Volle Teilhabe

Was kann Flüchtlingssolidarität heute sein?

von Johanna Wintermantel

Die steigende Zahl der Menschen, die in die Bundesrepublik flüchten, die gewaltsamen Angriffe auf sie und die verschärfte Asylgesetzgebung stellen die antirassistische Bewegung vor immense Herausforderungen. Und plötzlich ist da überall dieser große Trend, „Flüchtlinge willkommen zu heißen“ und „ihnen zu helfen“. Die Situation der Geflüchteten ist kein Randthema mehr, sondern mobilisiert zahlreiche Menschen für und gegen sie. Wie genau positioniert sich nun die antirassistische Bewegung? Und wo bleiben dabei die Geflüchteten selbst?

 

Auf der Suche nach einem Kriterium für eine aktuelle Flüchtlingssolidarität erweist sich der Begriff des Politischen als zentral. Auf einer einfachen Ebene wird er häufig zur gegenseitigen Abgrenzung verwendet: Das „ehrenamtliche“ Personal einer Kleiderkammer legt ebenso großen Wert auf sein „unpolitisches“ Engagement wie dessen KritikerInnen auf den „politischen“ Charakter ihrer eigenen Initiative.

Weiterführend ist Hannah Arendts politisches Denken und ihre Analyse des Zusammenhangs zwischen politischen Rechten und Menschenrechten. Die Menschenrechte versagen ihr zufolge genau dann, wenn sie am meisten gebraucht werden: wenn Menschen aus nationalstaatlichen Bezügen herausfallen und damit nicht durch die Staatsbürgerrechte geschützt sind. Umgeben von einem nationalstaatlichen System ist der Mensch ohne Pass, der Mensch der Menschenrechte, nur nacktes Leben. Was es dagegen braucht, ist ein ganz anderes politisches System, in dem jeder Mensch das Recht hat, Rechte zu haben, also Teil eines politischen Kollektivs zu sein, das Menschenrechte garantiert. Das ist auf nationaler Basis unmöglich, wo die Staatszugehörigkeit den Ausschlag gibt. Arendt definiert dagegen einen politischen Raum, der durch das freie, gemeinsame Handeln Gleicher gebildet wird.

Demnach ist es eine wichtige Aufgabe für UnterstützerInnen – die mit ihrem deutschen Pass besser agieren können –, die Voraussetzungen für die politische Teilhabe Geflüchteter zu schaffen. Die Auseinandersetzungen um die alltäglichen Lebensnotwendigkeiten wären hier von dem Ziel geleitet, zu fördern, dass die Geflüchteten überhaupt erst frei handeln können. Wer erlebt hat, wie lähmend sich die akute Angst vor Abschiebung oder der Stress der Massenunterbringung auswirkt, kann dies bestätigen.

 

Politisch oder unpolitisch?

Die viel beschworene unpolitische, karitative Hilfe sucht nicht die Öffentlichkeit, sie muss nicht reflektiert oder nachhaltig sein, sie ist ein Akt der Menschlichkeit. Allein: Sie ist ein rares Phänomen. Denn unpolitisch zu helfen hieße, auf konkrete Bedürfnisse konkreter Personen zu reagieren, ohne sie sozial und politisch zu klassifizieren. Ob eine Person Geld braucht, weil sie geflohen ist oder weil sie ihr eigenes verspielt hat, oder ob sie aus wirtschaftlichen oder politischen Gründen geflohen ist, interessiert hier nicht, wo Hilfe sich ans Gegenüber einfach an die Person als Mensch richtet.

Hilfe für Flüchtlinge als ganze Großgruppe dagegen kann nicht unpolitisch sein, auch wenn sie sich so versteht. Schon wenn bestimmte Menschen kollektiv als Kategorie wahrgenommen und behandelt werden, ist das ein politischer Akt. Zudem ist die Selbstbeschreibung als „unpolitisch“ paradox, insofern sie sich gegen „politische“ Ansätze positioniert, die implizit gleichgesetzt werden mit Kritik an staatlichen Regelungen. „Unpolitisch“ heißt dann, auf eine solche Kritik zu verzichten, sich also (politisch) affirmativ zu positionieren. Das bedeutet, dass die Notlage der geflüchteten Menschen nicht als Ergebnis staatlicher Beschränkungen begriffen, sondern als Eigenschaft der Betroffenen naturalisiert wird. Flüchtlinge erscheinen somit per se als bedürftig. Entsprechend sind sie das Objekt des Engagements, und die staatlichen Restriktionen, die sie in ihre Situation bringen, geraten aus dem Blick. Erst recht werden die Geflüchteten nicht als mit-handelnde Subjekte verstanden. Eine unpolitische Intention ist so gesehen nur anders politisch.

Eine „unpolitische Hilfe“, die nach dieser Logik funktioniert, legitimiert den aktuell ständig verschärften Ausnahmezustand für geflüchtete Menschen, in dem sie mit Sondergesetzen sortiert, kontrolliert und isoliert werden, schlicht weil sie keine StaatsbürgerInnen sind. Die Kasernierung in Massenunterkünften gilt dann als unterstützenswerte „Erstaufnahme“, die Verteilung fehlender Verbrauchsgüter als gnädige Wohltat, „Integration“ in die hiesige (Arbeits-)Gesellschaft ersetzt den Umgang auf Augenhöhe, die Kategorie »Flüchtlinge« wird bereitwillig ausdifferenziert in erwünschte und unerwünschte. Letzteren werden etwa Spenden versagt; ihre Abschiebung wird sowieso als Fakt hingenommen. Die kritiklose Kooperation mit der Verwaltung dieser Zustände kommt einer Zustimmung gleich. Ein Handeln gegen die Verwaltungslogik wird inzwischen durch behördliche „Koordination“ ehrenamtlicher Arbeit und teils durch Ehrenamtlichenverträge ausgeschlossen.

 

Dilemmata der Unterstützung

Im Gegensatz zu dieser affirmativen »Hilfe« steht eine kritische, solidarische Unterstützung. Sie muss sich fragen, was Geflüchteten – in ihrer Verschiedenheit – wirklich nützt. Es gilt, die Notlage als Ergebnis staatlichen Handelns zu analysieren und dagegen anzugehen. Es gilt, die Hürden abzubauen, die Geflüchteten als Non-Citizens die politische Teilhabe und volle Menschenrechte vorenthalten. Das birgt Fallstricke. So beklagen Flüchtlingsselbstorganisationen, dass viele kulturelle Projekte, die – gut gemeint – die Gesellschaft sensibilisieren wollen, tatsächlich wenig ändern und Flüchtlinge als angesagtes Thema funktionalisieren.

Wer sichergehen will, die rassistischen Strukturen wirklich zu stören, kann an bestimmten Punkten ansetzen – wesentlich da, wo es praktisch um den Aufenthalt auf deutschem Boden geht. Menschen zu helfen, ins Land zu kommen, und Menschen zu helfen, nicht abgeschoben zu werden, ist im Kodex der ehrenamtlichen Hilfe nicht vorgesehen, obwohl es doch das fundamentale Problem aller Menschen auf der Flucht ist. Damit ist ein erstes Kriterium für eine kritische Unterstützung, dass sie nicht mit der Abschiebung aufhört, sondern eher gerade dort ansetzt; dasselbe gilt für die Fluchthilfe.

In der konkreten Praxis wird es komplizierter. So tun sich im direkten Kontakt mit abschiebungsbedrohten Menschen alltägliche Probleme auf. Es fehlt strukturell an allem, vom Trinkwasser bis zu den Babywindeln. Hier wird in flüchtlingssolidarischen Zusammenhängen immer wieder angemahnt, den Sozialstaat in die Pflicht zu nehmen. Allerdings wird er dann auch in seiner Kontrollfunktion gestärkt – wer alle Lebensnotwendigkeiten stellt, hat auch die Macht zu bestimmen, dass Menschen monatelang in Turnhallen leben müssen. Der gegenteilige Weg, unabhängige, autonome Strukturen für die materiellen Bedürfnisse von Geflüchteten aufzubauen, birgt die Gefahr der Überlastung und Entpolitisierung. Und wenn die staatliche nur durch eine private Abhängigkeit für die Geflüchteten ersetzt würde, wären sie weiter Objekte von Hilfe. Da ist die Differenz zum vermeintlich unpolitischen Ehrenamt nicht allzu groß.

Wenn antirassistische Initiativen diesem Dilemma ganz entgehen wollen und sich auf rein politische Aktionsformen beschränken, droht eine zu große Distanz zu den betroffenen Personen. Dabei werden diese homogenisiert und/oder idealisiert oder es wird schlicht an ihren Bedürfnissen vorbeigezielt. Auch radikale Positionen können danebenliegen, wenn sie nicht mit den Betroffenen abgestimmt sind. Dann besteht auch hier die Gefahr, paternalistisch für Flüchtlinge zu sprechen. Kein Wunder, wenn Refugees nicht immer motiviert sind, an Demonstrationen teilzunehmen, die sie nicht mitorganisieren konnten und deren Ziele sie nicht teilen oder nicht für realistisch halten.

 

Raum der Selbstorganisation

Dagegen hilft erneut Hannah Arendts Begriff des Politischen. Um politisch zu handeln, braucht es neben dem Abbau der Hürden für die geflüchteten Menschen ein zweites: die positiven Voraussetzungen für politische Teilhabe. Damit ist nicht lediglich die Teilhabe an den ausschließenden repräsentativen Demokratien der Nationalstaaten gemeint, sondern diejenige in Arendts Sinn, die basisdemokratisch durch gemeinsames Handeln entsteht: Selbstorganisation.

Rex Osa vom The Voice Refugee Forum schlägt dazu vor, dass UnterstützerInnen Räume zur Verfügung stellen und Kontakte zwischen Flüchtlingen fördern. Das wären praktische Schritte zur Selbstorganisation der Geflüchteten. Ein zusätzlicher Schritt wäre das gemeinsame Handeln von Menschen mit und ohne Fluchterfahrung. Doch damit sie als Gleiche zusammen handeln können, kann es nicht nur um die Anliegen der Geflüchteten allein gehen. Es gibt genug gemeinsame Themen wie Arbeitsbedingungen, Wohnraum oder die Frage, in was für einer Gesellschaft wir leben wollen und wie wir sie organisieren können – angefangen von den Organisationsstrukturen in der eigenen Initiative. Wenn solche Fragen mit Geflüchteten gemeinsam verhandelt werden, statt sie vorauszusetzen, dann entsteht ein politischer Raum, in dem es sich für Menschenrechte kämpfen lässt.

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