Der 21. Friedensfilmpreis

Unsichtbares sichtbar machen

von Ulla Gorges

Der 21. Friedensfilmpreis der Internationalen Filmfestspiele Berlin ging an den Spielfilm-Erstling der jungen bosnischen Regisseurin Jasmila Zbanic ,,Grbavica". Einen Tag nach der Entscheidung der Friedensfilmpreis-Jury wurde „Grbavica" auch mit dem Goldenen Bären als bester Film des Festivals ausgezeichnet und erhielt außerdem den Preis der ökumenischen Jury.

 

Ein neues Meisterwerk für das europäische Kino

Grbavica ist ein Stadtteil von Sarajewo, in dem während der Belagerung der Stadt serbische Chetniks Gefangenenlager errichtet hatten. Hier lebt heute die alleinerziehende Esma mit ihrer 12-jährigen Tochter Sara. Wir begegnen Esma zuerst bei einer Therapie-Sitzung im örtlichen Frauenzentrum inmitten einer Gruppe von Frauen, die dasselbe Schicksal teilen: sie sind Opfer von Vergewaltigungen während des Krieges. Einige weinen, die meisten sitzen stumm, manche mit versteinerten Gesichtern in der Runde. So auch Esma, die an der Sitzung teilnimmt, um die dürftige staatliche Unterstützung zu bekommen. Ihre schrecklichen Erinnerungen sind ein unantastbares Geheimnis, und sie versucht ein alltägliches, normales Leben für sich und ihre Tochter zu bewältigen. Das gelingt immer weniger, viele kleine Szenen weisen auf Esmas schwere Traumatisierung hin: wenn sie in dem lärmenden Nachtclub, in dem sie als Kellnerin arbeitet, vor den dort üblichen Anzüglichkeiten der Männer weinend in die Garderobe flieht, wenn sie vorzeitig aus dem Stadtbus aussteigen muss, weil sie die körperliche Nähe zu einem Mitreisenden nicht erträgt, wenn sie beim spielerischen Toben mit ihrer Tochter diese unvermittelt wegstößt.

Sara ist in dem Glauben aufgewachsen, ihr Vater sei ein gefallener bosnischer Kriegsheld - ein Lügengebäude, das nach und nach brüchig wird und schließlich zerspringt. Sara erzwingt von ihrer Mutter die Wahrheit, Esma bricht zusammen und konfrontiert ihre Tochter brutal und schonungslos mit der Tatsache, dass Sara im Gefangenenlager gezeugt wurde und das Kind eines Chetnik ist. Für Esma ist dieser Zusammenbruch ein erster Schritt zur Verarbeitung ihres Traumas, und trotz der tiefen Verletztheit der Tochter endet der Film mit einem Zeichen der Hoffnung auf einen Neuanfang für beide und auch für die Beziehung zwischen Mutter und Tochter.

,,Das Wunderbare an diesem Film ist, dass er es nahezu· mühelos schafft, ein großes politisches Thema, nämlich die Wunden, die Narben, die dieser Krieg im ehemaligen Jugoslawien in den·Körpern und den Seelen so vieler Menschen aller Generationen hinterlassen hat, durch eine ganz kleine, quasi pure Geschichte zu erzählen", schwärmte der Schauspieler Ulrich Matthes in seiner Laudatio auf den diesjährigen Friedensfilmpreisträger. „Ich möchte allen Beteiligten, der Regisseurin, den wunderbaren SchauspielerInnen, dem ganzen Team von Herzen für diesen Film danken. Das europäische Kino hat ein kleines, stilles Meisterwerk mehr."

Eine bilderlose Katastrophe

Zur Preisverleihungsveranstaltung strömten am 19. Februar viele hundert Menschen in die Berliner Akademie. der Künste, deren großer Saal lange vor Beginn schon überfüllt war. Obwohl völlig überrascht vom Erfolg ihres Films, überwältigt von Freude und erdrückt von dem Medienrummel um die Gewinnerin des Goldenen Bären, war Jasmila Zbanic der Einladung des Friedensfilmpreis-Teams gefolgt. Sie nahm die kleine Plastik von Otmar Alt, die Urkunde und das Preisgeld von 5.000 Euro strahlend entgegen. Und dann nahm sie sich viel Zeit für die Diskussion nach der Filmvorführung. Die 32-jährige Filmemacherin hat bereits mehrere Kurzdokumentationen über Kriegserfahrungen von Frauen gedreht. Sie versteht ihre Arbeit als Beitrag für die gesellschaftliche Entwicklung ihres Landes: „Es geht um die Wahrheit, die wachsen muss. Und die dringlich gebraucht wird von der Gesellschaft Bosniens und Herzegowinas,·die erwachsen werden muss." Jasmila Zbanics besonderes Anliegen ist, auf das Schicksal der vergewaltigten Frauen aufmerksam zu machen. Sie hatte zunächst einen abendfüllenden Dokumentarfilm über dieses Thema geplant, gab den Versuch, Vergewaltigungsopfer vor der Kamera zu befragen, dann aber aus humanitären Gründen auf.

Stattdessen drehte sie ihren ersten Spielfilm, ,,Grbavica", und hier hat sie eindringliche Bilder für eine Katastrophe gefunden, die bilderlos geblieben war. Bei ihren jahrelangen Recherchen erhielt Jasmila Zbanic fachliche Unterstützung durch das multi-ethnische Therapiezentrum „medica zenica". Dr. Ute Watermann, Sprecherin der IPPNW, die Schirmherrin des Friedensfilmpreises ist, hob die unterstützenswerte Arbeit hervor, die „medica mondiale" in Bosnien und Herzegowina geleistet hat und noch immer leistet. Schon während des Krieges, 1993, wurde der bosnische Zweig „medica zenica" gegen das Verschweigen von sexualisierter Kriegsgewalt an den bosnischen Frauen und Mädchen gegründet. Mehr als 40.000 Frauen erhielten dort seither fachliche Hilfe. Ute Watermann beschrieb eindringlich die traumatischen Folgen von Vergewaltigungen und das fortwirkende psychische und auch physische Leiden der Opfer. Zwar sei es ein Fortschritt und, weltweit einmalig, dass in Bosnien und Herzegowina diese Frauen vor einem Jahr offiziell den Status „Zivile Kriegsopfer" erhalten hätten, aber die psychologischen und materiellen Hilfen - monatlich 15 Euro Unterstützung vom Staat - reichten bei weitem nicht aus, da viele der Frauen gar nicht oder nur eingeschränkt arbeitsfähig seien. Und noch immer laste auf diesen Frauen das gesellschaftliche Schweigen über ihr Schicksal. Jasmina Zbanic konstatierte: ,,Sie sind eben keine vorzeigbaren Opfer wie die gefallenen Märtyrer oder die Frauen von Srebrenica. Mit Vergewaltigungsopfern lässt sich kein Staat machen, kein Politiker stellt sich mit ihnen auf ein Podium."

Als Katharsis für die ganze Gesellschaft

In dem Film „Grbavica" wird das Aussprechen der schrecklichen Wahrheit zur Chance für einen Neubeginn für das Leben von Mutter und Tochter und für ihre Beziehung zueinander. Es sei ein Film über die Liebe, sagt die Regisseurin über ihr Werk, und sie hofft, dass „Grbavica" für die Gesellschaft Bosnien-Herzegowinas eine kathartische Wirkung haben werde. ,,Grbavica" ist erst der zweite Spielfilm, der in dem jungen Staat entstanden ist, und der Erfolg bei den Internationalen Filmfestspielen hat Sarajewo und das ganze Land in einen Freudentaumel versetzt.

So ist Jasmila Zbanic zuversichtlich, dass ihr Film in Bosnien-Herzegowina und ebenso in anderen Nachfolgestaaten des ehemaligen Jugoslawiens - auch aus Belgrad kam das Signal, den Film aufführen zu wollen - ein breites Publikum findet. Das wäre ein Schritt zur Aufarbeitung und Versöhnung unter den Völkern des westlichen Balkan. Jasmila Zbanic engagiert sich seit Jahren für diese Grenzen überwindende Arbeit in gemeinsamen Projekten mit FilmemacherInnen aus Ost- und Südosteuropa. Und mit Unterstützung der Regisseurin haben „medica zenica" und andere bosnische Frauenorganisationen jetzt am 1. März eine nationale Kampagne gestartet, um Geld für die Unterstützung der überlebenden Frauen einzuwerben und um im Nachkriegs-Bosnien endlich wieder Aufmerksamkeit für dieses Thema zu schaffen.

,,Grbavica" ist nunmehr der vierte Friedensfilmpreisträger, in dem die erst jüngst beendeten Kriege bzw. deren Nachwirkungen im Südosten Europas Thema sind. Die Jury hat einen künstlerisch hervorragenden Film ausgezeichnet, und sie hat mit der Auszeichnung zugleich ein Signal dafür gesetzt, diese Kriege und ihre Folgen nicht zu vergessen, die fortdauernd das Leben und das Lebensglück so vieler Menschen behindern – der vergewaltigten Frauen in Sarajewo und anderswo, und auch das Leben der Kriegsflüchtlinge in unserem Land. Wenn auch Filme die Welt nicht verändern, können sie doch unser Bild von der Welt verändern und unseren Blickwinkel erweitern, wenn sie wie „Grbavica" bislang Unsichtbares sichtbar machen und inzwischen Vergessenes in Erinnerung rufen. Die nach wie vor schwierige materielle·und politische Lage und der noch zerbrechliche Frieden auf dem westlichen Balkan sollten als Aufgabe für die Friedensbewegung präsent bleiben und nicht ganz ins Hintertreffen geraten gegenüber dem notwendigen Engagement gegen die neuen Kriege und Kriegsvorbereitungen. Es bleibt zu wünschen, dass Jasmila Zbanics „Grbavica" in den Balkanstaaten ebenso wie in Deutschland und anderswo ein großes Publikum findet und dass der Film auch viele Mitglieder und FreundInnen der IPPNW ins Kino lockt. ,,Grbavica" läuft unter dem Titel „Esmas Geheimnis" voraussichtlich ab 6. Juli in, den deutschen Kinos an.

Weitere Informationen: http://www.friedensfilm.de,  http://www.medicamondiale.org.

 

 

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Ulla Gorges ist Mitarbeiterin der IPPNW, Internationale Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges, Ärzte in sozialer Verantwortung e.V. Die IPPNW ist seit 1991 Schirmherrin des Friedensfilmpreises.