Redebeitrag für den Ostermarsch Mannheim am 16. April 2022

 

- Es gilt das gesprochene Wort -

 

Liebe Friedensfreundinnen, liebe Friedensfreunde, liebe Kolleginnen und Kollegen, liebe Menschen hier in Mannheim,

eigentlich ist ja schon alles gesagt am Ende einer solchen Veranstaltung. Ich habe da kaum noch etwas hinzuzufügen. Aber nun stehe ich ja hier und es bleibt mir eigentlich vor allem etwas Nachdenkliches und im besten Sinne Tröstliches. Es ist Karsamstag, Samstag vor Ostern, traditionsreicher Tag der Ostermärsche, und diese Welt voll Krieg wird für uns durch die Nähe und die Intensität der Bilder, durch die Menschen, die zu uns kommen und Schutz suchen, durch die
aufgeheizte innenpolitische Diskussion über die richtigen Wege und auch durch den moralischen Druck viel direkter erfahrbar. Bei mir sorgt das – das gebe ich unumwunden zu – für große Sorge. Sorge um die Menschen in der Ukraine, die sich einem erbarmungslosen Aggressor erwehren müssen, Sorge um die Verhältnisse in Russland und, ja, auch eine Sorge um die Zukunft des Lebens in Westeuropa und auf der ganzen Welt. Es bekümmert mich, weil die Welt in diesen Tagen an so vielen
Stellen zu zerreißen droht, dass ich es kaum überblicken kann.

Ich hatte viel Bekümmernis heißt eine Kantate von Johann Sebastian Bach. Vielleicht kennt die der eine oder die andere unter Euch. Wunderbares Stück Musik. Und wenn ich auf das Leben gerade schaue, dann würde ich auch sagen: Ja, ich habe viel Bekümmernis. Sehr viel. Geht Euch sicher genauso. Ich greife mal sieben Punkte, sieben Bekümmernisse heraus, die diese Zeit so sehr verdunkeln und eine frohe und lebenswerte Zukunft in weite Ferne rücken:

(1) Mich bekümmern die vielen Toten, das verstümmelte und zerfetzte, vorzeitig beendete Leben, die zerschundenen Seelen, die unsäglichen Kriegsverbrechen, die Morde und Vergewaltigungen, das immense Leid, das dieser Krieg Russlands gegen die Ukraine wie alle anderen vor ihm auch auslöst. Wir wissen, was für Gesellschaften aus solchen Kriegen hervorgehen. Die Nachwirkungen werden wie die aktuellen Ereignisse schlimm sein. Dieser Krieg ist ein Verbrechen an den Menschen.

(2) Mich bekümmert, dass wir es mit Wladimir Putin und seiner Kamarilla aus Geheimdienst, Armee und superreichen Eliten mit einer wirklich skrupellosen Ausbeuterclique zu tun haben, die einzig für eine Politik steht, die die Reichen immer reicher macht, während die Armut wächst, die Menschen und Natur unerbittlich auspresst und um ihr Leben betrügt und die sich um Meinungsfreiheit, Menschenrechte, Aufarbeitung der stalinistischen Verbrechen, die sich um den Frieden einen Dreck
schert und lieber den Traum von eigenen Einflusszonen träumt, aus denen noch mehr herauszuholen ist. Für diese Leute habe ich und werde ich keine Entschuldigung und kein Verständnis haben.

Dass in den westlich genannten Ländern auch vieles im Argen liegt, ist dabei unbestritten. Das wisst Ihr alle so gut wie ich. Aber das ist nicht mein Punkt heute. Das gern ein andermal wieder.

(3) Mein Punkt ist aber das bereitwillige Drehen an der Eskalationsspirale, das ich auch hier erlebe. Der Aufnahme von ernsthaften Gesprächen wird ein ums andere Mal eine Absage erteilt. Die Ansätze werden als naiv oder Putinversteherei geframed und diffamiert. Dabei gibt es keinen anderen Ausweg aus einem Krieg als die Verhandlung, auch wenn das auf der Grundlage der inneren und äußeren Verwüstungen schmerzhaft ist und das Einhalten von Verträgen derzeit nicht garantiert
werden kann. Genau dafür zu sorgen, ist aber doch die Aufgabe der Diplomatie. Wenn sie das nicht leistet, dann brauchen wir sie nicht. Dann herrscht allein der Krieg. Das nun ist keine Alternative. Wir wissen alle, wie dieser Kontinent nach dem Zweiten Weltkrieg aussah und da hat es in Europa keine Atomwaffen gegeben. Ratlos macht mich, dass die Ukraine auch etwas zu verhandeln und zu leben haben muss.

(4) Mich bekümmert eine offen rassistische Flüchtlingspolitik Europas. Ich bin froh und dankbar über die freundliche Aufnahme der Menschen aus der Ukraine und das große Engagement, das an so vielen Stellen aufgebracht wird, damit die, die dem Schrecken entfliehen konnten, einmenschenwürdiges Leben in einstweiliger Sicherheit führen können. Es ist so gut, zu sehen, wie es gehen kann.

Von eben denselben Staaten aber werden Menschen aus den Kriegsgebieten des Nahen und Mittleren Ostens, Menschen aus der Armut Westafrikas an den Grenzen zurückgehalten und in den Tod getrieben, werden in Lager gepfercht oder, wenn sie nicht auf dem Mittelmeer ertrunken sind, hier durch die Mühlen der Bürokratie drangsaliert und kleingehalten.

(5) Die Verlogenheit der vielen Debatten, die der ganzen Komplexität der aktuellen Geschehnisse nicht mehr gerecht werden, bereitet mir großen Kummer; allen voran das vorhersehbare Scheitern von über 30 Jahren Osteuropapolitik, die Arroganz und Gier westlicher Entscheidungsträger und die offensichtlichen Lügen des Regimes in Moskau, das damit sämtliche Einschränkungen von Freiheit, Gleichheit und Geschwisterlichkeit und dazu diesen Krieg rechtfertigt.

(6) Mich bekümmert der so schnell und selbstsicher vollzogene Umschlag in die Remilitarisierung des Denkens, der Sprache, des politischen Handels und nicht zuletzt der Bilder, dass Militär in Aktion wieder normal wird und pazifistische Positionen aus der Debatte durch die alten Reflexe a la 5. Kolone Moskaus ausgeschlossen werden, dass, ausgelöst durch offene Drohungen, die alten Bilder einer atomaren Weltvernichtung wieder zurückkommen.

(7) Mich bekümmert zuletzt in meiner Reihe heute, dass ich nirgendwo auch nur Ansätze einer neuen Idee von Sicherheit, Gerechtigkeit und Zusammenarbeit, für ein gutes und in allem friedliches Leben entdecken kann. Wir rauschen seit Jahren, ausgelöst durch unsere Lebens- und Wirtschaftsweise, von einer Megakrise in die nächste; die kommenden zeichnen sich ab oder wir stehen bereits mittendrin. Der Russische Krieg gegen die Ukraine hat jetzt den letzten Sichtschutz weggerissen.
Unser Versagen an der Gestaltung guten und gerechten Lebens liegt offen zutage. Es wird kein Weiterso mehr geben.

Ja, ein tiefer und schlimmer Riss geht durch diese Welt. Es macht mich ratlos und sorgenvoll. Nur einen Weg sehe ich, den Riss wieder zu kitten. Es wird Euch nicht wundern, dass ich als Pfarrer der Evangelischen Kirche dazu auf ein Wort aus der Bibel zurückgreife. Im 85. Psalm gibt es eine wunderbare Wendung, die auch denen, die dem Glauben der Bibel nicht nahe sind, sicher etwas sagen wird: „Könnte ich doch hören, was Gott der HERR redet, / dass er Frieden zusagte seinem Volk
und seinen Heiligen, / damit sie nicht in Torheit geraten. / Doch ist ja seine Hilfe nahe denen, die ihn fürchten, / dass in unserm Lande Ehre wohne; / dass Güte und Treue einander begegnen, / Gerechtigkeit und Friede sich küssen.“

Gerechtigkeit und Friede müssen sich küssen, dass wir aus der Torheit dieser Zeit einen Ausweg finden. All das heißt für mich: Wir gewinnen auch heute den Frieden und die Sicherheit nicht mit noch mehr Krieg. Wir gewinnen Frieden und Sicherheit nur mit einem Aufbruch aus dem Schrecken und dem Kummer hin zu einem gerechten Leben für alle Menschen.

Eine große, vielleicht eine zu große Aufgabe, aber wer sie nicht versucht, wird sie auch nicht erreichen. Es ist unsere Aufgabe, Eure und meine. Sie bleibt ein Leben lang. Mich macht die Gemeinschaft heute und hier hoffungsvoll, dass wir gemeinsam an diese Aufgabe gehen können. Und eins erzähle ich noch zum Schluss. Die vorhin erwähnte Bachkantate endet den Gesang über die Bekümmernisse mit dem Trost, den die geschundene Seele von Gott erfährt und der ihr neues Leben
schenkt. Solcher Trost und solch neues Leben ist Ostern. Morgen ist es so weit. Wären die Frauen und die Jünger in ihren Bekümmernissen sitzen geblieben und nicht zum Grab des Gekreuzigten gegangen, hätten sie das neue Leben nicht entdeckt. Es gibt ein neues Leben, das nicht vom Lärm der Waffen und unserem Kummer verdeckt wird. Wir müssen es entdecken und in die Welt tragen. Das ist Ostern. Dieser Tag soll Euch stärken und kräftigen für die Wege, die vor uns liegen. Behütete,
friedliche Zeit Euch allen, den Menschen in der Ukraine und in Russland und der ganzen Welt.

 

Maximilian Heßlein ist Wirtschafts- und Sozialpfarrer bei Kirchlichen Dienst in der Arbeitswelt (KDA) der Ev. Kirche.