Mit zweierlei Maß?

Zur Selektivität des Völkerstrafrechts

von Wolfgang Kaleck

Im ausklingenden Jahr 2012 wurde auf vielen internationalen Konferenzen die Zehn-Jahres-Bilanz des Internationalen Strafgerichtshofes (IStGH) in Den Haag gezogen, in Deutschland zudem der Ertrag der ebenso lange geltenden nationalen Vorschriften des Völkerstrafgesetzbuches (VStGB) diskutiert. Seit den feierlichen und hoffnungsfrohen  Reden zur Etablierung des Den Haager Gerichtes ist mittlerweile auch bei dessen Befürwortern eine deutliche Ernüchterung eingetreten. Denn nach wie vor bleiben viele Völkerstraftaten wie Genozid, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen unbestraft, obwohl man sich weltweit auf das Verbot dieser Taten verständigt hat und obwohl neben dem IStGH viele nationale Strafverfolgungsbehörden die Fälle ermitteln und bestrafen könnten.

Es kann also keine Rede davon sein, dass sich ein Standard entwickelt hätte, wonach auf die Begehung von Völkerstraftaten eine juristische Reaktion oder gar eine Sanktionierung erfolgen würde. Die Gründe hierfür sind vielfältig; in Gesellschaften, in denen bewaffnete Konflikte herrschen oder gerade beendet wurden, fehlt es zumeist an funktionierenden Rechtssystemen. Doch auch dort, wo mehr oder weniger staatliche Strukturen existieren, herrschen politischer Unwille, Korruption, Überlastung der Justiz und fortbestehende gesellschaftliche Probleme sowie Unsicherheit. Zudem wird seit den Nürnberger Prozessen der Einsatz von Strafrecht als Reaktion auf Systemunrecht insgesamt kritisch betrachtet bzw. in Frage gestellt.

Afrika - was sonst? Die Praxis des Internationalen Strafgerichtshofes
Dieses wenig befriedigende Gesamtbild sollte im Blick behalten werden, wenn nachfolgend der Frage nachgegangen wird, ob die globale Strafjustiz mit unterschiedlichen Standards arbeitet, je nachdem ob sich die Vorwürfe gegen Sieger oder gegen Verlierer von Konflikten, gegen mächtige oder gegen schwache Rechtsverletzer richten. Viele aktuelle Kommentatoren urteilen schnell und eindeutig: Alle formellen Ermittlungen, in Den Haag betreffen ausschließlich afrikanische Ländern und Tatverdächtige aus Afrika (Sudan, DR Kongo, Uganda, Zentralafrikanische Republik, Elfenbeinküste, Kenia und seit letztem Jahr Libyen); also sei der Gerichtshof vorurteilsbeladen und nicht wirklich willens, auch mächtigen Tätern auf den Leib zu rücken.

Obwohl natürlich der Befund stimmt, dass bisher alle Ermittlungen afrikanische Staaten betreffen, sind daraus andere Schlussfolgerungen zu ziehen. Denn zum einen haben zwar vergleichsweise schnell über 120 Staaten das Statut für den Gerichtshof gezeichnet und sich somit dessen Jurisdiktion für nach dem 1. Juli 2002 begangene Taten unterworfen. Doch viele der Staaten, denen aktuell Völkerstraftaten zur Last gelegt werden, unter anderem der Iran, Sri Lanka und Israel, haben nicht unterschrieben. Mit Russland, China und den USA fehlen auch drei der Vetomächte des UN-Sicherheitsrates. Deswegen nutzte der Rat auch nur bei Sudan und Libyen seine Macht, Fälle an den IStGH zu überweisen, und nicht in Konstellationen, die die Veto-Mächte selbst oder deren enge Verbündete betreffen. Wenn man dann noch bedenkt, dass drei der afrikanischen Staaten von sich aus die Den Haager Richter angerufen haben und dass in Afrika, gerade in der Region um die Großen Seen und im Sudan, die schwerwiegendsten Verbrechen des vergangenen Jahrzehnts begangen wurden, stellt sich die Frage, ob der Gerichtshof überhaupt anders hätte handeln können.

Dies ist in zweierlei Hinsicht der Fall: Zunächst einmal wird insbesondere die Anklagebehörde, die bis Juni 2012 vom Argentinier Moreno Ocampo geleitet wurde, massiv für ihre Strategie in den eröffneten Fällen kritisiert. Selektiv sind insbesondere die Ermittlungen zu Kongo und zu Uganda zu nennen, weil bestimmte Konfliktparteien von vornherein ausgespart blieben, so unter anderem die Armeen von Kongo, Ruanda und Uganda. Diese vertikale Selektivität der Strafverfolgung zumeist ohne nachvollziehbare Begründung ist weit davon entfernt, Gerechtigkeit zu schaffen, und hat der Legitimität des Gerichtshofes  in der Region schwer geschadet.

Kolumbien, Palästina und Großbritannien
Wo aber - außerhalb von Afrika - hätte der bisherige Chefankläger ermitteln sollen? Immerhin wurde eine eigene Analyseabteilung in der Anklagebehörde eingerichtet, die unterhalb der Schwelle eines formellen Ermittlungsverfahrens Situationen beobachten und voruntersuchen soll. Drei dieser Situationen stehen im Zentrum der Diskussion: Kolumbien, Palästina und Großbritannien. Bei keinem der Länder scheint das letzte Wort gesprochen.

Zwar hat Moreno Ocampo 2006 die Aufnahme von Ermittlungen wegen möglicher Kriegsverbrechen der Briten im Irak abgelehnt, weil er seinerzeit von einer zu geringen Zahl von Opfern von Gefangenenmisshandlungen ausging. Spätestens nach Beendigung der internen britischen Untersuchungskommission zum Fall des getöteten Irakers Baha Moussa und den jüngsten Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte steht jedoch fest, dass mehrere Hundert Gefangene von den Briten misshandelt wurden. Menschenrechtsorganisationen wie die des Autors bereiten daher einen neuen Vorstoß in Den Haag vor. Im Falle Palästinas ging es vor allem um die Kriegsverbrechensvorwürfe gegen Israel im Gazakrieg 2009; hier entschied Moreno Ocampo im April 2012, kein Verfahren einzuleiten. Palästina ist zwar keine Vertragspartei des Statuts, hat dieses aber durch einseitige Erklärung anerkannt. In seiner umstrittenen Entscheidung verwies der Ankläger allerdings darauf, dass Palästina dennoch kein Staat im Sinne des Statuts war.

Dass in Kolumbien in der letzten Dekade vor allem von Paramilitärs und staatlichen Sicherheitskräften Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen wurden, stellt praktisch niemand in Frage. Deswegen steht der wichtigste Verbündete der USA in Lateinamerika auch seit 2006 unter Beobachtung durch die Den Haager Ankläger, ohne dass sich diese dazu durchringen konnten, formell zu ermitteln. Sie verweisen auf die gerichtliche Aufarbeitung einzelner Verbrechen in Kolumbien selbst und damit auf das sogenannte Komplementaritätsprinzip, wonach Den Haag nur zuständig ist, wenn der Tatortstaat nicht willens oder in der Lage ist, die Verfahren selbst durchzuführen. Hier setzt die berechtigte Kritik an: Zwar passiert in Kolumbien vor kolumbianischen Gerichten einiges, doch gegen die ranghöchsten Militärs und Politiker wird eben gerade nicht ermittelt. Hier müsste, wie viele Menschenrechtsorganisationen und Wissenschaftler befinden, offizielle Ermittlungen beginnen, auch um den Staat Kolumbien unter Druck zu setzen, gerade die höchsten Verantwortlichen strafzuverfolgen. Die Entscheidung liegt in den Händen der neuen Chefanklägerin Fatou Bensouda aus Gambia, von der man sich erhofft, dass sie sich über die politischen Rücksichtnahmen ihres Vorgängers hinwegsetzt.

Guantanamo und Tschetschenien
Nur ein Teil der Selektivität der internationalen Strafjustiz ist mithin dem Den Haager Gerichtshof vorzuwerfen - doch wer erklärt sich zuständig für die Kriegsverbrechen der Russen in Tschetschenien und die systematische Folter der USA nach dem 11.9.2001? Solange es in den Händen des politischen Organs UN-Sicherheitsrat liegt, in den Fällen zu entscheiden, in denen die Tatortstaaten das Statut für den Gerichtshof nicht unterzeichnet haben, und solange das UN-System so ausgestaltet ist wie es ist, werden die Veto-Mächte jegliche gegen sie gerichteten Ermittlungen in Den Haag abwenden können. An dieser Stelle enden viele Betrachtungen, ohne zu erörtern, dass viele der Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen zwar nicht vom IStGH untersucht werden können, doch vor nationalen Gerichten, vor den eigenen und vor denen von Drittstaaten. Die Passivität der EU-Staaten und deren politischer Unwille, insbesondere gegen den eigenen Verbündeten USA zu ermitteln, ist also nicht hinnehmbar. Da eine ganze Reihe von Folteropfern und Entführungsopfern der CIA europäische Staatsbürger sind und zudem ein Teil der Entführungen auf europäischem Boden stattfand, könnten deutsche wie französische Staatsanwälte ermitteln, zumal wenn sich Tatverdächtige in unseren Breiten aufhalten. Doch aus politischen Gründen halten sich die Strafverfolger bisher zurück. Allerdings läuft ein wichtiges Verfahren in Polen wegen des dort operierenden CIA-Geheimgefängnisses sowie ein weiteres in Spanien wegen Guantanamo; in Italien wurden CIA-Agenten in Abwesenheit verurteilt, in Deutschland ergingen Haftbefehle wegen der Entführung Khaled El Masris. Hunderte von CIA-Agenten sehen daher derzeit von Reisen nach Europa ab, ebenso wie ihre ehemaligen Vorgesetzten. So sagte z.B. Ex-Präsident Bush im Februar 2011 wegen drohender Ermittlungen einen Besuch in der Schweiz ab.

Fazit
Seit wenigen Jahren besteht die ernsthafte Möglichkeit, die Tatverdächtigen von Völkerstraftaten vor internationalen Tribunalen oder nationalen Gerichten weltweit zu belangen. Dies ist auf jeden Fall als immenser Fortschritt zu bewerten, auch wenn mächtige Täter sich derzeit noch einigermaßen, wenn auch nicht ganz, sicher wähnen dürfen. Menschenrechtsorganisationen auf der ganzen Welt kämpfen gegen diese Doppelstandards an. Für die Realpolitiker und Anhänger Carl Schmitts auf der Rechten und die Zyniker auf der Linken mag es ein geradezu naturgesetzlicher Zustand  sein, dass jedenfalls mit den Mitteln des Rechts die politische, ökonomische und militärische Macht nicht zu zähmen ist. Wer demgegenüber die Verhältnisse dynamischer gestalten, eine andere Welt möglich machen will, wird die Zuschauerrolle verlassen und sich an den skizzierten juristischen und politischen Kämpfen beteiligen müssen.

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Wolfgang Kaleck, Rechtsanwalt in Berlin, Generalsekretär des European Center for Constitutional and Human Rights (www.ecchr.eu).