Redebeitrag für die Veranstaltung zum Antikriegstag in Freiburg am 1. September 2018

 

- Es gilt das gesprochene Wort -

 

Zivilgesellschaft, Utopien und eine neue Friedensbewegung.

 

Sehr geehrte Damen und Herren,
liebe Freundinnen und Freunde,

in den nächsten Minuten möchte ich mit Ihnen über uns nachdenken, über die Friedensbewegung hier in Freiburg und anderswo.

Wenn Ihnen mein sprachliches „Selfie“ gelegentlich wie ein Zerrspiegel vorkommt, bitte ich schon jetzt um Ihre freundliche Nachsicht.

Ich frage mich oft, ob wir so etwas wie eine Folklore-Gruppe geworden sind, die ihre Rituale pflegt, mit immer gleichem Eifer bei bestimmten Ereignissen auftritt, und längst zu einem belanglosen Accessoire am Rande der Gesellschaft geworden ist.

Einer meiner Enkel, ich werde seinen Namen hier ändern, hat an der Tür seines Zimmers einen Aufkleber: „Staatsgebiet Julian. Ohne mich läuft hier nichts.“

Ein Junge ist stolz auf sein eigenes Zimmer und definiert seine Rechte. Man kann den Aufkleber auch pointierter interpretieren:

Hier hat jemand selbstbewusst eine klare Abgrenzung getroffen und ein Programm entworfen: Ohne mich läuft hier nichts.

Wie sieht es mit unserem Selbstbewusstsein, mit unserem Programm aus? Hat sich in der Tiefe unseres Gemüts schon die Gewissheit eingenistet: „Alles läuft hier ohne uns“? Unsere Mahnungen, erreichen sie jemanden? Oder sind wir in unserer Filter-Blase gefangen? Umweht uns gar ein Hauch von Resignation? Es gibt in unseren Tagen wahrlich viele Gründe, deprimiert oder resigniert zu sein.

Schauen wir uns wenigstens einen Grund möglicher Resignation an.

Ich meine das krachende Scheitern der Globalisierung. Diese bedeutet heute keineswegs so etwas wie eine ganzheitliche, verantwortliche Sicht auf die Welt, und sie hat die Menschen nicht wirklich einander näher gebracht. Zur Globalisierung gehörte in den frühen 1990er Jahren der Traum vom Internet als einem Ort wahrer Demokratie und freier Kommunikation. Dieser Traum wurde durch die kapitalistische Okkupation des neuen Mediums gründlich zerstört. Diese Okkupation zeigt sich heute am deutlichsten in den sog. Sozialen Medien. Der US-Amerikaner Jaron Lanier 1 drückte vor wenigen Monaten schrill den Alarmknopf. Lanier ist ein Internetpionier und bis heute einer der einflussreichsten Menschen im Silicon Valley. Begriffe wie „Virtual Reality“ und „Avatar“ stammen von ihm. 2014 erhielt er den Friedenspreis des deutschen Buchhandels. Aber schon im Titel seines neuen Buches2 zieht Jaron Lanier eine atemberaubend deutliche Grenze: „Zehn Gründe, warum du deine Social Media Accounts sofort löschen musst“3. Er deckt das perverse Geschäftsmodell von Facebook, Twitter, Instagram auf, das darin besteht, Menschen permanent auszuspionieren und verdeckt zu manipulieren.

Diese Werbeagenturen – nichts anderes sind social media – saugen gigantische Profite aus diesem für die Entwicklung der Gesellschaften höchst gefährlichen Geschäft. Es ist zum Verzweifeln, dass allein bei Facebook 2,34 Milliarden4 sog. „Nutzer“ gewinnbringend „Benutzte“ sind. Soweit der Blick auf einen möglichen Grund zur Resignation.

Und soviel zu unserem verbalen Selfie.

Ich mache hier den von Ihnen sicher erwarteten Schwenk zu Hoffnungsvolleren.

Im [Berliner] Tagesspiegel5 wurde die Migrationsforscherin Naika Foroutan gefragt, wie der moralischen Erosion unserer Gesellschaft zu begegnen sei. Sie antwortete mit zwei Aspekten:

1. „Die Zivilgesellschaft, die dieses Deutschland auch im Angebot hat, sichtbar zu machen“ und

2. „wir brauchen den Mut für Utopien zurück. … Wir brauchen im Grunde genommen eine neue Friedensbewegung“.

Recht hat sie.

Die Zivilgesellschaft umfasst Menschen und Gruppen „jenseits von Markt und Staat“, also alle, die sich ohne Interesse weder an Profit noch an Macht aus eigenem Antrieb für eine bessere Welt einsetzen.

Die Zivilgesellschaft ist unsere Abgrenzung, unsere Domäne, sie ist unser „Staatsgebiet“ – in der Sprache des Aufklebers von vorhin.

Als Zivilgesellschaft Korrektiv verfehlter Politik zu sein, das ist unser Selbstbewusstsein. Für dieses Selbstbewusstsein gewaltfrei einzustehen, das ist unser Programm.

Kommen wir zur Utopie. Wir müssen, so schief das klingen mag, unsere Utopien selbst in die Hand nehmen. Die wichtigste Utopie ist die weltweite Zivilgesellschaft, die „Global Civil Society“. Erste Ansätze dazu kennen wir. Mir geht es darum, dies 6 alles zu leben, die Global Civil Society in unseren Alltag hereinzuholen. Ich bekenne gern, dass Friedenskonferenzen in Mulhouse, Wien, San Francisco und Edinburgh mein Gemüt in der Substanz verändert, mich geprägt haben. Bleibt in unserer Reihe der Begriffe Zivilgesellschaft, Utopie und neue Friedensbewegung noch der dritte übrig.

Die neue Friedensbewegung ist schnell skizziert. Wenn unsere angeblichen Rituale echte Begegnungen werden, wenn wir uns als Zivilgesellschaft selbstbewusst und unmissverständlich in die Politik einmischen, wenn wir mit Mitstreiter*innen überall auf der Welt in geschwisterlicher Nähe zusammenarbeiten, wenn wir stolz darauf sind, wunderbare Utopien zu haben von einer gerechten, friedlichen und nachhaltig lebenden Welt, dann bin ich sicher, wird es bald eine erneuerte Friedensbewegung geben. Diese wird Einfluss haben, wenn sie konsequent und kompromisslos auftritt und radikal NEIN sagt zu allen Formen der Kriegsverherrlichung, der Kriegsvorbereitung und der Kriegsführung.

Dann mag der Satz des Aufklebers an Julians Tür bald abgewandelt für uns gelten: „Ohne uns läuft hier nichts.“

Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.

 

Klaus Schittich ist aktiv beim Freiburger Friedensforum.

 

Anmerkungen:

(1) https://de.wikipedia.org/wiki/Jaron_Lanier

(2) Lanier, Jaron (2018): Zehn Gründe, warum du deine Social Media Accounts sofort

löschen musst.

(3) https://www.deutschlandfunkkultur.de/internet-pionier-jaron-lanier-raus-..., mit Link zu einer [audio] Buchbesprechung.

(4) Stand Juli 2018, vgl. https://allfacebook.de/toll/state-of-facebook

(5) https://www.tagesspiegel.de/politik/migrationsforscherin-naika-foroutan-...

(6) Amnesty International, Terre des hommes, IPPNW u.a.