Undurchdringliche Mehrheit im Propagandaschlaf
Am Kriegsausbruchstag protestieren Moskauer gegen den Einmarsch in die Ukraine
Am Kriegsausbruchstag protestieren Moskauer gegen den Einmarsch in die Ukraine
Bild: Акутагава - Own work, CC BY-SA 4.0

Wie nehmen Menschen in Russland den russisch-ukrainischen Krieg wahr und wie beurteilen sie ihn? Das ist der zweite Text der Blogserie "Putins Krieg mit den Augen eines Deutschrussen". (2/7)

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Der Krieg ist in Russland nicht gleich Krieg: Wer das Wort in den Mund nimmt oder über Verbrechen der russischen Armee gegen die ukrainische Zivilbevölkerung spricht, riskiert bis zu 15 Jahren Haft [1]. Alle Medien, welche den russischen Vernichtungsfeldzug beim Namen genannt hatten, wurden geschlossen, auch gegen Einzelpersonen wurde wegen „Diskreditierung der russischen Streitkräfte“ rigoros vorgegangen. Faktisch gilt im heutigen Russland Militärzensur, es darf ausschließlich von einer „militärischen Sonderoperation" gesprochen werden. Die seit der Maidan-Revolution und der Krim-Annexion auf Hochtouren laufende antiukrainische Propaganda, die acht Jahre lang das Land in den Dreck zog und unter anderem als ein von Nazis regiertes Marionettenregime präsentierte, zeitigt jetzt ihre Wirkung. Da für die Mehrheit der Russen das Fernsehen, welches das ukrainische Volk entmenschlichte, Hauptinformationsquelle bleibt [2], unterstützen viele den Einmarsch in die Ukraine. Selbst, wenn sie ihn so nicht nennen.

Eindeutig quantifizierbar ist der Anteil der Kriegsunterstützer und -gegner jedoch nicht. In einer geschlossenen Gesellschaft – Putins Russland erfüllt (Stand heute, 27. April 2022) alle 14 Merkmale des Ur-Faschismus nach Umberto Eco [3] – funktionieren soziologische Methoden nicht. Der Interviewer wird als verlängerter Arm des Staates gesehen: Aus der Frage ,,Unterstützen Sie die Militäroperation in der Ukraine?" wird „Sind Sie für oder gegen das Vaterland?“. Deswegen sind die Ergebnisse einer Ende März durchgeführten repräsentativen Umfrage des Meinungsforschungsinstituts „Lewada-Zentrum“ (mit dem Qualitätsprädikat „ausländischer Agent" ausgezeichnet), 83% der Russen unterstützten Putins Arbeit [4], mit Vorsicht zu genießen. Trotzdem wäre es keinesfalls falsch zu behaupten, dass die absolute Mehrheit der russischen Bevölkerung den Einmarsch in die Ukraine gutheißt. Es lässt sich nicht sagen, ob dem auch so wäre, würden diese Menschen andere Informationsquellen nutzen als die von der staatlichen Propaganda durchtränkten Medien, wären sie über die Gräueltaten der russischen Armee informiert. Zu viele haben den Draht zur Realität verloren, zu viele nehmen die Entnazifizierungsmär für bare Münze.

Deutlicher als je offenbart der russisch-ukrainische Krieg, dass die Russen in zwei unterschiedlichen medialen Realitäten leben: Der Großteil übernahm aus der staatlichen Propaganda Schreckensszenarien über die belagerte Burg Russland, die durch die NATO bedroht sei. Sie müssen jetzt den grob zusammengebastelten und einander widersprechenden propagandistischen Lügen glauben, wie 1.) Die Ukrainer hassten die Russen schon immer, gleichzeitig ist es dasselbe Volk, 2.) Amerikaner / NATO / “der Westen“ wollen die Ukraine einnehmen, gleichzeitig braucht dieses arme Land in Europa niemand, 3.) Putin hatte von vornherein keine Wahl, ließ sich aber von den „westlichen Partnern“ provozieren. Selbst wenn sie Unstimmigkeiten in der offiziellen Berichterstattung erkennen, dürfen sie es sich selbst nicht eingestehen, sonst geht ihr gesamtes Weltbild unter. Die ziemlich simple Erkenntnis, dass die Handlungen der russischen Armee denen der deutschen Besatzer im Zweiten Weltkrieg erschreckend ähnlich sind, würde für Millionen Russen den Bezugsrahmen sprengen. Egal, wie stark die Beweise sind: Viele werden es nie glauben können. Zu schmerzhaft wäre das Erwachen aus dem gemütlichen Schläfchen, in welches sie von der russischen Propaganda gelullt wurden, wo sie alle immer „die Guten“ waren. Plötzlich wäre das eigene Land ein Täter und kein Opfer. Plötzlich müssten die angeblichen Nazis und „Befreier“ ihre Rollen tauschen. So ist das kein Wunder, dass viele gereizt und aggressiv reagieren, wenn sie mit einer Sichtweise konfrontiert werden, die von der der staatlichen Propaganda abweicht. Das ist das Tragische: Die allermeisten Russen im Land wissen einfach nicht, was in der Ukraine passiert. Sehr viele können, sehr viele wiederum wollen es nicht wissen.

Der andere, deutlich kleinere und ebenso nicht eindeutig bezifferbare Teil der russischen Bevölkerung ist gegen die Staatspropaganda immun, bezieht seine Nachrichten aus den unabhängigen Internet-Medien. Nur diese wenigen verstehen in vollem Maße, was in der Ukraine passiert und sind in der Lage, die Kluft zwischen den Erzählungen kremltreuer Medien und den tatsächlichen Handlungen der russischen Armee zu erkennen. Bei der Beurteilung von Putins Handlungen gibt es ein ausgeprägtes Generationengefälle. Für viele junge Russen ist das der erste Krieg, den sie als einen solchen wahrnehmen und der sie persönlich betrifft. Manche sind regelrecht geschockt, dass das eigene Land den Nachbarstaat zerfleischt. Die recht sporadischen Proteste, gegen die die Militärpolizei mit aller Härte vorgeht, wurden maßgeblich von den jungen Menschen getragen. Einige haben dabei unglaublichen Mut bewiesen und ihre Stimme erhoben, wohl wissend, dass sie zwangsläufig verhaftet werden. Doch entscheiden sich die allerwenigsten, ihren Protest öffentlich kundzutun. Das kann man den Menschen auch nicht übelnehmen, denn staatliche Repressionen können für sie und ihre Familienangehörigen verheerende Folgen haben.

Die Älteren wiederum erinnern sich unschwer an den verlustreichen Einmarsch in Afghanistan oder an die Tschetschenienkriege, sie nehmen den jetzigen Krieg als nichts Außergewöhnliches wahr. Der Umgang mit dem Tod ist in Russland ein anderer als zum Beispiel in Deutschland, viel lässiger nämlich. Zehntausend tote Soldaten – darunter Jungs in ihrem Pflichtwehrdienst – mehr, zehntausend weniger… Das menschliche Leben an sich ist in Russland viel weniger wert als im sogenannten Westen, das seit Jahrhunderten bestehende Prinzip „Die Weiber gebären sowieso die Neuen“ ist nach wie vor in Kraft. Deswegen bewirken auch die Todesmeldungen und die in Särgen heimgekehrten Soldaten keine Neueinschätzung dieses Krieges. Krieg wird in Russland bis heute als legitimes Mittel zur Konfliktlösung gesehen, begünstigt durch eine chauvinistisch-patriotische Erziehung und den Siegeskult. All das gab es bereits zu Sowjetzeiten, es wurde nur marxistisch-leninistisch gefärbt, also ist die heutige Realität in den Augen vieler nicht allzu ungewöhnlich.

Die Bedeutung dieses Krieges für die russische Bevölkerung jetzt sollte man nicht überschätzen. Für die allermeisten ändert sich nichts in ihrem täglichen Leben, durch die Sanktionen werden sie einfach nur noch ärmer. Dieser Krieg markiert keine Zäsur in ihrem Leben, schließlich seien sie apolitisch und interessierten sich nicht dafür: eine in Russland extrem verbreitete Haltung. Zwar gibt es eine kleine kriegslüsterne Hardliner-Truppe – dessen informeller Sprecher, ehemaliger Separatistenführer und Kriegsverbrecher Igor Girkin, kritisiert die russische Führung als zu weich –, welche beim Ukraine-Krieg den Endsieg fordert und selbst für den Kreml zu radikal ist. Doch sind die meisten Russen von der „militärischen Sonderoperation“ mäßig begeistert oder ihr gegenüber komplett gleichgültig. Der winzige Teil des russischen Volkes, der am 24. Februar in einer anderen Realität aufwachte, empfindet vor allem Scham und Machtlosigkeit.

Mitte März war von zweihunderttausend aus Russland nach Kriegsbeginn ausgereisten Menschen die Rede [5]. Die Zahl dürfte sich weiter erhöhen, denn viele fürchten die Grenzschließungen oder die totale Mobilisierung. Trotzdem ist das für ein knapp 140 Millionen Menschen zählendes Land vergleichsweise wenig. Ausgereist sind nicht die Putin-Gegner. Denn ohne den von ihm angezettelten Krieg würden sie in Russland glücklich und zufrieden leben. Doch verwandelte sich Russland mit einem Fingerschnips in einen zweiten Iran. Ganze Berufsgruppen – allen voran Informatiker – verlassen das Land aus Perspektivlosigkeit. Unter den Jungen, von denen sich die Hälfte bereits vor dem Krieg keine Zukunft in Russland vorstellen konnte [6], ist jetzt der Wille abzuhauen enorm. Russland verliert damit seine klügsten Köpfe.    

Die Bedeutung dieses Krieges wird für die Russen nur dann deutlicher, wenn Putin ihn verloren hat. Dann sind die Risse in der Propaganda-Matrix nicht mehr zu übersehen. Leider wird das russische Volk auf die harte Tour lernen müssen, dass es diesen Vernichtungskrieg gab, dass es ein von einem faschistischen Diktator entfesselter Krieg und keine „Sonderoperation“ war, dass die russische Armee barbarische Taten beging. Erst nachdem es im Massenbewusstsein verankert wird, gibt es für das Land einen Hoffnungsschimmer.

 

Alexander Zaslawski

 

Über diesen Blog:

Das ist der zweite Text der Blogserie "Putins Krieg mit den Augen eines Deutschrussen", welche ich im Rahmen meines Praktikums beim Netwerk Friedenskooperative erstelle. Ich freue mich über Anregungen, Feedback und Kritik. Ich bin unter a [dot] zaslawski [at] friedenskooperative [dot] de zu erreichen.

 

Fußnoten:

[1]https://www.rnd.de/politik/russland-bis-zu-15-jahre-haft-fuer-falsche-in...

[2]https://www.levada.ru/2021/08/05/rossijskij-medialandshaft-2021/

[3]https://www.pressenza.com/de/2017/10/14-merkmale-des-ur-faschismus-nach-..., auch die fünf Faschismuskriterien aus der BPB-Definition sind natürlich erfüllt: https://www.bpb.de/kurz-knapp/lexika/politiklexikon/17480/faschismus/

[4]https://www.levada.ru/2022/03/30/odobrenie-institutov-rejtingi-partij-i-...

[5]https://russian.eurasianet.org/с-начала-войны-россию-покинули-до-200-тысяч-человек

[6]https://www.levada.ru/2021/06/09/emigratsiya-2/