Kredite für den Krieg?

Warum Staatsschulden auch für die Friedensbewegung relevant sind

von Elise Kopper
Hintergrund
Hintergrund

Recherchiert man im Archiv des FriedensForums, so findet man durchaus Hinweise darauf, dass Friedensbewegung und Entschuldungsbewegung einmal Hand in Hand gingen. Bei den Protesten rund um den G8-Gipfel 1999 in Köln etwa, als eine Menschenkette aus mehr als 30.000 Menschen rund um die Kölner Innenstadt einen Schuldenerlass für die ärmsten Staaten der Welt forderte. Oder beim Stuttgarter Kirchentag im gleichen Jahr, zu dem Gruppen aus dem Friedens-, Ökologie-, Eine Welt- und kirchlichen Spektrum eine Großdemo zur „Erlassjahr2000“-Kampagne vorbereitet hatten.

Heute ist von dieser gemeinsamen Arbeit nicht mehr viel übrig. Zwar gibt es immer noch v.a. persönliche und lokale Berührungspunkte zwischen Menschen und Gruppen, die sich schwerpunktmäßig für Frieden, und solchen, die sich vor allem für Entschuldung im Globalen Süden einsetzen. Und bestimmt verstehen sich viele „entschuldungsbewegte“ Menschen auch als friedensbewegt und womöglich auch umgekehrt. Aber gemeinsame Aktionen auf bundesweiter Ebene, gemeinsame Aufrufe und Stellungnahmen, einen regelmäßigen Austausch oder eine mehr als punktuelle fachliche Zusammenarbeit über die lokale Ebene hinaus gibt es nach Kenntnis der Autorin nicht.  
Das ist bedauerlich, gibt es doch so viele Schnittstellen und Anknüpfungspunkte zwischen beiden Bewegungen, an denen eine Zusammenarbeit sinnvoll und gewinnbringend für beide Seiten sein könnte.

„Illegitime Schulden“
Ein zentrales Thema dabei könnten die sogenannten „Illegitimen Schulden“ sein. Ein Thema, zu dem das deutsche Entschuldungsbündnis erlassjahr.de, das Anfang der 2000er Jahre aus der groß angelegten Erlassjahr2000-Kampagne hervorging, in der Vergangenheit intensiv gearbeitet hat. Eine fachliche Grundlage dafür bietet das Handbuch „Illegitime Schulden“, das zwar bereits im Jahr 2008 veröffentlicht wurde, das aber im Wesentlichen immer noch Gültigkeit besitzt und das die Autorin allen Leser*innen für einen Einstieg in das Thema wärmstens ans Herz legen möchte. (1) Darin wird zunächst zwischen „illegalen“ und „illegitimen“ Schulden unterschieden. In die erstere Kategorie fallen Schulden, „die gegen geltendes Recht am jeweiligen Gerichtsstand oder gegen Völkerrecht verstoßen, und deshalb anfechtbar sind“. In die zweite Kategorie fallen Schulden, die sich in einem rechtlichen Graubereich befinden. Dazu heißt es: „Diese Zahlungsverpflichtungen sind zwar offensichtlich auf fragwürdige Weise zustande gekommen und ihre Rückzahlung [wäre] ungerecht, aber zum gegenwärtigen Zeitpunkt eben nicht konsequenterweise Unrecht.“ Illegitime Schulden werden im internationalen Kontext auch mit dem Fachbegriff „odious debts“ bezeichnet, der im Deutschen nur ungenau mit den moralischeren Begriffen „verabscheuungswürdig“ oder „anrüchig“ übersetzt werden kann.

Was heißt das nun konkret? Vereinfacht gesagt sind Schulden als „odious debts“ zu klassifizieren, wenn
a)    eine Entscheidung zur Kreditvergabe oder eine anderweitige finanzielle Leistung an einen Staat unter undemokratischen Bedingungen gefällt wurde („fehlende Zustimmung“ des Souveräns, also des Volkes auf Seiten des Schuldners);
b)    die Dinge, die mit Hilfe des Kredits angeschafft oder subventioniert werden, dem Volk nicht nutzen bzw. sich sogar explizit gegen das Wohl des Volkes richten („fehlender Nutzen“);  
c)    der Gläubiger von den oben genannten Umständen Kenntnis haben musste („Mitwisserschaft des Gläubigers“).

Beispiel: DDR-Kriegsschiffe an Indonesien
Ein besonders prägnantes und gerade für die deutsche Friedensbewegung relevantes Beispiel sind die deutschen Forderungen aus dem Verkauf von DDR-Kriegsschiffen an Indonesien. Dieses Beispiel wurde ausführlich in einem Rechtsgutachten des österreichischen Völkerrechtlers August Reinisch und in dem oben genannten Handbuch in einem Beitrag von Hartmut Kowsky beschrieben und sei auch hier kurz skizziert: 1992 exportierte Deutschland 39 Kriegsschiffe aus Beständen der ehemaligen DDR nach Indonesien. Empfänger war der indonesische Diktator General Haji Mohamed Suharto. Zwar ließ sich das deutsche Verteidigungsministerium schriftlich zusichern, dass die Schiffe nur für den Küstenschutz, die Seewegsicherung und die Bekämpfung des Schmuggels zu verwenden seien. Die Realität sah jedoch anders aus. Laut Gutachten gibt es „konkrete Anhaltspunkte dafür, dass die an Indonesien verkauften Kriegsschiffe auch zur Bekämpfung von inneren Unruhen sowie im Ost-Timor-Konflikt eingesetzt worden sind“. (2)

Damit können alle drei Kriterien für die Kategorisierung als „odious debts“ bejaht werden: Da das diktatorische Regime unter Suharto jahrzehntelang primär eigene Interessen verfolgte und demokratische Reformen und Initiativen stets abblockte oder gewaltsam niederschlug, kann allein mangels demokratischer Teilhabe von einer fehlenden Zustimmung des indonesischen Volkes ausgegangen werden. Der Einsatz der Schiffe für Menschenrechtsverletzungen, in dem Fall sogar gegen die eigene Bevölkerung, impliziert nicht nur einen fehlenden Nutzen für das Volk, sondern sogar einen expliziten Schaden. Und von einer als zumindest grob fahrlässig zu bezeichnenden Mitwisserschaft des Gläubigers, in dem Fall der Deutschen Bundesregierung, zum Zeitpunkt der Kreditvergabe muss ebenfalls ausgegangen werden. Wenn man funktionsfähiges militärisches Kriegsgerät an einen Diktator verkauft, der zu diesem Zeitpunkt bereits seit mehr als 20 Jahren im Amt gewesen war und sich in dieser Zeit nicht gerade als Freund von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit hervorgetan hatte, der*die darf sich nicht auf eine vertragliche Vereinbarung verlassen, sondern muss geradezu davon ausgehen, dass diese gebrochen wird.

erlassjahr.de schlug nach Erstellung des Rechtsgutachtens vor, die somit als „odious debts“ klassifizierten, noch ausstehenden Forderungen der Bundesregierung aus dem Verkauf der Schiffe in einen „Versöhnungsfonds“ zur Entschädigung von Opfern der Gewalt und zur Förderung von Projekten des friedlichen Zusammenlebens in Indonesien umzuwandeln. Nach Kenntnis der Autorin hat die Bundesregierung diesen Vorschlag – man kann es sich fast denken – nicht umgesetzt.

Zweifelhafte Rüstungsausgaben
Zweifelhafte Rüstungsausgaben sind jedoch nicht nur im Bereich der illegalen oder illegitimen Schulden, sondern auch allgemein bei der Analyse und politischen Bewertung von kritischer Staatsverschuldung relevant und damit ein Thema, an dem Friedensbewegung und Entschuldungsbewegung ihre Zusammenarbeit wieder aufleben lassen könnten. Als Griechenland in den Jahren 2009/2010 in die Staatspleite geriet, war daran auch der massiv aufgeblähte Militärapparat schuld, der das Land zu diesem Zeitpunkt zu einem der laut SIPRI fünf größten Rüstungsimporteure gemacht hatte und zu dem auch deutsche Rüstungsfirmen gerne beigetragen hatten.

Simbabwe, ein Land, das sich bereits seit vielen Jahren im Zahlungsausfall befindet, hatte in den 1980er/1990er Jahren noch kräftig Rüstungsgüter aus Spanien eingekauft – Forderungen, die bis heute nicht beglichen wurden. Und Sambia, das erst vor wenigen Monaten als erstes Opfer der Corona-bedingten Rezession in die Staatspleite rutschte, hatte 2018 noch neue Militärflugzeuge bestellt – Zahlungen, die das Land nun nicht mehr bedienen kann.
Vor diesem Hintergrund könnte es sich lohnen, die umfangreichen Datenbanken der Entschuldungsbewegung mit den nicht minder umfangreichen Datenbanken der Friedensbewegung abzugleichen und dort womöglich beeindruckende Zusammenhänge zwischen Staatsverschuldung und Rüstungsausgaben für einzelne Länder und Regionen zu analysieren und politisch nutzbar zu machen.

Nachhaltige Entwicklungsziele verfolgen
Ein weiterer Ansatzpunkt für gemeinsame Aktionen oder Arbeiten wären die Nachhaltigen Entwicklungsziele („Sustainable Development Goals“, SDGs). Eine sogenannte „kritische Staatsverschuldung“, also eine Situation, in der die Verhältnisse von öffentlichen Schulden, Auslandsschuldenstand und Schuldendienst zu Bruttoinlandsprodukt, Staatseinnahmen und Exporteinnahmen aus der Waage geraten, stellt einen Staat vor enorme ökonomische Herausforderungen. Wenn zu viel Geld in den jährlichen Schuldendienst, also in Zins- und Tilgungszahlungen fließt, müssen Staaten etwa in den Bereichen Gesundheit, Bildung und Soziales drastisch kürzen und werden zum Teil von den internationalen Gläubigern auch dazu gezwungen – mit unmittelbar spürbaren Auswirkungen auf die Lebenssituation der Menschen vor Ort. Auch innergesellschaftliche Konflikte können durch die wachsende Armut und ökonomische Unsicherheit geschürt werden. Es gibt Studien, die darauf hinweisen, dass Kreditprogramme des Internationalen Währungsfonds (IWF) und vor allem die einhergehenden Programmbedingungen indirekt einen Beitrag zu Konflikten geleistet haben, sowie Untersuchungen, die die Rolle von Staatsschuldenkrisen als Bedrohung für den innergesellschaftlichen und außenpolitischen Frieden näher beleuchten. (3) Die Erreichung der Nachhaltigen Entwicklungsziele, unter ihnen das Friedens-Ziel 16, rückt damit in weite Ferne.

Neben den oben erwähnten gibt es sicher noch diverse weitere Fragen und Ansatzpunkte, bei denen sich ein neuer Schulterschluss zwischen Entschuldungs- und Friedensbewegung lohnen würde. Wer Lust hat, die Themen Konflikt und Frieden im Zusammenhang mit kritischer Staatsverschuldung weiter- und gemeinsam zu denken, der*die melde sich gerne bei der Autorin.

Anmerkungen
1 Zu beziehen ist die gedruckte Broschüre neben vielen weiteren Publikationen im erlassjahr.de-Shop unter https://erlassjahr.de/materialien/ oder als kostenloses PDF unter https://erlassjahr.de/wordpress/wp-content/uploads/2016/03/2008-Illegiti....
2 Ausführlicher dazu auch Thomas Klein im FriedensForum 3/2003: „Ex-NVA-Schiffe bei indonesischer Militäroffensive im Einsatz“, https://www.friedenskooperative.de/friedensforum/artikel/ex-nva-schiffe-....
3 Siehe etwa die Studie „Sovereign Debt Crises as Threats to the Peace: Restructuring under Chapter VII of the UN Charter?“ von Matthias Goldmann (2012), https://www.gojil.eu/issues/41/41_article_goldmann.pdf.

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Mitglied des Vorstands im Bund für Soziale Verteidigung e.V., Geschäftsführerin beim Frauennetzwerk für Frieden e.V. und Referentin für Bildungs- und Öffentlichkeitsarbeit bei erlassjahr.de - Entwicklung braucht Entschuldung e.V.