Auslandseinsätze der Bundeswehr

Zur Rechtmäßigkeit von Bundeswehr-Einsätzen ‚out of area‘

von Peter Becker
Schwerpunkt
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Im Jahr 1990 endete der Kalte Krieg. Der Warschauer Pakt löste sich auf, die NATO nicht. Die NATO brauchte daher ein neues Einsatzfeld. Sie beschloss 1992 eine Aktion von Seestreitkräften zur Überwachung der Beachtung von Resolutionen des UN-Sicherheitsrates; 1993 ging es weiter mit der Überwachung des Flugraumes über Bosnien-Herzegowina mittels deutscher AWACS-Flugzeuge. Schließlich hat die Bundeswehr sich an UNOSOM II in Somalia beteiligt; hier sollte es um die Umsetzung eines Übereinkommens mit den Vereinten Nationen gehen. Deswegen klagten die SPD- und die FDP-Fraktionen im Bundestag (die FDP war damals an der CDU-geführten Bundesregierung beteiligt), um die Rechtswidrigkeit dieser Beteiligungen feststellen zu lassen. Die beiden Fraktionen verloren. Das Bundesverfassungsgericht traf mit dem Out-of-Area-Urteil (i.F.: OoAU) vom 12. Juli 1994 mehrere weitreichende Feststellungen, die ich im Folgenden darstelle.

Seit dieser Zeit beteiligt sich die Bundeswehr an zahlreichen militärischen Aktionen der NATO, aber auch der UN. Da das Bundesverfassungsgericht im OoAU verlangt hatte, dass allen Einsätzen eine Befassung des Bundestags vorausgehen müsse, die die Beteiligung freigab, hat es zahlreiche dieser Beschlüsse gegeben. Viele Aktionen der NATO und der Bundeswehr waren völkerrechtswidrig. Das OoAU hat mit dem stringenten Verfassungsverständnis gebrochen und sehr weitreichende Verbiegungen des Grundgesetzverständnisses herbeigeführt. Dieses Grundgesetzverständnis macht aus der Bundeswehr eine weltweit agierende Interventionsarmee; ein Verständnis, das auch dem Friedensgebot des Grundgesetzes entgegensteht.

Völkerrecht
Die im Jahr 1945 beschlossene Gründung der Vereinten Nationen auf Basis ihrer Charta (UNC) war ein friedenspolitisches und -rechtliches Ereignis von weitestreichendem Rang. Die UNC schloss an die Satzung des Völkerbundes an. Diese wiederum ist ohne die Haager Abkommen von 1907 nicht denkbar. Übrigens kamen die Haager Abkommen auf Initiative des russischen Zaren Nikolaus zustande, der 1914 auch versucht hat, den Ersten Weltkrieg zu verhindern, indem er anregte, den österreichisch-ungarischen und serbischen Zwist vor das Haager Tribunal zu bringen. Diese Initiative scheiterte an den Briten.

In Artikel 2 Abs. 4 UNC findet sich ein Gewaltverbot. Die Ausübung militärischer Gewalt ist nur im Fall der Selbstverteidigung (Art. 51) oder aufgrund Ermächtigung des Sicherheitsrates (Kapitel VII) zulässig. Die Parteien eines Zwistes müssen sich aber um die friedliche Beilegung von Streitigkeiten bemühen (Kap. VI). Der Sicherheitsrat muss feststellen, dass das Verhalten der Streithähne den Frieden gefährdet. Er kann friedliche und militärische Sanktionsmaßnahmen ergreifen (Art. 41, 42).

Der Krieg der NATO gegen Serbien verletzte diese Vorgaben und war völkerrechtswidrig. Die Bundeswehr hat sich an dem Krieg beteiligt. Es gibt aber auch viele spätere Einsätze, die das Völkerrecht missachteten.

Die Out-of-area-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts und ihre Wirkungen
Die Rechtslage bis zum OoAU von 1994 war geprägt durch Art. 87a GG, der erst 1956 eingefügt wurde. In dessen Absatz 1 heißt es: „Der Bund stellt Streitkräfte zur Verteidigung auf“ (Hervorhebung durch den Verf.). Der Verteidigungsbegriff des Grundgesetzes stellt darauf ab, „dass das Bundesgebiet mit Waffengewalt angegriffen wird oder ein solcher Angriff unmittelbar droht“, so Art. 115a GG.

Das war keine Landesverteidigung. Für neue Aufgaben der Bundeswehr „out of area“ hätte das Grundgesetz geändert werden müssen. Das sahen die damals in der Opposition befindliche SPD und die mitregierende FDP ebenso (1). Die BT-Fraktion der SPD stellte deshalb im August 1992 mehrere Anträge beim BVerfG, um festzustellen, dass die erwähnten Aktionen der Bundeswehr die verfassungsmäßigen Rechte des Bundestages verletzt haben. Nach Art. 87a II GG, so argumentierte die Fraktion, dürften „Streitkräfte nur eingesetzt werden, soweit dieses Grundgesetz es ausdrücklich zulässt“. Dies sei jedoch nach Art. 87a III u. IV und nach Art. 35 II u. III GG nur in Ausnahmesituationen wie dem Verteidigungsfall etc. gegeben. Dies alles traf hier jedoch nicht zu.

Die vier der SPD nahestehenden Richter des Zweiten Senats des BVerfG sahen das offensichtlich auch so. Da sie sich mit den vier konservativen Richtern über die Auslegung des Art. 87a GG nicht einigen konnten, versuchte man es mit einem Trick. Die Richter legten den Art. 87a GG beiseite und zogen Art. 24 II GG heran. Er ermöglicht es der Bundesrepublik, „sich zur Wahrung des Friedens einem System gegenseitiger kollektiver Sicherheit ein/zu)zuordnen“ und in die damit verbundenen „Beschränkungen ihrer Hoheitsrechte ein(zu)willigen, die eine friedliche und dauerhafte Ordnung in Europa und zwischen den Völkern der Welt herbeiführen und sichern“. Gedacht war 1949 offensichtlich an die UNO, der die Bundesrepublik 1973 beitrat, bestimmt nicht an die NATO, denn die junge Bundesrepublik sollte keine Armee bekommen.

Dies allerdings hatten die Richter wohl vergessen, denn sie schrieben in ihr Urteil: „Die schon im ursprünglichen Text des Grundgesetzes zugelassene Mitgliedschaft in einem System gegenseitiger kollektiver Sicherheit und die damit mögliche Teilnahme deutscher Streitkräfte im Rahmen eines solchen Systems sollte“ durch den erst 1956 in das Grundgesetz gekommenen Art. 87a „nicht eingeschränkt werden“. Wir wissen heute, dass zu jener frühen Zeit etliche Militärs und wahrscheinlich auch Adenauer selbst von dem Wiedererstehen einer deutschen Armee träumten. Die Mütter und Väter des Grundgesetzes allerdings dachten nicht daran. Im „Petersberger Abkommen“ vom 12. November 1949 hatte die Bundesregierung noch gemeinsam mit den Alliierten Hohen Kommissaren „ihre feste Entschlossenheit“ versichert, „die Entmilitarisierung des Bundesgebietes aufrecht zu erhalten und mit allen ihr zur Verfügung stehenden Mitteln die Neubildung irgendwelcher Streitkräfte zu verhindern“. Als kurze Zeit später Adenauer die Bildung einer europäischen Armee mit deutschen Soldaten vorschlug, lehnten alle Fraktionen im Bundestag in einer heftigen Debatte eine Wiederaufrüstung entschieden ab.

Zudem galt lange Zeit hindurch die NATO auch nicht als „System gegenseitiger kollektiver Sicherheit“, da sie den potentiellen Gegner und Feind, anders als die UNO, nicht mitumfasste. Erst mit seinem OoAU „befreite“ das Gericht das System von seinem Gegner. Es sei „unerheblich“, ob das von Art. 24 II GG gemeinte ‚System gegenseitiger kollektiver Sicherheit‘ „ausschließlich oder vornehmlich unter den Mitgliedsstaaten Frieden garantieren oder bei Angriffen von außen zum kollektiven Beistand verpflichten soll“. Entscheidend sei, dass zum einen das System „durch ein friedenssicherndes Regelwerk und den Aufbau einer eigenen Organisation für jedes Mitglied einen Status völkerrechtlicher Gebundenheit“ begründet und dass zum anderen die völkerrechtliche Gebundenheit „wechselseitig zur Wahrung des Friedens verpflichtet“ und „Sicherheit gewährt“. Damit war auch die NATO ein „System gegenseitiger kollektiver Sicherheit“. Diese Deutung hat Dieter Deiseroth in seiner Kommentierung des Art. 24 II im GG-Alternativkommentar vehement kritisiert.

Um die Ermächtigung nicht schrankenlos erscheinen zu lassen und wohl aus schlechtem Gewissen, erfand das BVerfG den im GG nicht erwähnten Parlamentsvorbehalt: „Das Grundgesetz verpflichtet die Bundesregierung, für den Einsatz bewaffneter Streitkräfte die – grundsätzlich vorherige – konstitutive Zustimmung des Deutschen Bundestages einzuholen.“ Zudem betonte das Urteil im ersten Leitsatz, dass Art. 24 II GG nur Bundeswehreinsätze „im Rahmen und nach den Regeln“ der Systeme kollektiver Sicherheit legitimiere.

Eklatante Verletzungen der eigenen Grundsätze
Fünf Jahre später ging auch dieser Satz im Bombardement der NATO über Jugoslawien unter. Weder hatte Jugoslawien einen NATO-Staat angegriffen, noch hatte der UN-Sicherheitsrat ein Mandat zu den Angriffen der NATO erteilt; ein klarer Verstoß gegen das Gewalt- und Interventionsverbot der UNC. Die PDS, die als einzige Partei die Rechtswidrigkeit dieses Einsatzes rügte, wurde jedoch mit ihrem Antrag vom BVerfG abgewiesen. Es wies darauf hin, dass der Bundestag ja bereits ein halbes Jahr vorher dem Kriegseinsatz gegen Jugoslawien zugestimmt habe, seine Rechte also nicht verletzt sein konnten. Das Gericht deckte damals die politische Schwäche des Parlamentsvorbehalts auf: Noch nie hat die Parlamentsmehrheit, wie auch immer sie zusammengesetzt war, den weit über 50 Anträgen der Bundesregierung für Auslandseinsätze der Bundeswehr die Zustimmung versagt.
Wie schwach die Position des Parlaments gegenüber der Regierung auf dem Gebiet der Außenpolitik auch rechtlich ist, machte das BVerfG in einer späteren Entscheidung von 2003 deutlich, als die Bundesregierung den USA und ihrer „Koalition der Willigen“ bei ihrem Feldzug gegen Bagdad zu Hilfe kam. Sie setzte deutsche Soldaten in die AWACS-Maschinen, die den Luftraum über der an den Irak angrenzenden Türkei überwachen sollten, und leistete IT-Hilfe, die Major Pfaff zur Befehlsverweigerung veranlasste. Er wurde allerdings mit dem legendären und lesenswerten Irak-Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 21.06.2005 freigesprochen.

Was tun?
Wir müssen ansetzen bei der Position der seinerzeit überstimmten vier Richter, die gefordert hatten, dass ein Gesetz gemäß Art. 59 II GG (Art. 59 regelt die völkerrechtliche Vertretung des Bundes) hätte beschlossen werden müssen. Denn die so weitreichende Änderung des NATO-Vertrags und damit des Aufgabengebiets der Bundeswehr hätte entsprechend Art. 59 II GG der Gesetzesform bedurft, die seinerzeit vermieden wurde. Das muss jetzt nachgeholt werden.

Allerdings hätte diese Vorgehensweise weitreichende Konsequenzen. Denn die NATO ist ja kein „System gegenseitiger kollektiver Sicherheit“ gem. Art. 24 II GG, sondern ein Verteidigungsbündnis. Wenn das Grundgesetz nicht geändert würde, müssten Bundeswehr-Einsätze out of area unterbleiben. Zulässig wären nur noch Einsätze im Rahmen der UN aufgrund Sicherheitsrats-Ermächtigung, z.B. Blauhelm-Einsätze.
Das wäre mit dem Fraktionsvorsitzenden der SPD-BT-Fraktion, Rolf Mützenich, und einem großen Teil der Fraktion, wohl auch mindestens einem Teil der Fraktion der Linken, im BT wohl zu machen. Offen ist die Position der Grünen. Die CDU/CSU-Fraktion, mit ihrer NATO-Hörigkeit, wäre wohl dagegen.

Die neue friedenspolitische Rolle Deutschlands, die von einem überwiegenden Teil der Bevölkerung getragen wird, bedürfte also einer neuen rot-rot-grünen Mehrheit des Bundestags. Packen wir’s an!

Anmerkung
1 Diesen Text verdankt der Autor Norman Paech und der AG Friedensforschung des Friedenspolitischen Ratschlags; er ist vom 13.07.2014. Er hat mit Billigung von Norman Paech Einiges ergänzt.

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Dr. Peter Becker ist Rechtsanwalt, Co-Präsident der International Association of Lawyers Against Nuclear Arms (IALANA) und Vorstandsmitglied der Deutschen IALANA.