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Wehrpflicht im juristischen Fadenkreuz

von Ralf Siemens

Struck macht ernst. Während seine Amtsvorgänger den Umbau der Bundeswehr zur Interventionsfähigkeit mit gebremsten Zügeln einleiteten, fällt Struck in den Schweinsgalopp. Nicht mehr Reform, sondern "Transformation" wird von offizieller Seite der Prozess, der die Bundeswehr zur uneingeschränkten, weltweiten Angriffsfähigkeit verleiten soll, genannt. Die gesamte Bundeswehr, und eben nicht nur ein Teil, soll für Auslandseinsätze aufgerüstet werden. Ihr Umfang wird um 20.000 auf 250.000 SoldatInnen reduziert, beim Grundwehrdienst von neun Monaten soll es bleiben.

Das Verteidigungsministerium hat sich längst schon von der "allgemeinen Wehr-pflicht" verabschiedet und baut den Anteil von Zwangsdienern in der Truppe kontinuierlich ab. Bei Jahrgangsstärken von durchschnittlich über 400.000 Wehrpflichtigen hat sich die Anzahl der Einberufungen zum Wehrdienst bereits innerhalb der letzten Jahre halbiert. In diesem Jahr sollen noch 80.000 Einberufungen vorgenommen werden, ab 2007 nur noch 58.000. Ein Verstoß gegen das Verfassungsgebot der "Wehrgerechtigkeit" liegt dabei auf der Hand.

Folgerichtig erging am 21. April erstmalig in der Geschichte der BRD ein Urteil eines Verwaltungsgerichtes, das die Wehrpflichtdurchführung in Frage stellt: "Die neue Einberufungspraxis lässt die Wehrgerechtigkeit in derart eindeutiger Weise vermissen, dass die Auswahl gerade des Klägers zur Ableistung des Wehrdienstes sich als ohne sachlich gerechtfertigten Grund darstellt und damit willkürlich ist." Das Gericht gab der Klage des 21-Jährigen statt und hob den Einberufungsbescheid auf. In ihrem Urteil führen die Kölner Richter aus, dass auf Grund der seit Juli 2003 geltenden Einberufungsrichtlinien mit ihren weitreichenden Freistellungsregelungen und auf Grund der vom Verteidigungsministerium im Verfahren eingeräumten Tatsache, dass nur noch weniger als die Hälfte der Einberufbaren auch tatsächlich einberufen werden, die Wehrpflichtpraxis nicht mehr verfassungskonform sei. Struck persönlich hat angekündigt, in Revision zu gehen.

Das Gericht blieb bei seiner Rechtsauffassung, die es seit Dezember 2003 in Eilbe-schlüssen, in denen es die aufschiebendeWirkung von Widersprüchen gegen Einberufungsbescheide anordnete, getroffen hatte. Soweit bekannt, haben bisher sechs andere Verwaltungsgerichte die Klagen von Wehrpflichtigen abgewiesen. Zwar üben auch sie Kritik an der Wehrpflichtpraxis, argumentieren aber, dass das öffentliche Interesse am Vollzug der Wehrpflicht größer sei als das Einzelinteresse des Wehrpflichtigen. Außerdem gebe es kein Recht auf fehlerfreie Ermessensausübung. Mit anderen Worten: Wenn die Einberufungsbehörde nach dem Zufallsprinzip Person X einberuft, kann X nicht dagegen vorgehen, nur weil Personen Y und Z nicht einberufen werden. Es gäbe "keinen Anspruch auf Gleichheit im Unrecht". Mit dieser Rechtsauffassung werden einmal mehr die individuellen Rechte der Betroffenen grundsätzlich dem Obrigkeitsstaat untergeordnet.

Dass das Bundesverwaltungsgericht noch in diesem Jahr verhandeln wird, ist nicht ausgeschlossen. Es besteht Eilbedürftigkeit, weil auch die absurde Situationeingetreten ist, dass nunmehr eine neue Kategorie der Wehrungerechtigkeit hinzugekommen ist: der Wohnort. Wehrpflichtige im Kölner Gerichtsbezirk (Bonn, Köln, Leverkusen und vier Kreise) können sich erfolgreich gegen ihre Einberufung wehren, andere müssten erst noch "ihre" Verwaltungsgerichte überzeugen.

Die Wehrpflicht wackelt, daran besteht kein Zweifel. Aber auf die juristische Abschaffung zu vertrauen, wäre falsch. Wehrpflicht, dies hat das Bundesverfassungsgericht bei seiner Entscheidung im Jahr 2002 deutlich gemacht, ist Teil der "Staatsräson" und entziehe sich deshalb einer rechtsstaatlichen Überprüfung. Deshalb gilt es, den politischen Druck auf die Entscheidungsträger zu erhöhen. Bereits zweimal hat es Struck unterlassen, seinen Wehrpflichtkurs durch seine Partei bestätigen zu lassen, weil er sich der Zustimmung innerhalb der SPD nicht mehr sicher sein kann, und auch innerhalb der CDU treten erste Erosionserscheinungen auf.

Druck ist auch deshalb nötig, weil im Zusammenhang mit dem möglich erscheinenden Ausstieg aus der Wehrpflicht eine typisch deutsche Forderung nach einer allgemeinen Dienstpflicht auftaucht. Ein neuer Dienst, ökonomisch überaus unsinnig, würde grundsätzlich gegen Verfassungsnormen sowie gegen internationale Verträge (beispielsweise die Europäische Menschenrechtskonvention) verstoßen.

Vom Verbot der Zwangsdienste ausgenommen sind ausdrücklich "Dienstleistungen militärischer Art". Und in diese Lücke ist Innenminister Otto Schily gestoßen: "Es geht ... nicht mehr allein darum, das Vaterland mit der Waffe in der Hand zu verteidigen, sondern ihm anderweitig zu dienen. (...) Deshalb müssen wir auch unsere Abwehrkräfte stärken. Und dazu gehört, dass wir ein Abwehrbewusstsein in der deutschen Bevölkerung schaffen und für mögliche Notlagen ein Reservoir an Helfern haben. Da könnte ein Pflichtjahr (...) helfen." War es in den 1970er Jahren das Feindbild einer omnipotenten RAF, das zum Abbau demokratischer Rechte und zur Aufrüstung im Inneren führte, dient der "internationale Terrorismus" heute als Vorwand, die Bundeswehr zur Angriffsarmee zu formen und die "Wehrkraft des deutschen Volkes" zu mobilisieren.

Wer die massiven Einschränkungen und Verletzungen von Menschenrechten, die mit Zwangsdiensten verbunden sind, wer eine geistige Wehr-Mobilisierung der Nation fordert oder akzeptiert, der bereitet nicht den Frieden, sondern den Krieg vor.Deshalb ist das Engagement gegen die Wehrpflicht und gegen drohende Zwangsdienste weiterhin zwingend notwendig.

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Ralf Siemens ist Mitarbeiter der Arbeitsstelle Frieden und Abrüstung in Berlin. http://www.asfrab.de