Realitätsverweigerung

Zur Aufarbeitung des Afghanistaneinsatzes 2001-2021

von Clemens Ronnefeldt
Krisen und Kriege
Krisen und Kriege

In dem Buch von Sönke Neitzel: „Deutsche Krieger. Vom Kaiserreich zur Berliner Republik – eine Militärgeschichte“, Berlin 2020, ist zu lesen:

„Wenn bei Operationen der amerikanischen Spezialkräfte Zivilisten auch mal im dreistelligen Bereich umkamen, nahm man das hin. Mancher wunderte sich gewiss, dass darüber nicht gesprochen wurde. Doch keiner wollte sich mit den Amerikanern anlegen, von denen die Deutschen in vielerlei Hinsicht abhängig waren. Im Zweifelsfall waren es ihre Hubschrauber, die deutsche Verwundete ausflogen, ihre Flugzeuge, die schwer bedrängten deutschen Soldaten Luftunterstützung gaben. (...)

Und wenn US-Spezialkräfte nachts Taliban-Kommandeure töteten, brachte das auch der Bundeswehr mehr Sicherheit. Die Deutschen waren insgesamt loyale Allianzpartner, die die nächtlichen Schattenkrieger mit Logistik, mit Absperrungen und auch mit Sanitätern unterstützten.“ (S. 547)

Deutsche Soldat*innen wussten nicht nur von Kriegsverbrechen des wichtigsten Verbündeten - sie nahmen diese offenbar nicht nur hin, sondern unterstützten sie auch noch.

Widerspruch zwischen Anspruch und Wirklichkeit
Der ehemalige Generalinspekteur der Bundeswehr, Wolfgang Schneiderhan, schrieb zum Thema „Soldat im Zeitalter der Globalisierung", in: Europäische Sicherheit, 2/2007, S. 16 und S. 20:

„Vor allem aber wird die Asymmetrie dadurch bestimmt, dass sich eine Seite an Recht, Gesetz und allgemeine Moralvorstellungen bindet und damit die Ausübung von Gewalt legalisiert und reglementiert, dies auf der anderen Seite aber unterbleibt. (...)

Unsere Soldaten verstehen die politischen und kulturellen Zusammenhänge vor Ort und begegnen den Menschen mit Respekt und Verständnis.“

Sönke Neitzel weist auf eine andere Realität hin:

„Bei etlichen Soldaten war eine ‚nicht zu überbietende Geringschätzung‘ für die Afghanen unübersehbar. ‚Kuddel‘, ‚Schmutzfüße‘, ‚Eself...‘ waren gängige Bezeichnungen, und mancher meinte, man solle doch einfach eine Atombombe auf das Land werfen.

Selbstverständlich gab es auch die ‚Afghanistanversteher‘, die durch nichts von ihrem Engagement für Land und Leute abzubringen waren. Aber die waren zumindest in der Zeit der angespannten Sicherheitslage in der Minderheit.“ (S. 550).

Die Kriegsphase ab 2006 bis 2010
Von 2001 bis 2006 erlebten die deutschen Soldat*innen im Norden Afghanistans eine relativ ruhige Phase, in der auch Wiederaufbauprogramme und deren Umsetzung möglich waren.

Ab 2006 war Krieg auch in den von der Bundeswehr kontrollierten Zonen angekommen, 2009 befahl Oberst Klein einen folgenschweren Angriff auf zwei Tanklastzüge mit mehr als 140 Toten.

Sönke Neitzel schreibt zum "Karfreitagsgefecht" 2010:

„Viele deutsche Soldaten hatten es in Afghanistan nur dem Zufall zu verdanken, dass sie keine Verluste hatten. An diesem 2. April (2010) hatten die Soldaten kein Glück. (...) Besonders gravierend war, dass an jenem Karfreitag deutsche Panzergrenadiere auf dem Weg zum Schlachtfeld versehentlich ein Fahrzeug der ANA (Afghanische National Armee) beschossen und sechs afghanische Soldaten getötet hatten. Die Empörung der Afghanen war so groß, dass am Abend nur mit Mühe eine gewaltsame Eskalation verhindert werden konnte.“ (S. 527).

Von den insgesamt 59 Toten des 20-jährigen Bundeswehreinsatzes wurden die meisten in Kämpfen getötet. Sönke Neitzel weist auf einen Toten besonders hin:

„Der 21-jährige Hauptgefreite Sergej Motz wurde getötet, als das Geschoss einer Panzerfaust sein Fahrzeug traf. Er war der erste deutsche Soldat, der seit dem zweiten Weltkrieg bei einem Feuergefecht fiel. Und er war Russlanddeutscher. Sein Vater Viktor hatte einst als sowjetischer Soldat in Afghanistan gekämpft.“ (S. 511)

Stimmen von Bundeswehrsoldat*innen
Johannes Clair, Fallschirmjäger der Bundeswehr im Afghanistaneinsatz, schrieb in der  Süddeutschen Zeitung am 7. Mai 2021 unter der Überschrift: „Unser aller Krieg“:
(...) „Wir alle vertrauten darauf, dass sich Deutschland nicht in ein militärisches Abenteuer stürzen würde. Und doch erlebten wir Soldatinnen und Soldaten genau das: ein militärisches Abenteuer. (...) Die Regierenden sind zerstritten, die Sicherheitskräfte überfordert, viele fühlen sich verheizt. ‚Es gab nie eine klare, allumfassende sicherheitspolitische Strategie für diesen Einsatz. Und es gab nie eine Exitstrategie’, sagte mir ein Freund vor Kurzem. Ich stimme ihm zu.“.

Daniel Lücking, Bundeswehr-Offizier in Afghanistan, reflektierte im Friedensforum 5/2021, Bonn, S. 30.:

„Ich bin heute noch fassungslos, darüber, dass wir von einem Lynchmord unseres wichtigsten Kooperationspartners vor Ort wussten, aber nicht einschritten. Seit ich Jahre später in Unterlagen des Bundestages den Vorfall nachvollziehen konnte, selbst auf Aufklärung drängte, ist mein Vertrauen in die Parlamentsarmee, der ich einst angehören wollte, zerbrochen. (...) Gemessen am Grad dessen, was die Bundesregierung und das Einsatzführungskommando verschweigen, ohne dass gewählte Parlamentarier*innen etwas erfahren können, muss bei der Armee im Einsatz eher von ‚Regierungstruppen‘,  denn von ‚Parlamentsarmee‘ geredet werden.“

Johannes Betz, Oberst a.D., 2013/2014 in Afghanistan als Leiter eines Beratungsteams für die Ausbildung der afghanischen Armee, wurde in der Süddeutschen Zeitung, 14./15.8.2021, S. 10 zitiert:

„Mich überkommt inzwischen das Gefühl, dass das alles sinnlos war: Wozu waren wir überhaupt dort? Wofür sind so viele Soldaten der Koalitionstruppen gefallen? (...) Der jetzige Umgang mit den Menschen, die mit und für uns gearbeitet haben, ist beschämend. (...) Heute frage ich mich: Wäre es nicht besser gewesen, wir wären überhaupt nie nach Afghanistan gegangen.“

Sönke Neitzel, der in seinem Buch "Deutsche Krieger" seine grundsätzlich militärfreundliche Haltung immer wieder durchscheinen lässt, kritisiert auf Seite 552f:

„Die Realitätsverweigerung trat auch in der vom Verteidigungsministerium herausgegebenen Zeitschrift für Innere Führung zutage. Ein kritisches Wort über den Afghanistaneinsatz fand sich dort in den Jahren 2001 bis 2011 kaum. Stattdessen wurde ausschließlich von Frieden und Aufbauarbeit gesprochen. Die Militärführung war also Teil des Problems.“

Realitätsverweigerung hält an
In einer Anzeige in der Süddeutschen Zeitung vom 14.10.2021, Seite 5, für die das Bundesministerium der Verteidigung verantwortlich zeichnete, war unter der Überschrift „AFGHANISTANEINSATZ 2001-2021" und einem Bild mit einem Panzer und mehreren Bundeswehrsoldaten in Großbuchstaben zu lesen: „IHR HABT DEUTSCHLAND ALLE EHRE GEMACHT". Darunter stand ein Kommentar von Annegret Kramp-Karrenbauer, Bundesministerin der Verteidigung, mit ihrem Portrait: „Ich bin der festen Überzeugung, dass die Bundeswehr auf ihren Einsatz in Afghanistan stolz sein kann. Unsere Soldatinnen und Soldaten haben alle Aufträge, die ihnen das Parlament gegeben hat, erfüllt."

In den letzten 20 Jahren kamen nach Vorträgen, die ich bundesweit über Afghanistan gehalten habe, ebenso nach Podiumsdiskussionen mit Bundeswehrvertreter*innen, immer wieder Bundeswehrsoldat*innen auf mich zu, die in Afghanistan im Einsatz waren - und bedankten sich bei mir für meine kritischen Aussagen.

Für diese Soldatinnen und Soldaten, von denen viele an Körper und Seele bis heute verwundet sind, und die um die Kostenübernahme ihrer posttraumatischen Belastungsstörungen gestritten haben und teilweise immer noch streiten, wird diese Anzeige vermutlich wie eine Fortsetzung der von Sönke Neitzel als „Realitätsverweigerung" beschriebenen Haltung gewirkt haben.

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Clemens Ronnefeldt ist seit 1992 Referent für Friedensfragen beim deutschen Zweig des Internationalen Versöhnungsbundes.