ZeitzeugInnengespräche

„Wenn ich anfange zu hassen, dann komme ich nicht weiter.“

von Renate Wanie

Mündliche Überlieferung von persönlichen Erlebnissen ist eine der ältesten Darstellungsformen von Geschichte. Die Befragung von ZeitzeugInnen ist eine vergleichsweise moderne Methode der Geschichtswissenschaft. In Europa wird sie verstärkt seit den 1960er Jahren angewendet. Einerseits werden prominente Personen gezielt befragt, andererseits auch „normale“  Menschen, die einen subjektiven Blick auf Geschehnisse in ihrem Leben und Umfeld werfen. Im Rahmen der Ausstellung „Dänemark 1943: Ein Volk praktiziert zivilen Widerstand“ hatten die OrganisatorInnen in Heidelberg und Worms die kostbare Gelegenheit, gleich zwei ZeitzeugInnen zu öffentlichen Veranstaltungen und Gesprächen mit SchülerInnen einzuladen.

Ein Zeitzeuge war Salle Fischermann. Er erlebte im Oktober 1943 die unvergleichliche Rettungsaktion und den einzigartigen Akt der Solidaritätsbewegung der dänischen Bevölkerung und konnte deshalb bei einem Gespräch mit SchülerInnen in Heidelberg die Situation persönlich schildern: „Spontan ergriffen viele Dänen die Initiative. Alle halfen mit, wo sie nur konnten, Verstecke zu organisieren: In Krankenwagen, ja sogar in Müllwagen, in allem, was fahren konnte. Auch Krankenhäuser und Kirchen waren wichtige Verstecke. Um die Fischer für die gefährliche Fluchtüberfahrt zu bezahlen, wurde sogar Geld gesammelt. Denn die Fischer hatten keine Einnahmen, während sie halfen. Und selbst die Deportierten wurden nicht vergessen und bekamen Hilfsgüter in die Lager geschickt.“ (1) Fischermann zeigte sich im Interview überzeugt, auch die Menschen, die nicht vor der Deportation gerettet werden konnten, überlebten nur durch die öffentliche Unterstützung, die bis in das Lager Theresienstadt hinein reichte.

Der Zeit- und Augenzeuge Salle Fischermann wusste, wovon er sprach. Er zählte zu den 475 Menschen, die es nicht auf die Fluchtboote schafften, die den Nazis nicht entkommen konnten. Als Vierzehnjähriger wurde er ins KZ-Lager Theresienstadt deportiert. In einer Matinee in der Volkshochschule Heidelberg kommentierte er aus eigenem Erleben Ausschnitte aus dem NS-Propaganda-Film „Der Führer schenkt den Juden eine Stadt“. Mit diesem perfiden Film planten die Nazis, dem „Gerede“ entgegenzuwirken, Juden würden in Deutschland umgebracht. Die Nazis zwangen Fischermann, in dem Film mitzuwirken. Was ihm dabei selbst widerfuhr und was er als Augenzeuge von seinen Beobachtungen berichtete, war für das Publikum kaum zu ertragen. Während er referierte, hätte man eine Stecknadel fallen hören. So bewegend und beeindruckend zugleich kann nur ein Zeitzeuge seine persönlichen Erfahrungen vortragen.
Die Zeitzeugin Liselotte Wahrburg, in Schweden lebend, wurde von der Stadt Worms eigens zur Eröffnung der gleichen Ausstellung eingeladen. Wahrburg ist ehemalige Schülerin eines Gymnasiums in Worms, entkam dem Holocaust über Dänemark in einer gefährlichen Nacht- und Nebel-Aktion und floh nach Schweden. Auf dem Plakatfoto zur Ausstellung erkannte sich die Zeitzeugin („die Zweite von rechts bin ich“) auf dem schwedischen Rettungsboot wieder.

Geschichtsunterricht vs. Zeitzeugengespräche
Für SchülerInnen ist die direkte Begegnung mit einem Zeitzeugen nachhaltig beeindruckend, „einer, der selbst dabei war“. Ganz anders als Textarbeit und trockene Fakten im Geschichtsunterricht. Eine der – zögerlichen – Fragen der SchülerInnen während des Projekttages in Heidelberg war, ob es schwierig gewesen sei, in den folgenden Jahren darüber zu sprechen. Der engagierte Zeitzeuge Salle Fischermann erzählte, er habe 30 Jahre nicht darüber sprechen können. Erst als er eine Einladung von einer christlichen Organisation erhielt, begann er öffentlich sein in der Nazizeit Erlebtes mitzuteilen.
Befragungen von ZeitzeugInnen durch SchülerInnen verlangen eine gute Vorbereitung, je nach Anlass werden beispielsweise Informationen zum Thema beschafft, daraus Fragestellungen entwickelt und das Vorgehen beim Interview methodisch geplant. Wichtig ist vor allem die Nachbereitung im Unterricht. Dabei geht es nicht nur um Information über die Vergangenheit der Zeitzeugen, sondern auch um die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus. Einfließen sollten ebenfalls gewonnene Einsichten, wie z.B. dass couragierter ziviler Widerstand auch in Diktaturen möglich und sogar erfolgreich sein kann. Für das Gespräch mit dem Zeitzeugen Fischermann konnten in Heidelberg drei Schulklassen gewonnen werden, ein Interview der Lokalzeitung folgte.

Auf die Frage einer Schülerin, woher Salle Fischermann die Kraft nehme, immer wieder zu berichten, meinte er: „Man muss es machen. Meine Kinder müssen erfahren, was passiert ist. Wenn ich anfange zu hassen, damit komme ich nicht weiter.“  

Anmerkung
1 Wanie, Renate: Wir waren zuerst Dänen und dann Juden. Interview mit Salle Fischermann, Zeitzeuge und Überlebender: In: Rhein-Neckar-Zeitung, 22. August 2003

Ausgabe

Rubrik

Schwerpunkt