Redebeitrag für den Ostermarsch Köln am 16. April 2022

 

- Es gilt das gesprochene Wort -

 

Liebe Friedensfreundinnen und liebe Friedensfreunde,

es kann wahrscheinlich in Köln keinen besseren Platz als diesen geben, um die Atombombengefahr unserer Welt zu thematisieren: an dem Kölner Denkmal für Deserteure; vor dem el-de-Haus, der Gestapo-Zentrale; vor dem Zeughaus, d. h. dem Kölner Waffenlager, heute Stadtmuseum, und am Gebäude der ehemaligen Strafjustiz, in ihm wurden im sogenannten Dritten Reich mindestens 123 Deserteure zum Tode verurteilt1:

Menschen, die sich weigerten zu schießen, zu töten, auszulachen, zu diskriminieren und Solidarität und Zivilcourage zeigten – insgesamt 350.000-400.000 deutsche Soldaten2 – also eine bedeutende Minderheit, denn genau darum geht es in der Auseinandersetzung mit den Atomwaffen und im Kampf für eine Welt ohne Atomwaffen befreit vom Terror der Atombomben.

Gegenwärtig grassiert eine Ansteckung, die gefährlicher als der Coronavirus ist das ist die Gewaltgäubigkeit; Menschen, die sich gestern noch für Pazifisten hielten und gehalten wurden, lassen sich umwandeln, lassen sich von einem Verbrechen – denn jeder Krieg ist ein Verbrechen, erst recht ein Angriffskrieg, „das größte internationale Verbrechen“, Nürnberger Kriegsverbrechertribunal 1946, und warum sollen wir Komplizen von einem Verbrechen werden?; das ihnen nun bemerkenswert nahe kommt, Obwohl es solche Kriege zuvor schon jahrelang gab, aber eben woanders – lassen sich vom Ukrainekrieg polarisieren und verfallen in die einfache Aufteilung der Welt in Opfer, Täter und Retter.

Dabei ist es doch der sprichwörtlich gewordene Westen, der dafür eintritt, dass jeder Mensch eine eigene, unverwechselbare Würde hat und das Leben jedes Menschen sein unüberholbares und uneinholbares Gewicht.Und dies soll jetzt auf einmal nicht mehr gelten, weil es sich um einen russischen Soldaten handelt, weil es um Putin geht und seine Helfershelfer?

Deserteure haben zu allen Zeiten die Vernunft mitten im Krieg wieder entdeckt. Sie sind es, die mitten in finsteren Zeiten uns ein Licht aufstecken, damit auch wir und unsere Welt zur Vernunft kommen und wir uns miteinander befreien von der polarisierenden Macht der Gewalt: Solch eine Befreiung ist möglich – vor allem durch: Mitleid – auch mit den Leiden meines Feindes.

Der Atombombe haftet ihr Ursprungsgeist bis heute an, solch eine atomare Massenvernichtungswaffe zu bauen ist eines der Horrorresultate des deutschen Nationalsozialismus, sein Nihilismus, das Leben von Millionen von Menschen opfern zu wollen für einen vermeintlich besseren Zweck, dieser Nihilismus hat die Sieger angesteckt, der Geist der besiegten hat die Sieger erfasst. Als das einige der Forscher, die dieses betrieben, erkannten, war es zu spät. Mit den Hiroshima- und Nagasaki-Atombomben begingen die Vereinigten Staaten von Amerika zwei Kriegsverbrechen, die bis heute nicht geahndet wurden und damit wird jedem anderen Inhaber solcher Waffen signalisiert, zu glauben, sie selbst straffrei einsetzen zu können.

Die Behauptung, dass Ukraine sich jetzt hätte schützen können, wenn sie die sowjetischen Atomwaffen behalten hätte, ist historischer Unfug3: nach der Wende war nicht ausgemacht, wer Nachfolger der Sowjetunion im Sicherheitsrat wird, denn in  Ukraine lagerte das drittgrößte Atomwaffenarsenal der Welt, von allen Seiten wurde dem jungen Staat signalisiert: ihr werdet für uns das Nord-Korea Europas, wenn ihr die Atomwaffen nicht abgebt und die dringend benötigte Aufbauhilfe ist unmöglich,  solange ihr noch im Besitz von Atomwaffen seid. Nach dem Abzug der Atomwaffen und den Sicherheitsgarantien für Ukraine (Budapest 1994) wurde versäumt näher zu bestimmen, was die Garantien genau beinhalten und zugleich wurde das politische Geflecht, dass diese hätte ermöglichen können, die Vereinten Nationen und die osze, mutwillig geschwächt.

Wenn nach der Logik der Abschreckung Atomwaffen von Angriffen abhalten sollen, dann wäre die Bewaffnung aller Staaten, die noch keine Atomwaffen besitzen, zu befürworten, also auch Iran, Saudi-Arabien, Jemen, Ägypten, Mali, Bangladesch – ein Staat von vier Atomwaffenstaaten umgeben – etc. pp:

Die Geschichte zeigt, dass Atomwaffenbesitz nicht vor kriegen schützt, wie die bewaffneten Auseinandersetzungen um Kaschmir zwischen Pakistan und Indien zeigen. Auch Israel, obwohl im Besitz von Atomwaffen, ist nicht vor Angriffen geschützt, der einzige wirksame Schutz gegen Atomwaffen ist ihre Abschaffung, was ihr im Wege steht ist die Suchtabhängigkeit von Waffen und der Gewaltglaube in allen Staaten, die über Armeen verfügen, auch in unserer Gesellschaft.

Die Angst vor dem Einsatz von russischen Atomwaffen in diesem Krieg halte ich darum für real, umso wichtiger sind die Menschen, die als Zeugen der Menschheit ihrem Gewissen folgen und sich solchen Befehlen widersetzen, nicht nur in der russischen Armee, sondern in jeder Armee, die über Atomwaffen verfügt oder – wie es beschönigend heißt – daran teilhat, wie Deutschland.

Der Kriegsdienstverweigerer wendet den Blick, weg vom Feind, weg von seinem eigenen Erleben und Erleiden, dorthin, wo das Gemeinsame zwischen beiden zu finden ist, über uns – wie bei diesem Denkmal für Deserteure man kann den Text erst lesen,  wenn man diesen Blickwechsel vollzieht.
Vom Feind zur Menschheit: Die Deserteure zeigen uns von Mitleid getrieben den Weg der Vernunft.

Vielen Dank.

 

Pfarrer Dr. Matthias Engelke ist aktive beim Versöhungsbund, Regionalgruppe Köln/Bonn.

 

3 Budjeryn, Mariana: Was Ukraine Wrong to Give Up Its Nukes? The Real Legacy of Kyiv’s Post-Soviet
Disarmament. In: Foreign Affairs, 08.04.2022; https://www.foreignaffairs.com/articles/russia-fsu/2022-04-
08/was-ukraine-wrong-give-its-
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- zuletzt eingesehen am 16.04.2022