Redebeitrag für den Ostermarsch Augsburg am 3. April 2021

 

- Sperrfrist: 3. April 2021, Redebeginn: 12.30 Uhr -
- Es gilt das gesprochene Wort -

 

Russland

 

Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger!

Am 22. Juni werden wir wieder einen schlimmen Gedenktag begehen. Vor 80 Jahren, am 22.6.1941, begann eins der größten Verbrechen der Menschheitsgeschichte, der deutsche Überfall auf die

Sowjetunion. In meiner Familie wurde es als „Russlandfeldzug'“ bezeichnet. Das Datum ist tief in meine eigene Familiengeschichte eingegraben. Meine Eltern waren 1941 frisch verheiratet, als mein Vater eingezogen wurde. Er führte ein Kriegstagebuch, in äußerster Knappheit geschrieben. Zum 22.6. findet sich folgender Eintrag: „3:10 Uhr Beginn des Rußlandkrieges durch Trommelfeuer aller Kaliber, gewaltiger Eindruck, deutsche Stukas brummen dazwischen, einer stürzt brennend ab, vielleicht durch eigene Artillerie getroffen.''“Wenn es ein mulmiges Gefühl gab, dann steht es allenfalls zwischen den Zeilen dieses Tagebuchs. Der Krieg gegen die Sowjetunion war in Deutschland keineswegs unpopulär; die Nazi-Propaganda hatte ganze Arbeit geleistet. Auf sowjetischer Seite starben ca. 24 Millionen Menschen, 14 Millionen davon Zivilpersonen. Bis zu eine Million Menschen sind allein durch die zweijährige Blockade von Leningrad verhungert. Mein Onkel, dessen Namen ich trage, war auf deutscher Seite dabei und ist dort umgekommen. Mein Vater hatte mehr Glück; er wurde auf dem Weg nach Stalingrad gerade noch rechtzeitig verwundet.

Warum sollen wir uns heute mit diesen Monströsitäten beschäftigen? Nicht, um die Generation meiner Eltern zu beschuldigen. Die waren weder dümmer noch unmoralischer als die heutigen. Sie waren allerdings der NS-Propaganda ausgeliefert, gut vorbereitet vom extremen Nationalismus der Kaiserzeit. Wir „Nachgeborenen“ fochten Kämpfe mit ihnen aus, nicht ohne einige Selbstgerechtigkeit. Und doch gab uns diese Generation einen historisch kurzen Moment lang die Chance, das Ungeheuer von innen zu erkennen, das Entstehen des Ungeheuerlichen mitzuvollziehen statt es nur kopfschüttelnd und verständnislos von außen zu betrachten. Es hätte

die Chance für ein abgrundtiefes Erschrecken und daraus eine Immunisierung gegen die Propaganda der Feindschaft und des Krieges geben können. Aber diese Chance wurde in Deutschland viel, viel zu wenig wahrgenommen. Die nicht abreißende Kette von Kriegen mit deutscher Billigung oder Beteiligung zeigt es: Korea, Vietnam, Irak, Afghanistan, Irak, Libyen, Syrien, Jemen.

Und Russland? Wieder einmal sind die Beziehungen des Westens zu Russland auf einem historischen Tiefstand. Der neu gewählte US-Präsident Biden nennt seinen russischen Kollegen einen „Killer“'. Amerikanische Präsidenten haben angeordnet, Menschen in fernen Ländern durch Drohnen (mit Hilfe der Relaisstation in Ramstein) umzubringen, aber sie werden nicht Killer genannt. Mögliche Menschenrechtsverletzungen werden immer nur beim politischen Gegner angeprangert. „Was siehst du den Splitter in deines Bruders Auge, aber den Balken im eigenen Auge nimmst du nicht wahr?'“ (Mt.7,3) Die Medien sind voll auf Linie. Man wird keine Schlagzeile über Russland finden, die etwas Gutes beinhaltet. Nicht einmal ihr Corona-Impfstoff durfte etwas taugen – erst jetzt, wo es an allen Ecken und Enden hapert, taugt er vielleicht doch etwas.

Es ist, als dürfe man nichts Gutes über Russland sagen, ohne die eigenen „Werte“ zu verraten. Die ehemalige Russland-Korrepondentin Gabriele Krone-Schmalz schrieb kürzlich zu dieser Attitüde ihrer Kolleg*innen: „Der Kabarettist Dieter Nuhr hat das mal so formuliert: ‚Wenn sich Journalisten als Influencer betrachten statt als Berichterstatter, wird's problematisch.‘ Genau das ist das Problem. Viel zu viele scheinen sich berufen zu fühlen, ihre Kundschaft auf den ‚richtigen‘ Weg zu führen, was immer das sein soll. Das ist wahrlich nicht die Aufgabe von Journalisten.“ Das ist Propaganda, sollte man ergänzen.

Jeder innere Konflikt in diesem großen Nachbarland der EU wird hämisch ausgeschlachtet, man ist ja Verteidiger der Menschenrechte -- jedenfalls in anderen Ländern. Wäre Russland schwach, wie es der Irak 2003 war, würden westliche Politiker nicht zögern, auch mit Gewalt die Seite zu unterstützen, die ihren Interessen am besten zu dienen scheint, so wie sie die Kurden im Irak für ihre Interessen ausgenutzt haben. Da dies in Russland (noch) nicht geht, müssen sie sich auf Sanktionen beschränken, die natürlich keine in irgend einem Sinne positive Wirkung zeigen, aber gleichzeitig können sie den militärischen Druck immer weiter erhöhen.

Aber, sagen einige Gutwillige unter uns, soll man denn alles billigen, was in Russland und anderen Ländern passiert? Ist es nicht richtig, die Unterdrückung Oppositioneller mit Sanktionen zu beantworten? Macht man sich nicht mitschuldig, wenn man nicht tut, was in seiner Macht steht?

Und ist nicht die Erhöhung des Drucks das Einzige, was wir von außen tun können, um zu helfen?

Die Erhöhung des Drucks hilft aber nicht, sondern verschärft die Situation im Land. Sie vernichtet zudem die Möglichkeit, durch Gespräche das eine oder andere Problem einvernehmlich zu lösen.

Aber was kann man denn sonst tun?

Es gibt ein interessantes neues Buch, das sich mit dieser Frage auseinandersetzt: „Vom Lassen der Gewalt“ von Ullrich Hahn, dem Präsidenten des deutschen Zweiges des Internationalen Versöhnungsbundes. Darin wird ausgeführt, dass das Tun oft nicht möglich ist, das Lassen aber schon: das Lassen der eigenen bösen Absichten, das Lassen der eigenen Menschenrechtsverletzungen, das Lassen gewalttätiger „Lösungen“, die neues Unrecht herbeiführen. (www.bod.de/buchshop/vom-lassen-der-gewalt-ullrich-hahn-9783751944427)

Auch im Verhältnis zu Russland wäre vor allem das Lassen zu empfehlen: das Gespräch nicht abreißen lassen, nicht zulassen, dass sich die Tür verschließt, die lächerlichen aber demütigenden Sanktionsmaßnahmen und erst recht jede indirekte Gewaltandrohung durch militärischen Druck unterlassen. Stattdessen Achtung vor dem Anderen bis in die Wortwahl hinein und Mitbedenken seiner lebenswichtigen Interessen. Nur das Gespräch kann zu Lösungen führen, die für alle akzeptabel sind.

Das Menschheitsproblem des Krieges und der Feindschaft hat eine Lösung: „Ihr habt gehört, dass gesagt worden ist: Du sollst deinen Nächsten lieben und deinen Feind hassen. Ich aber sage euch: Liebt eure Feinde und betet für die, die euch verfolgen, damit ihr Söhne und Töchter eures Vaters im Himmel werdet; denn er lässt seine Sonne aufgehen über Bösen und Guten, und er lässt regnen über Gerechte und Ungerechte“ (Mt 5, 43-45). Was „gesagt worden ist“ kennen alle, doch das „Ich aber sage euch“ ist seit 2000 Jahren ungehört verhallt. Ich kenne jedoch keine andere, keine billigere Lösung, im persönlichen wie im politischen Bereich. Menschen wie Mahatma Gandhi oder Martin Luther King hatten das verstanden.

Vielen Dank!

 

Prof. Dr. Jost Eschenburg ist aktiv bei der Pax Christi Gruppe in Augsburg.