Redebeitrag für den Ostermarsch Heidelberg am 16. April 2022

 

- Es gilt das gesprochene Wort -

 

Liebe Freundinnen und Freunde,

der Krieg in der Ukraine bewegt uns alle. Er ist so nah, näher als Afghanistan, Irak, Syrien, Jemen, näher als der Balkan oder die Kriege in Afrika.

Und weil unsere Empathie so groß ist mit den Opfern des Aggressors und Despoten, dem Menschenleben in der Ukraine nichts wert sind, wurde mal schnell die Zeitenwende eingeläutet: Aufrüstung statt Abrüstung.., als ob Friedenspolitik etwas Naives sei, aus der Welt Gefallenes; aber dazu sagen alle anderen Redner*innen etwas, ich beschränke mich auf den Aspekt „Flucht und Vertreibung“.

In ganz Europa herrscht große Solidarität: Tausende Menschen bieten Zimmer für fliehende Menschen aus der Ukraine bei sich an, helfen an der Grenze oder bringen die Menschen mit privaten Bussen und PKWs in Sicherheit. Seit Jahren handeln die europäischen Nationalstaaten das erste Mal einstimmig in Migrationsfragen und zeigen große Aufnahmebereitschaft und Solidarität. Es passiert, was passieren muss: Schnell und unbürokratisch wird alles dafür getan, Menschen, die vor Krieg und Verfolgung fliehen, in Sicherheit zu bringen. Es zeigt: ALLES IST MÖGLICH!

  • Ja, Menschen können legal auch ohne Visum einreisen!
  • Ja, schneller und unbürokratischer Schutz ist möglich!
  • Ja, Menschen können aussuchen, in welchem europäischen Land sie am liebsten leben wollen!
  • Ja, wir können alle schutzsuchenden Menschen, in kürzester Zeit in Europa aufnehmen!
  • Ja, Menschen können hier sofort ihr Leben weiterführen, und direkter Zugang zum Arbeitsmarkt ist möglich! Es wird ihnen nicht wegen mangelnder Mitwirkung bei ihrer Abschiebung oder wegen mangelnder Identitätsnachweise der Zugang zum Arbeitsmarkt entzogen.
  • Sie müssen keinen Asylantrag stellen und demütigende Verhöre und demütigende Behandlung durch Sozialbehörden über sich ergehen lassen.

Das wäre doch mal eine Zeitenwende!

Doch: für Menschen, die aus Syrien, dem Irak, Afghanistan oder anderen umliegenden Kriegs- und Krisengebieten aus genau den gleichen Gründen fliehen, ist das derzeit nicht möglich. Sie müssen sich auf eine lebensgefährliche Flucht begeben, werden Monate in Lagern an den EU Außengrenzen festgehalten, illegal gepush- und gepullbackt und müssen langwierige und psychisch belastende Verfahren in Deutschland ertragen. Doch jetzt sehen wir: Eine solidarische Migrationspolitik ist möglich!

Wir fordern: Das muss jetzt auch für ALLE Menschen, die aus Kriegs- und Krisengebieten fliehen, möglich sein!

Und unter Krisengebieten verstehen wir selbstverständlich auch all jene, die durch die ausbeuterische Politik der europäischen Staaten in Armut verharren und die rücksichtslose Klimapolitik der Industriestaaten mit Dürre und Überschwemmungen bezahlen.

Konkret heißt das: die in den Koalitionsverträgen versprochenen Aufnahmeprogramme für geflüchtete Menschen aus Afghanistan und die, die an den EU-Außengrenzen gestrandet sind, müssen umgesetzt werden, und zwar schnell!

Zum zweiten: Wir verurteilen scharf den Rassismus in dem Land, dessen Bevölkerung wir beistehen wollen: Dass Persons of Colour, die z.B. in Charkiw studiert haben, in Kiew und Lwiw nicht in den Zug, der sie in den Westen bringen sollte, einsteigen durften oder sogar rausgeschmissen wurden, ist inakzeptabel. An der Grenze wurden ebenfalls vielen von ihnen Schwierigkeiten gemacht.

Zum dritten: zu tausenden verlassen nun russische Oppositionelle ihr Land, weil sie nicht ertragen können, dass sie nicht die Wahrheit sagen dürfen, nicht demonstrieren dürfen, dass ihre Kommunikationswege verboten werden. Auch ihnen gilt unsere ganze Solidarität – ebenso denen, die schon im Westen sind, und nun nicht zurückgehen können, weil sie sich geoutet haben gegen den Krieg.

Lasst uns unsere großen Perspektiven nicht verlieren: Schwerter zu Pflugscharen! Niederlassungsfreiheit nicht für’s Kapital, sondern für alle Menschen!

Vielen Dank.

 

Mia Lindemann ist aktiv bei der Initiative Seebrücke und Mitglied des Flüchtlingsrates.