werten ist. Walther Borgius schreibt: „Die Kinder, bis zum Alter der Mündigkeit, haben tatsächlich in der europäisch-amerikanischen Kultur rechtlich und sachlich genau die Stellung, wie die Sklaven in der antiken Kultur. Wir sehen nur den Sklaven immer mit den sentimentalen Augen der Beecher-Stowe an, das Kind immer mit den stumpfen, verständnislosen Augen des Erwachsenen und sehen daher nicht die Gleichheit der Situation“ (6).

Es geht hierbei nicht um eine pädagogische Kritik an der Pädagogik. Ziel ist vielmehr eine radikale Institutionenkritik an Familie und Schule sowie eine Ideologiekritik am System Erziehung - es geht um eine antipädagogische Kritik an Pädagogik.

Politisch findet sich diese Position in der Gegenwart als Kinderrechtsbewegung wieder, wie sie beispielsweise von John Holt (1978, s. Anmerkung 3) als einem zentralen Mentor in den letzten 40 Jahren vertreten wurde. Es geht um Rechte für Kinder, um die anthropologische, rechtliche und politische Gleichstellung der Kinder. Diese kinderrechtliche und antipädagogische Position, die damals wie heute für große Verunsicherung, Verwirrung und Spott in der Welt der Pädagogik und Erziehung sorgt, hat ihren Ursprung in einer anarchistischen Anthropologie und Politik der Kompromisslosigkeit.

II. Thesen zur Aktualität libertärer Pädagogik
Als staats- und ideologiekritischer Ansatz steht eine libertäre Position als Alternative im Kontext der Bildungspolitik, indem sie eine Entstaatlichung von (Bildungs-)Institutionen legitimiert.

Die weltweite Alternativschulbewegung ab den 1960er Jahren hat weniger die klassischen reformpädagogischen Konzepte aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zum Ausgangspunkt, als vielmehr eine libertäre Kritik an Institutionen und an pädagogischen Konzepten. Das Konzept der „Selbstregulierung“(Negt 1986) (7) oder das der „Mathetik“ (v. Hentig 1984) (8) muss ideengeschichtlich im Kontext mit dem gestalttherapeutischen Ansatz von Paul Goodman gesehen werden und auch neueste Konzepte zum Lernen in und außerhalb der Schule greifen auf jene von John Holt zurück.

Die Kinderrechtsbewegung in der Bundesrepublik (Stern 1995) (9) basiert bis heute auf anthropologischen, lerntheoretischen und politischen Annahmen, die ihren Ausgangspunkt in einem libertären Bewusstsein haben. Hierzu gehören die Staats- und Institutionenkritik, der anthropologische Optimismus bezüglich der Autonomie und Selbstverantwortung des Menschen sowie das Abwehr- und Anspruchsrecht gegenüber dem Staat.

Wir finden aktuell weniger eine offene und bewusste Rezeption des Anarchismus in der Bildungs- und Erziehungsdiskussion vor als vielmehr eine Traditionslinie, die verdeckt aber nachhaltig seit dem 19. Jahrhundert erhalten blieb und heute jenseits klassischer anarchistischer Organisationsstrukturen anzutreffen ist. Außerdem - und dies spielt für den Anarchismus insgesamt eine Rolle - führte der evokative und stigmatisierende Begriff des „Anarchismus“ in den letzten 200 Jahren eher dazu, ihn als ein Phänomen der Barbarei und des Terrorismus zu kennzeichnen, als ihm einen etablierten Platz im gesellschaftlichen Diskurs zu geben.

Anmerkungen
1 Kant: Über Pädagogik. Bochum 1984, S. 40; erstmals 1803

2 Wolff, R.P.: Eine Verteidigung des Anarchismus. Wetzlar 1979; engl. 1970, S. 5

3 Holt, J.: Zum Teufel mit der Kindheit. Wetzlar 1978; engl. 1975

4 Dennison, G.: Lernen und Freiheit. Frankfurt/M. 1971; engl. 1969

5 Goodman, P.: Das Verhängnis der Schule. Frankfurt/M. 1975; engl. 1964; und ders.: Erziehung – Zwangsjacke oder Freiheit. Meppen 1978

6 Borgius, W.: Die Schule – Ein Frevel an der Jugend. Berlin 1930, S. 188/189

7 Negt, O.: Selbstregulierung als Realitätsprinzip pädagogischer Arbeit. In: H. J. Jürgensmeier (Hg.): Alternative Bildung? Hannover 1986, S. 27-41

8 v. Hentig: Wie frei sind freie Schulen? Stuttgart 1985

9 Stern, B. (Hg.): Kinderrechte. Ulm 1995

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Ulrich Klemm ist Sozialwissenschaftler, Hochschullehrer und Geschäftsführer der Europäischen Donau-Akademie in Ulm; er promovierte über den Freiheitsbegriff in der libertären Pädagogik zum Dr. phil. in Hamburg, ist Honorarprofessor für Erwachsenenbildung in Augsburg und forscht in Leipzig im Bereich der Erwachsenenbildung.