Buchbesprechung zum Ukrainekrieg

„Ukrainekrieg – Warum Europa eine neue Entspannung braucht“

von Ekkehard Lentz
Hintergrund
Hintergrund

Der Krieg in der Ukraine mit inzwischen geschätzten rund 500.000 Todesopfern und Verwundeten (Stand: Mitte August 2023) hat in Deutschland bisher zu keiner kontroversen Debatte geführt. Wer Alternativen zur Kriegsführung einfordert, wird wahlweise als Lobbyist des „Feindes“, als „Lumpenpazifist“ oder als „gefallener Engel“ diffamiert. In einer solchen politischen Lage kommt der Sammelband „Ukrainekrieg. Warum Europa eine neue Entspannungspolitik braucht“ gerade zur rechten Zeit.

In der Einleitung (gemeinsam mit Mit-Herausgeber Stefan Luft) und in ihrem Beitrag „Verspielte historische Chancen“ zeichnet die Historikerin und Politikwissenschaftlerin Sandra Kostner minutiös die Vorgeschichte des aktuellen Krieges in der Ukraine seit dem Verschwinden des Eisernen Vorhangs nach. Kein Krieg ist ohne seine Vorgeschichte zu verstehen – dass diese Selbstverständlichkeit wieder besonders betont werden muss, zeigt, wie unpolitisches Denken und Propaganda gegenwärtig die veröffentlichte Meinung dominieren. Kostner kommt zu dem Schluss: „Die Verantwortung für den Angriffskrieg trägt allein Putin. Aber daran, dass es überhaupt an den Punkt gekommen ist, wo er die Entscheidung traf, einen politischen Konflikt militärisch zu lösen, ist die unnachgiebige und zu sehr an eigenen Interessen orientierte Politik der US-geführten NATO mitverantwortlich. Der Westen täte daher sehr gut daran, sich selbstkritisch mit den Folgen seiner kompromisslosen Politik auseinanderzusetzen.“

Der Historiker Jürgen Wendler stellt ein ahistorisches und von Feindbildern geprägtes Russland-Bild in der gegenwärtigen Politik fest. Er verweist auf die vielfältigen Beziehungen zu Russland seit Jahrhunderten. Das vorherrschende Bild von Gut und Böse sei einfältig und werde keiner Seite gerecht. Die Friedensschlüsse des 19. Jahrhunderts seien auch deshalb möglich und nachhaltig gewesen, weil politisch-ideologische Differenzen ausgeklammert worden seien. Das unterscheidet die Politik im 19. Jahrhundert von der im 20. und 21. Jahrhundert.

Der Politikwissenschaftler Günther Auth geht in seinem Beitrag häufig vernachlässigten Themen wie den wirtschaftlichen Motiven angloamerikanischer Interessengruppen und ihrer Verquickung mit den Regierungen nach. David Teurtrie, Politikwissenschaftler aus Paris, interpretiert in seinem Beitrag den Ukrainekrieg als Stellvertreterkrieg zwischen Russland und dem Westen. Der Wirtschaftswissenschaftler Jacques Sapir sieht darin einen der Gründe, warum die Sanktionen der EU und der USA die russische Wirtschaftskraft sehr viel weniger treffen als von den Initiatoren beabsichtigt.

Von Interesse für zeitgeschichtlich Interessierte ist auch das Zeitzeugengespräch mit dem CDU-Politiker Willy Wimmer über deutsche Politik im Fahrwasser US-amerikanischer Interessen. Er berichtet aus eigener Anschauung, dass bereits Anfang der Neunzigerjahre ein Kurswechsel in der US-amerikanischen Politik zu beobachten war, der „eine völlige Abkehr bedeutete, und zwar innerhalb sehr kurzer Zeit, von allen Vereinbarungen des NATO-Gipfels vom Sommer 1990, von den Versicherungen, die Gorbatschow im Rahmen der Vereinbarung zur Wiedervereinigung Deutschlands hinsichtlich der NATO-Erweiterung mündlich gegeben wurden, und natürlich auch … der Charta von Paris“.

Die Medienwissenschaftlerin Sabine Schiffer befasst sich in ihrem Beitrag mit Arbeitsweisen und Techniken im Journalismus und stellt dabei eine weitverbreitete Voreingenommenheit und selektive Wahrnehmung fest. Weitere Beiträge – etwa „Die Grünen und der Krieg“ (Stefan Luft) oder „Augen zu und rein: Deutschland im Krieg“ von Wolfgang Streeck – legen Zusammenhänge frei, die für das Verständnis unserer Zeit sehr förderlich sind. In dem abschließenden Teil des Buches „Ausblicke und Einsichten“ betont Klaus von Dohnanyi: „Frieden kann es nur mit und nicht gegen Russland geben“. Er betont: „Die These, mit Putin redet man nicht, ist ein Vergehen gegen die politische Vernunft, solange Putin an der Macht und zu gefährlich für die Existenz nicht nur Europas ist.“

Stefan Luft rundet mit seinem Beitrag „Deutschland und der Krieg. Lehren für eine künftige Entspannungspolitik“ den Band ab. Nicht die Entspannungspolitik sei gescheitert, sondern die Politik der Konfrontation seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion und des Warschauer Pakts, indem sie zu den massiven politischen Spannungen und letztendlich auch zur Entscheidung für diesen Krieg beigetragen habe. Luft plädiert für konkrete Friedensinitiativen aus Europa und stellt zahlreiche Handlungsoptionen zur Debatte (unter anderem Rüstungskontrolle und Abrüstung, Vertrauens- und sicherheitsbildende Maßnahmen).

In dem Band sind ausschließlich fundierte und auch verständlich geschriebene Beiträge enthalten. Sie geben zahllose wertvolle Hinweise für ein besseres Verständnis der vorherrschenden Politik, die zum Weiterdenken anregen. Das Buch kann ohne Zweifel als Dokument der Zeitgeschichte bezeichnet werden. Ihm ist eine weite Verbreitung zu wünschen.

Kostner, Sandra und Stefan Luft (Hrsg) (2023): Ukrainekrieg. Warum Europa eine neue Entspannungspolitik braucht, Frankfurt a.M.: Westend academics, 352 S., ISBN 9783949925108, 24,00 €.

Ekkehard Lentz ist Sprecher des Bremer Friedensforums.

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Ekkehard Lentz, 1955-2023, Mitbegründer und Sprecher des Bremer Friedensforums.in der Zeit von 1975 bis 1990 gehörte er dem Landes- und Bundesvorstand der Deutschen Friedens-Union an.