Erfahrungen aus den bisherigen Friedensbewegungen seit den Achtzigerjahren

Wie kann Antimilitarismus neue kulturelle Hegemonie erringen?

von Lou Marin
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Seit dem aggressiven militärischen Angriff der russischen Armee des Diktators Putin und dem in allen bürgerlichen Medien resolut unterstützten Verteidigungskrieg der Ukraine gilt Pazifismus quasi als neuer propagandistischer Hauptfeind. (1) Was Anfang der 1980er-Jahre noch mit dem diffamierenden Kommentar „Geht doch nach drüben!“ belegt wurde, gilt heute als ausgemachter Quatsch: „Putin ist doch der Aggressor, da kann man doch nicht nichts tun!“ – als wäre es je darum gegangen, nichts gegen den russischen Angriffskrieg zu tun.

Das war nicht immer so: Gemäß dem von Gramsci entlehnten Begriff kann auf die Friedensbewegung der 1980er-Jahre so zurückgeblickt werden, dass eine lang andauernde „kulturelle Hegemonie“ von Antikriegs-Positionen entstanden ist: Die Kriegsdienstpflicht (euphemistisch: Wehrpflicht) wurde abgeschafft, der Rüstungsetat sank (wenn auch auf hohem Niveau), und das Material der Bundeswehr verschliss angeblich (die Rede war sogar von „kaputtgespart“). Doch nun sollen das 100-Milliarden-Paket und die Lieferung schwerer Waffen eine militärpolitische Kehrtwende herbeiführen.

Die kulturelle Hegemonie der Friedensbewegung der 1980er Jahre
Wie aber kam es zu dieser kulturellen Hegemonie der 1980er-Friedensbewegung? Zunächst war der Kristallisationspunkt ein anderer als ein konventionell geführter Krieg: Der NATO-Nachrüstungsbeschluss von 1979 führte dazu, dass die Friedensbewegung als eine „Anti-Atomraketen-Bewegung“ entstand. Das prägte auch die organisatorische Struktur der neuen Friedensbewegung: Sie war zentralisiert. Zwar baute sie auf örtlichen Strukturen von „Friedenswochen“ (Aktion Sühnezeichen) auf, orientierte aber von Anfang an auf zentrale Großdemonstrationen. Der „Krefelder Appell“ und damit eine Politik der DKP-nahen Verbände legte den Stil fest. Durch die Großdemonstration in Bonn 1980 wich die anfängliche Skepsis der bürgerlichen Massenmedien („holländische Krankheit“). Zunächst wurden auch gewaltfreie Aktionen von den Führungspersonen der Friedensverbände eher abgelehnt; noch die einwöchige Blockadeaktion in Großengstingen 1982 (2) wurde von den gewaltfreien Aktionsgruppen gegen die Verbände organisiert.

„Diese Aktion brach allerdings auch das Eis: Gewaltlose Blockaden wurden (...) eine verbreitete Handlungsmöglichkeit, wobei allerdings die Radikalität zunehmend dem Nur-Symbolischen weichen sollte. Die Festlegung der ‚neuen Friedensbewegung’ auf einen Minimalkonsens, der einzig und allein die Ablehnung der NATO-Nachrüstung zum Gegenstand hatte und alle weitergehenden Fragen (...) ausgrenzte, gab der neuen Friedensbewegung einen verwaltenden Charakter. Ein zentraler Koordinationsausschuss (...) übernahm die Steuerung der Aktivitäten. Es erfolgte eine Mobilisierung von oben, (...) die mit der Versicherung endete, (...) man stehe gemeinsam ‚auf dem Boden der Verfassung’.“ (3)

Zwar organisierte sich ein „Bündnis unabhängiger Friedensgruppen“ (BUF) der Anhänger*innen des Zivilen Ungehorsams, das durch aufwendige Gremienarbeit radikalere Forderungen in die offizielle Friedensbewegung einbringen konnte. Daraus entstanden unversöhnlicher auftretende Blockaden wie etwa in Bremerhaven und später die Manöverstörungen im „Fulda Gap“. Aber die Atom-Orientierung der Friedensbewegung wurde damit nicht wesentlich verändert, und nach dem INF-Vertrag von Washington Ende 1987 kam es zu Krise und zeitweiliger Auflösung der Friedensbewegung, bis auf die ohnehin langjährig Aktiven, weil die unmittelbare atomare Kriegsgefahr gebannt schien. (4)

Anti-Golfkriegs-Bewegungen: Umstellung auf Widerstand gegen reale, konventionelle Kriege
Der erhoffte Wechsel zum massenhaften Widerstand gegen konventionelle Kriege fand statt im Rahmen der Golfkriege der von den Bush-Regierungen geführten „Koalition der Willigen“ außerhalb des Völkerrechts, beginnend mit dem so genannten Zweiten Golfkrieg 1991. Die langjährig aktiven kleineren gewaltfreien und antimilitaristischen Gruppen stellten sich bereits der US-Truppenverlegung aus der BRD in die Golfregion 1990 durch Blockaden auf der Schiene und den Straßen entgegen und riefen US-Soldat*innen zur Kriegsdienstverweigerung oder zu AWOL (Absence without leave) gegen diesen Krieg auf. Daraus entwickelte sich direkt zu Kriegsbeginn am 16. Januar 1991 eine „bewegungsauslösende“ direkte gewaltfreie Aktion, nämlich die Demo-Blockade der US-Airbase in Frankfurt. Sie war mit rund 10.000 Teilnehmenden an der Demo und Hunderten von Blockierer*innen bei der ganztägigen Blockade ein medial unübersehbarer Erfolg und entscheidend für die nachfolgende Anti-Golfkriegs-Massenbewegung.

Weil diese Aktion noch aus dem Fundus der kulturellen Hegemonie schöpfen konnte, war es der Bewegung auch möglich, der gegen sie entstehenden Strömung der so genannten „Anti-Deutschen“ zu widerstehen, die gegen Antikriegsdemonstrationen mit ostentativem Schwenken von Pro-Israel- und Pro-US-Flaggen demonstrierten, ihr pauschal Anti-Israelismus und Anti-Amerikanismus vorwarfen und solche Demos örtlich sogar physisch angriffen. (5)

Dass es damals noch einfacher war, eine Massenbewegung gegen einen klar als imperialistisch erkennbaren und kritisierbaren Krieg („Kein Blut für Öl!“) zu schaffen, zeigte dann der Ex-Jugoslawienkrieg mit seinen zunehmenden Bundeswehreinsätzen im Laufe der Neunzigerjahre, bis hin zur völkerrechtswidrigen Bombardierung Serbiens 1999. So entstanden dort kein massenhafter antimilitaristischer Widerstand, sondern Initiativen wie das von wenigen Gruppen getragene transnationale Netzwerk zur Unterstützung flüchtender Kriegsdienstverweigerer („KDV im Krieg“) aus allen kriegführenden Balkanländern und die internationale Unterstützung der Antikriegspositionen der „Frauen in Schwarz“ in Belgrad.

Die Friedensbewegung erlebte zu Beginn des neuen Jahrtausends und nach dem 9.11.2001 erneut eine Krise, als sich die Schröder-Fischer-Regierung am US-geführten Krieg in Afghanistan beteiligte und dann glaubte, sie könnte dies gegenüber ihrem Verhältnis zur USA als Legitimation benutzen, um nicht am Dritten Golfkrieg, dem Irakkrieg ab 2003, mitzumachen, wenngleich Waffenlieferungen und Finanzzahlungen an die USA die dortige Empörung über den angeblich unverlässlichen Bündnispartner dämpften. Gegen den Irakkrieg ab 2003 entstand jedoch eine weltweite Antikriegsbewegung, an der sich dann auch die Friedensinitiativen aus der BRD wieder beteiligen konnten, ohne nach außen als nationalistisch dazustehen. So kam es noch einmal zum massenhaften Antikriegswiderstand, befeuert durch die Dokumente über die Folterungen in Abu Ghraib, dem Bagdader Zentralgefängnis, und die Morde aus US-Helikoptern, die über Wikileaks im weiteren Verlauf dieses Jahrzehnts an die weltweite Öffentlichkeit gelangten. Sowohl der Afghanistankrieg als auch der Irakkrieg liefen sich durch deren unglaubliche Länge wie auch die hohen Verluste in der jeweiligen Zivilbevölkerung über die Jahre hinweg tot, ohne dass über solch einen langen Zeitraum eine Massenbewegung aufrechterhalten werden konnte, ohne aber auch eine Infragestellung der genannten kulturellen Hegemonie, auf die sich noch Margot Käßmann stützen konnte, als sie 2010 medienwirksam sagte, nichts sei gut in Afghanistan. (6)

Die Lage nach dem 24. Februar 2022
Was könnte in der gegenwärtigen Situation helfen, die Diffamierungspropaganda gegen Pazifismus und die alte Friedensbewegung wieder aufzubrechen? Obwohl wir die Schrecken und die Opfer, die das mit sich bringen würde, nicht wünschen können, werden sich die Chancen für eine motivierende Erinnerung an die teilweise erfolgreichen Bewegungen früherer Jahrzehnte wohl verbessern, je länger der Ukrainekrieg dauert und je mehr sich zeigt, dass die bundesdeutschen Waffenlieferungen keine Lösung, sondern nur eine zeitliche Fortsetzung des Krieges bringen. Die Hoffnung wäre, dass sich ein Abnutzungs- und ökonomischer Ermüdungseffekt entwickeln könnte, wie er schon 2021 in Afghanistan wirksam geworden ist. Die Friedensbewegung und ihre antimilitaristischen Bestandteile könnten dabei versuchen, aus vielen bestehenden antimilitaristischen Einzel-Aktionskampagnen, wie etwa der Kampagne gegen Rheinmetall, wieder zu einer „bewegungsauslösenden“ direkten Massenaktion zu kommen, wie das 1991 für den Zweiten Golfkrieg gelang. Einmal neu entfacht, würde sich eine antimilitaristische Bewegung an die Vielfalt der gewaltfreien Aktionsmöglichkeiten erinnern können – und vielleicht sogar wieder auf Ansätze eines erneuerten kritischen Journalismus stoßen. (7)

Anmerkungen:
1 Vgl. Peter Nowak: Feindbild deutscher Pazifismus, in: Graswurzelrevolution, Nr. 471, September 2022, S. 3.
2 Zur Erinnerung und rückblickenden Analyse siehe die gesammelten Beiträge von damals beteiligten Aktivist*innen der einwöchigen Blockade in Großengstingen, die das Lebenshaus Schwäbische Alb auf ihrer Website veröffentlicht hat: https://www.lebenshaus-alb.de/magazin/014356.html .
3 Fritz Marz, S. Münster: „Nur wer sich bewegt, spürt seine Fesseln. Zu 20 Jahren sozialer Bewegung“, in: Graswurzelrevolution, Nr. 171/72/73, Sonderheft „Texte zu Anarchismus und Gewaltlose Revolution heute“, 1992, S. 8-14, hier S. 11.
4 Vgl. ebenda, a.a.O., S. 11f.
5 Vgl. Lou Marin: 30 Jahre Zweiter Golfkrieg 1991, in: Graswurzelrevolution, Nr. 456, Februar 2021, siehe: https://www.graswurzel.net/gwr/2021/02/30-jahre-zweiter-golfkrieg-1991/ .
6 Vgl. Auszug der Rede von Margot Käßmann in der Dresdner Frauenkirche vom 1.1.2010, siehe: https://intern.ekhn.de/facettnet/detail/news/nichts-ist-gut-in-afghanist... .
7 Etwa nach dem Vorbild des ZEIT-Dossiers von Jana Simon: „Wir nicht“, in: Die Zeit, 11. August 2022, S. 13-15.

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Lou Marin lebt seit 2001 in Marseille. Er ist u.a. Autor der Zeitschrift „Graswurzelrevolution“. Publikationen u.a. über Albert Camus, Simone Weil, M.K. Gandhi, zuletzt über die Begegnung von Martin Buber und Dag Hammarskjöld.