Nicaragua

Wer würde dort noch von Frieden und Gerechtigkeit zu träumen wagen?

von Sabine Broscheit
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Als in Nicaragua die Revolutionsregierung der Frente Sandinista de Liberacion Nacional (FSLN) 1990 die Wahlen an Violeta Chamorro, Präsidentschaftskandidatin des konservativen Parteibündnisses U.N.O., verlor, hofften viele NicaraguanerInnen, dass der zehn Jahre lang im Land wütende und von den USA finanzierte Krieg der sog. Contra schnell beendet sein würde und Nicaragua eine rasche wirtschaftliche Erholung erführe. Ersteres geschah, letzteres blieb mit den nicht eingelösten Versprechen grosszügiger Finanzhilfen von Seiten der westlichen Industrienationen aus. Mit dem Wegfall des Ost-West-Konflikts wurde Nicaragua - neben vielen anderen Ländern in der sog. Dritten Welt - zu einem strategisch und wirtschaftlich unbedeutendem Fleckchen Erde. Seit dem Ende der sandinistischen Revolution sind mehr als 19 Jahre vergangen. Was ist geblieben von den Errungenschaften der SandinistInnen, die 1979 den Diktator Somoza und seine Schergen in einem Volksaufstand entmachten und aus dem Land vertreiben konnten?

Nicaragua vom Internationalen Währungsfonds erdrückt
Als die SandinistInnen 1990 die Parlaments- und Präsidentschaftswahlen verloren, übernahm sehr rasch der Internationalen Währungsfonds (IWF) das Ruder der nicaraguanischen Wirtschafts- und Sozialpolitik. Dem Land wurde ein Strukturanpassungsprogramm (ESAF I und II genannt) aufgedrückt, das weitreichende Kürzungen im Staatshaushalt vorsah. Ein Abbau des staatlichen Gesundheitssystems, drastische Kürzungen im Erziehungssektor, Einführung von Schulgebühren und Entlassungen von zwei Drittel der im Öffentlichen Dienst Beschäftigten sowie Einfrieren der Gehälter waren die Folge. Die Staatsbetriebe und das Bankwesen wurden privatisiert und der Aussenhandel durch Wegfall von Zollschranken liberalisiert. Nicht lange ist es her, da war Nicaragua das Beispielland der 80er-Jahre-Solidaritätsbewegung. Schulen und Gesundheitsversorgung waren kostenlos für jede Nicaraguanerin und jeden Nicaraguaner. Die Mütter- und Kindersterblichkeit war geringer als die vieler Nachbarländer. In sogenannten Alphabetiesierungskreuzzügen wurden sogar alten Menschen in entlegenen Dörfern das Lesen und Schreiben beigebracht. Heute ist Nicaragua nach Haiti das ärmste Land Lateinamerikas. Die Arbeitslosenrate beträgt 60 Prozent, auf dem Lande liegt sie bei 80, in den Autonomen Regionen der Atlantikküste bei 90 Prozent. Laut den Vereinten Nationen leben 75 Prozent der NicaraguanerInnen in Armut, davon 44 Prozent in extremer Armut. Die Wohnbedingungen in den Städten sind prekär wie nie zuvor. Auf dem Land hungern die Menschen nach zu langen Trockenperioden oder immer wiederkehrenden Regenkatastrophen. Die Rate der AnalphabetInnen steigt - genau so wie Kinderprostitution, Kriminalität und Gewalt im allgemeinen, gegenüber Frauen im besonderen. Soziale Konflikte verschärfen sich; die neoliberale Regierung des Arnoldo Aleman, seit 1997 im Amt, reagiert mit Gewalt: Mit Polizeigewalt liess sie Hunderte von Kindern von Managuas Strassenkreuzungen, an denen diese mit diversen Tätigkeiten ihren Lebensunterhalt verdienen, vertreiben und droht den Eltern von arbeitenden Kindern, ihnen das Sorgerecht zu entziehen. Sozialen Protest versucht sie mit Polizeiprügel zu ersticken.

Frieden ist mehr als die Abwesenheit von Krieg
Als die Contra nach dem Wahlsieg von Violeta Chamorro mehrheitlich ihre Waffen niederlegte und eine grosse Anzahl von Angehörigen der sandinistischen Armee entlassen wurden, war ihnen in einer Art "Versöhnungsprogramm" versprochen worden, ihnen ökonomische und organisatorische Unterstützung bei der Wiedereingliederung ins zivile Leben zukommen zu lassen. Aber wie so viele Versprechen wurde auch dieses nicht eingelöst. Da viele Demobilisierte der Contra und der Armee ohne Entschädigungen blieben und ihnen eine ökonomische Lebensgrundlage fehlt, haben sich diese wiederbewaffnet und schüchtern mit ihren gewalttätigen Aktionen die Bevölkerung ein. Sie holen sich, was sie zum Leben brauchten. Als sog. Recontras und Recompas verunsichern diese bewaffneten Banden seither v.a. entlegene Gebiete im Nordosten Nicaraguas. Die Regierung lehnt Gespräche mit diesen Gruppen ab und zieht eine militärische Lösung des Problems vor. Seit Mitte Juli etwa versucht das Militär, die bewaffneten Banden mit Spezialeinheiten zu bekämpfen.

Gerechtigkeit oder: das Land denen, die es bebauen
Mehr als 60.000 Familien wurden zwischen 1979 und 1989 von der sandinistischen Agrarreform in Nicaragua begünstigt. 11.000 kamen hinzu, die 1990 noch kurz vor Amtsantritt der Regierung Violeta Chamorros Häuser erhielten, über 90.000 bekamen Land. Keine andere Regierung in Zentralamerika hat je daran gedacht, ähnlich tiefgreifende Veränderungen zu vollziehen, um das Prinzip der gerechten Verteilung des in wenigen Händen konzentrierten Reichtums zu verwirklichen. Nach dem Wahlsieg von Präsidentin Violeta Chamorro machten die vormaligen Besitzer aus der Zeit der Diktatur, auch jene, die von den SandinistInnen aufgrund ihrer Beziehungen zur Somoza-Diktatur enteignet worden waren, ihre alten Ansprüche geltend und forderten ihren Besitz zurück. Betroffen waren davon all jene, die durch die sandinistische Agrarreform Land erhalten hatten, sowie jene, denen noch 1990 nach der Wahlniederlage der FSLN Häuser oder Grundstücke überschrieben worden waren. Als skandalös wurde dabei vielfach empfunden, dass sich die sandinistischen Funktionäre selbst das eine oder andere Gut angeeignet hatten. Die Alteigentümer sahen darin eine Chance und forderten, gleich die gesamte Agrarreform rückgängig zu machen. Dabei war die überwiegende Zahl der Liegenschaften in der sandinistischen Regierungszeit an Kleinbauern und Kooperativen übertragen worden. Auf mehr als 170.000 von der Revolution begünstigte Familien kommen um die 5.000 Personen, die "ihr" Eigentum zurückverlangen oder eine Entschädigung fordern. Das ergibt ein Verhältnis von 34 : 1. Tatkräftig unterstützt wird die Vereinigung der Konfiszierten seither von US-Senator Jesse Helms. Der verlangt, dass die Ansprüche von US-BürgerInnen (ehem. Nicas) hinsichtlich konfiszierten Eigentums geltend gemacht werden müssten (ungeachtet der Tatsache, dass diese die US-Staatsbürgerschaft erst Jahre nach der Konfiszierung erhielten). Verschärft hat sich der Landkonflikt in Nicaragua seit Arnoldo Aleman von der rechtsgerichteten Alianza Liberal seit Januar 1997 die Regierungsgeschäfte führt. Selbst Familienangehörige des Diktators sind nach Nicaragua zurückgekehrt, um Landansprüche geltend zu machen.

Die prekäre Lage der Demobilisierten des sandinistischen Heeres und der Contra wird sich verschärfen. Die Existenzgrundlage Tausender von Campesinos bleibt durch die Verweigerung von technischer Assistenz, der völligen Kreditblockade und den anhaltenden Eigentumkonflikten bedroht. Ansätze für ein "Überleben auf dem Lande" und einen "Sozialen Frieden in den Städten" sind nicht in Sicht.

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Sabine Broscheit ist Nicaraguareferentin bei der Christlichen Initiative Romero e.V. (CIR) in Münster