Die Mission der Friedenstaube

Vor 65 Jahren entstand eines der bekanntesten Lieder der DDR

von Christoph Kuhn

Dieses Lied konnte ich – Ende der fünfziger, Anfang der sechziger Jahre – als christlich erzogenes Kind guten Gewissens mitsingen: Kleine weiße Friedenstaube. Und ich sang es mit klammheimlicher Opposition, denn die Taube fliegt „übers große Wasser“, also über die Ostsee nach Skandinavien oder noch größere Wasser nach Amerika, nach Australien. Den Normalsterblichen im Staat war das, besonders nach 1961, keineswegs vergönnt. Inspiriert vom Vogelflug schrieb ein Mitschüler im Aufsatz mit freiem Thema sinngemäß: Wäre ich eine Taube, käme ich unerschossen über alle Grenzen. Diese Arbeit bekam er niemals zurück.

Die Taube umrundet die Erdkugel, allen Menschen Frieden zu bringen. Es ist keins der ideologischen Lieder mit martialischen Zeilen wie: „Vorwärts an Geschütze und Gewehre (…) Vorwärts Kommunisten, zum Endkampf wir rüsten.“ „Spaniens Himmel breitet seine Sterne über unsern Schützengräben aus (…) bald geht es zum neuen Kampf hinaus.“ Oder: „Auf, auf zum Kampf! / Zum Kampf sind wir geboren! / Auf, auf zum Kampf! / zum Kampf sind wir bereit!“ (Letztgenanntes Lied gibt es seit 1907 in mehreren Varianten, auch in einer für die SA und Wehrmacht!) – Im Repertoire der Pionierlieder stand das Herzerwärmende neben dem Hasserfüllten. Beides erklang aus den Mündern von uns Kindern, deren Großväter, Väter oder Onkel im grässlichsten aller bisherigen Kriege verwundet wurden, ums Leben kamen, vermisst blieben.

1949, vier Jahre nach diesem Krieg, erblickte in Nordhausen die 23-jährige Erika Schirmer  in einem Schaufenster Pablo Picassos Plakat für die Pariser Weltfriedenskonferenz. Es zeigt die Taube mit einem Zweig im Schnabel. Spontan verfasste sie (noch unter ihrem Mädchennamen Mertke) das Lied – vier Strophen Text mit eingängiger Melodie.

Kleine weiße Friedenstaube fand Eingang in viele Gesangbücher der DDR. Wenigstens zwei Generationen in Mittel- und Ostdeutschland lernten das Lied.

Obgleich Picasso wegen seiner „formalistischen Experimente“ von der SED-Kulturpolitik geschmäht wurde, schmückte seine Taube unzählige Wimpel und Fahnen bei allen Pionier- und FDJ-Appellen und -Aufmärschen. Sagte man uns, wer die Taube gezeichnet hatte, wo doch der Künstler in einem Land lebte, das zum kapitalistischen System gehörte? Mag sein. Was wir garantiert nicht erfuhren – jedenfalls nicht in der atheistischen Schule – war der biblische Ursprung vom Bild der Taube. Handelt es sich doch bei dem Zweig in ihrem Schnabel eindeutig um den Ölzweig, der dem Archekapitän Noah das Ende der Sintflut anzeigte: Die Taube als Botin des Friedens zwischen Gott und den Menschen. Nein, dieses Hintergrundwissen wurde nicht vermittelt, galt nicht nur als unnötig – die Religion und die Religiösen waren in der Schule dem Spott ausgesetzt.

In geschlossenen Gesellschaften werden Widersprüche nicht aufgelöst. Die Taube war omnipräsent in Bild und Ton. Und das Lied über sie hat die DDR-Zeit überdauert. Es ging nicht gerade um die Welt, fand aber, auch in andere Sprachen übertragen, seine Nistplätze. So wurde es zum Beispiel von dem kanadischen Liedermacher Perry Friedman (1935 – 1995) gesungen und gehört zum Repertoire von Kinderchören in Finnland, Österreich, Polen. Aktuelle Aufnahmen gibt es auch von der Gruppe Aynil, den Bierpatrioten, von Traumzeit & The Kids (mit zugemischten Kriegsnachrichten), von Kai Dörfel und den Waldspitzbuben – gesungen vor den Niagarafällen.

In meinem Liederbuch der ersten Schuljahre, „Komm, sing mit“, steht nur noch ein zweites Lied der Kindergärtnerin und späteren Lehrerin. Aber bis heute schrieb sie etwa 800, von etlichen Verlagen veröffentlichte Lieder und Gedichte. „Kleine weiße Friedenstaube“ ist ihr erstes und erfolgreichstes Lied. Komponistinnen sind, neben ihren männlichen Kollegen, nicht eben zahlreich. Man denkt an bekannte wie Amalia von Sachsen (1794-1870), Clara Schumann (1819-1896) oder Yoko Ono (geb.1933). Erika Schirmer, vielfach ausgezeichnet und Ehrenbürgerin Nordhausens, gehört dazu. 88-jährig ist sie immer noch aktiv und kreativ: Sie spielt Klavier, Flöte und Gitarre. Wöchentlich druckt die Zeitung ein neues Gedicht von ihr, und jährlich erscheint im Eigenverlag ein Kalender mit Gedichten und Scherenschnitten, die auch immer wieder in Ausstellungen gezeigt werden.

Es soll noch einmal gesagt werden, dass dieses Lied ideologisch unverdächtig ist und wegen allgemeingültiger Aussagen nachhaltig beliebt wurde. Seine Wirkung beruhe auch darauf, dass (wahrscheinlich unbewusst) an religiöse Denkmuster angeknüpft wurde, schreibt Jens Marggraf, Komponist und Professor für Musiktheorie an der Martin-Luther-Universität Halle. Die Taube sei Symbol des Heiligen Geistes, die Bitte „bringe allen Menschen Frieden“ entspräche dem „dona nobis pacem“. Und übrigens enthalte ja auch die Nationalhymne der DDR (im selben Jahr entstanden!) mit dem ersten Wort ihres Textes den christlichen Begriff der Auferstehung.

Die Friedenstaube wäre ideologiefrei geblieben, hätte nicht der Steiermärker Harald Rosenberger heuer, 65 Jahre nach Entstehen des Liedes, weitere Zeilen hinzu gereimt: „Im Schulhof als Kinder standen wir stramm / und sangen das Lied, das ich heute noch kann. / Blau war unser Halstuch und weiß jedes Hemd, / erzogen zum Frieden und keiner war fremd.“

Woher weiß das der Steierbua so genau, rätselt man, bis die Recherche ergibt: Der Senner, Sänger und Philosoph – so die Angaben seiner Homepage – kam 1953 in Leipzig zur Welt und verbrachte dort seine Kindheit und Jugend, bis es ihn nach Österreich verschlug. Dank YouTube kann man sich das antun: Hinterm Ortsschild Straden und aus Kinderhänden fliegen Tauben auf, der Schulchor singt, bis Rosenberger sein Solo beansprucht – mit blauem Halstuch überm gewölbten weißen Hemd – völlig frei von Selbstironie.

Erika Schirmer hat sich vom Inhalt der Zusatzstrophe distanziert. „Keiner stand stramm“, sagt sie. Und ich kann aus Erfahrung hinzufügen, dass man als Nichtpionier ohne blaues Halstuch durchaus „fremd“ war. Vielleicht gehörten ja in Rosenbergers Klasse alle Kinder der Organisation an. Was aber die Erziehung zum Frieden betrifft, müsste er nur mal wieder einen Blick in die Schulbücher von damals werfen: Diverse Bilder und Texte belegen das krasse Gegenteil seiner Aussage.

Kleine weiße Friedenstaube ist ein wirklich gutes Kinderlied. Die Auseinandersetzung damit macht ein weiteres Mal deutlich, wie unterschiedlich die DDR erlebt wurde, wie verschieden die Erinnerungen sind – oder wie verschieden groß auch die Bereitschaft, Erlebtes zu verdrängen und zu verklären.

 

 

Kleine weiße Friedenstaube Songtext

Kleine weiße Friedenstaube, fliege übers Land;
Allen Menschen, groß und kleinen, bist du wohlbekannt.

Du sollst fliegen, Friedenstaube, allen sag es hier,
Dass nie wieder Krieg wir wollen, Frieden wollen wir.

Fliege übers große Wasser, über Berg und Tal;
Bringe allen Menschen Frieden, grüß sie tausendmal.

Und wir wünschen für die Reise Freude und viel Glück,
Kleine weiße Friedenstaube, komm recht bald zurück!

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