Ziviler Widerstand gegen totalitäre Gewalt - gestern in Europa, heute global?

von Anne M. Dietrich
Der französische Sozialpsychologe und Historiker Jacques Semelin hat in einer Studie über den europäischen zivilen Widerstand gegen das Nazi-Regime einige Bedingungen für erfolgreichen zivilen Widerstand entwickelt. Vielleicht können sie uns Hinweise darauf geben, wie wir einer Neuauflage des Schreckens oder ihren Vorboten in Form von Hunger, Ausgrenzung und Abschiebung auf globaler Ebene, etwas entgegensetzen können:

Bei einem Besuch im Konzentrationslager Sachsenhausen im Januar 2005 mit einer Gruppe europäischer Freiwilliger schockierte mich die Information am meisten, dass die "Aufseher" dort ihre "Arbeit" aus freien Stücken taten: Sie hätten jederzeit kündigen können. Einzelne hätten dies auch getan, und ihnen sei nichts passiert. Trotzdem haben ja viele später behauptet, sie hätten auf Befehl gehandelt. Warum gab es so viele Mit-Täter, warum so viel Gleichgültigkeit, beispielsweise der Menschen aus dem Wohnviertel in unmittelbarer Nachbarschaft des KZs, die - nach eigenen späteren Aussagen - wussten, was dort geschah? Was hätte geschehen müssen, damit die Aufseher ihre Arbeit niedergelegt, die Nachbarn öffentlich gegen das KZ protestiert, die Gemeindeoberen von Sachsenhausen der SS die Kooperation verweigert, die Bahnbediensteten ihren Dienst auf der Linie quittiert hätten? Was passiert heute, wenn wir davon erfahren, dass andere Menschen gedemütigt, gequält, ausgehungert, gefoltert und vernichtet werden? Was können wir heute tun, um dem Mitmachen und der Gleichgültigkeit eine mutige "ohne uns"-Haltung und eine Solidarität mit den Schwächeren unserer Gesellschaft entgegenzusetzen?

Hannah Arendts "Eichmann in Jerusalem" geht der Frage nach, wie der nationalsozialistische Genozid an den Juden möglich wurde. Sie weist auf Ereignisse um die Rettung der Juden in Dänemark als Fallstudie für die Wirksamkeit gewaltfreien Kampfes gegen ein totalitäres Regime hin. Ihr Buch motivierte den französischen Sozialpsychologen und Historiker Jacques Semelin zu seiner Forschungsarbeit "Ohne Waffen gegen Hitler. Eine Studie zum zivilen Widerstand in Europa" (1989 in französischer, 1995 in deutscher Sprache erschienen). Er setzt der These, dass nur bewaffnetes Eingreifen den Opfern in Diktaturen wie dem Hitler-Regimes wirksam Schutz und Rettung bieten könne, überzeugende Belege für die Antithese "ziviler Widerstand ist möglich" entgegen.

Dabei entwickelt er eine Definition zivilen Widerstands, die er von der "Gewaltfreien Aktion" klar unterscheidet, wie er in einem Interview in der französischen Zeitung "Non-Violence Actualite" 1989 betont (Übersetzung erschienen im Oldenburger STACHEL Nr. 11/94):

"Meiner Meinung nach darf vom Begriff gewaltfreie Aktion nur dann Gebrauch gemacht werden, wenn es sich ausdrücklich auf eine Philosophie oder eine gewaltfreie Strategie bezieht. Wir haben keinerlei Interesse daran, einen zu extensiven Gebrauch des Wortes Gewaltlosigkeit zu machen, um seinen universellen Charakter zu zeigen, denn dies würde zu einer Abwertung seiner tiefgreifenden Bedeutung führen. Ich habe deshalb einen passenden Begriff gesucht und bin nach langem Hin- und Herüberlegen zu dem Schluss gekommen, dass der Begriff ziviler Widerstand angebracht wäre."

Um das Konzept "ziviler Widerstand" einzugrenzen, rechnet Semelin zunächst dem, was als "Widerstand" bezeichnet werden kann, drei Elemente zu:
 

 
    1. Nein sagen: Widerstand heisst, mit etwas zu brechen, etwas zu negieren. Zu sagen "so nicht" oder "so nicht mehr" oder "nicht mit mir/ uns"
 
 
    2. Organisierter Widerstand, der in die Illegalität führt
 
 
    3. Widerstand im hier gemeinten Sinne heißt: Kollektives Handeln
 
 
    Er definierte den zivilen Widerstand als
 
 
    unbewaffneten Widerstand ( mit waffenlosen politischen, ökonomischen, juristischen und kulturellen Mitteln)
 
 
    der zivilen Gesellschaft (ziviler Einrichtungen - was staatliche durchaus einschließen kann - und/oder der Zivilbevölkerung)
 
 
    der im engeren Sinne zivile Ziele hat (Schutz der Werte der angegriffenen Gesellschaft, Schutz der Zivilbevölkerung).
 
 
    Diesen Begriff von "zivilem Widerstand" zu entwickeln, war enorm wichtig, um die Bedeutung der zivilen Akteure im Widerstand deutlich zu machen und sie in Relation zum bewaffneten Widerstand aufzuwerten, um die Rolle der vielen kleinen Leute, der anonymen Menschen zu würdigen, die den Widerstand im Alltag getragen haben. Dieser alltägliche Widerstand war wichtig auch für diejenigen, die spektakuläre Aktionen durchführten, und selbst für die Akteure bewaffneten Widerstands, die die Unterstützung und Schutz durch den "stillen Alltagswiderstand" immer wieder brauchten.

Semelin untersuchte etwa 40 Fälle zivilen Widerstands gegen den Faschismus in Europa und schränkte seine Forschungsarbeit auf Fälle des Massenwiderstandes ein (ausgenommen waren also individuelle Aktionen, oder die kleiner Gruppen). Er fand heraus, dass
 

 
    1. die meisten vor 1943 stattfanden, als das Hitler-Regime militärisch noch erfolgreich und eine Befreiung von diesem Regime/dieser Besatzung noch utopisch war;
 
 
    2. der organisierte zivile Widerstand unterschiedliche Formen wie Propaganda, Streik, Demonstrationen und Protesten bis zu Nichtzusammenarbeit und Sabotage annahm;
 
 
    3. die Unterstützung Einzelner für den Widerstand eine große Bandbreite - mit verschiedenen Risiken behafteter - Verhaltensweisen beinhaltete (Heimlich ausländische Radiosender hören, die verbotene Presse des Auslands lesen, bestimmte Befehle nicht befolgen, Untergrundzeitschriften herausgeben, "Regimefeinde" verstecken, an organisierten Widerstands-Aktionen teilnehmen usw.).
 
 
    Aus der Untersuchung der Beispiele kristallisiert Semelin einige zentrale Voraussetzungen für das Gelingen eines zivilen Widerstands heraus:

1. Mit dem Widerstand sympathisierende öffentliche Meinung
Ein wirkungsvoller ziviler Widerstand werde nur gelingen, wenn die öffentliche Meinung (nicht unbedingt deckungsgleich mit der veröffentlichten!) ihn im Wesentlichen mitträgt, es also ein sympathisierendes Umfeld gibt, das den Aktiven Schutz und Unterstützung bietet und/ oder durch Protest und veröffentlichte Positionen bspw. ziviler Institutionen. Semelin: "Der Aufbau jeden Widerstands beginnt mit Worten, mit Ideen", sagt Semelin (Vortrag in Frankfurt 1996, Mitschrift AMD), und er benennt dafür zwei wichtige Beispiele: So demonstrierten in Frankreich am 11. 11. 1940 in Paris mehr als 3.000 Studierende, und obwohl die französische Armee vor Ort war, skandierten sie "Es lebe Frankreich", einige auch schon "Es lebe de Gaulle"; die katholische Kirche protestierte öffentlich durch eine Stellungnahme des Kardinals Galen (Münster) gegen die Zwangs-Euthanasie psychisch Kranker im August 1941.

2. Zu verteidigende Werte
Semelin betont immer wieder, dass eine zentrale Voraussetzung für Widerstand überhaupt eine Haltung ist, die sich der Schicksalhaftigkeit verweigert, sich mit dem Bestehenden nicht abfindet und Hoffnung bewahrt; vielleicht lässt sich diese Haltung mit dem Wert der "Selbstbestimmung" umschreiben. Als weitere wichtige Bedingung benennt Semelin das Festhalten an zentralen Werten der Zivilgesellschaft; zur Zeit des Hitlerregimes sei das eher Patriotismus gewesen, heute wäre dies vielleicht soziale Gerechtigkeit, Menschenrechte, Freiheit. Er schreibt dazu:

"Der Mensch, der sich weder unterwirft noch flüchtet, sondern sich der Gewalt entgegenstellen will, muss daher anstelle der Waffe über eine außergewöhnliche moralische Kraft verfügen. Der religiöse Glaube oder der Glaube an ein moralisches Ideal sind die beiden wichtigsten Mittel, die Angst zu bezwingen. Sie enthalten die Überzeugung, dass bestimmte Werte wichtiger sind als das eigene, "physische" Leben und die Gewissheit, dass die Kraft des Geistes stärker ist als die der brutalen Gewalt." (ebd., S. 99)

3. Solidarität/ Sozialer Zusammenhalt der widerständigen zivilen Gesellschaft:
Der soziale Zusammenhalt ist nach Semelin notwendig, um die Angst gegenüber einem brutalen totalitären Regime überwinden zu können und die Aussichten auf ein Gelingen zu steigern. Unter sozialem Zusammenhalt versteht Semelin die Art, wie sich eine Gesellschaft oder Gruppe einem Besatzer oder Regime als geschlossene Einheit entgegenstellt. Als Beispiele erfolgreichen Widerstands von Berufsgruppen benennt er etwa den Streik der Bergarbeiter in Frankreich, der Ärztinnen in den Niederlanden und der Lehrkräfte in Polen und Norwegen. Die zivile Widerstandsbewegung in Norwegen, die wesentlich von den Lehrkräften getragen wurde, zwang bspw. das Kollaborations-Regime Quislings letztlich zum Rücktritt. In Polen wurde ein komplettes Bildungssystem mit gymnasialen und universitären Strukturen im Untergrund aufgebaut, in dem beispielsweise ca. 18.000 Menschen ihr Abitur abgelegt haben.

Umgekehrt haben die Forschungen Semelins bestätigt, dass der Ausschluss einer Gruppe aus dem sozialen Gefüge sie bis zur Vernichtung gefährden kann. Im oben zitierten Interview sagte er: "Die Verwundbarkeit der Juden/Jüdinnen im Europa der 30er und 40er Jahre ist die, dass sie nicht immer wirklich in der Gesellschaft integriert waren, in der sie lebten. In dieser Beziehung wussten die Nazis die soziale Teilung und den Antisemitismus in den Ländern, die sie besetzten, auszunutzen."

4. Eine effiziente Organisation des Widerstands:
Um unter den Bedingungen eines totalitären (Besatzungs-) Regimes Widerstand zu leisten, ist es notwendig, sich gut - und im Bedarfsfall auch im Untergrund - zu organisieren. Dazu gehörte Logistik, geheime Organisation der Aktivitäten und der Kommunikation sowie die Verfügung über Ressourcen und Unterstützung aus dem In- und Ausland. Erfahrungen mit einer Arbeit im Untergrund waren bis 1940 in Europa eher selten, Vieles musste improvisiert werden, und es kam zu Verhaftungen und Rückschlägen. Semelin betont, dass die Organisation des Widerstands da besonders effizient war, wenn sie von Strukturen getragen wurde, die - bspw. im Falle der Berufsorganisationen (Bergarbeiter in Frankreich, Ärzte, Lehrkräfte in den Niederlanden, Polen und Norwegen) - bereits erprobt waren und genutzt werden konnten.

Deutschsprachige Ausgabe: Jacques Semelin, Ohne Waffen gegen Hitler. Eine Studie zum zivilen Widerstand in Europa. Frankfurt 1995

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