Friedenspolitischer Ratschlag:

Anker und Kompass der Friedensbewegung in einer zunehmend sich militarisierenden Welt

von Peter Strutynski

Damit konnte nun wirklich niemand rechnen: Über 350 Teilnehmer/innen aus ganz Deutschland sowie aus sechs weiteren europäischen Ländern trafen sich Anfang Dezember letzten Jahres beim 11. "Friedenspolitischen Ratschlag" in der Universität Kassel. In Kassel zeigte sich, dass ein gutes und vielfältiges thematisches Angebot, das Engagement zahlreicher wissenschaftlich ausgewiesener und interessanter Referentinnen und Referenten und die Diskussionsfreude von Friedensaktivist/innen aus allen Ecken der Republik jenes zugleich angenehme, spannungsvolle und solidarische Konferenzklima schaffen konnten, das die "Ratschläge" von Anfang an auszeichneten.

Die Plenarvorträge und 25 Arbeitsgruppen und Workshops befassten sich mit Fragen des europäischen Integrationsprozesses, dem Nahostkonflikt einschließlich der Lage im Irak sowie mit den gegenwärtigen und künftigen Konfliktkonstellationen in der Weltpolitik.In zahlreichen Beiträgen wurde Kritik an der militärisch gestützten Hegemonialpolitik der USA, die nach der Wiederwahl des US-Präsidenten Bush womöglich noch an Fahrt gewinnen werde. Der Marburger Politologe Frank Deppe sprach in dem Zusammenhang von einem "neuen Imperialismus", der sich von seinem klassischen Vorgänger, dem Imperialismus des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts dadurch unterscheide, dass es den imperialen Mächten (wozu Deppe auch die Europäische Union zählt) heute nicht mehr darum ginge, Kolonien zu erwerben oder fremde Länder zu unterwerfen, sondern mittels der Ausbreitung des Neoliberalismus möglichst alle potenziell profitablen Bereiche der Daseinsvorsorge privatkapitalistischer Kontrolle zu unterwerfen. Elmar Altvater, emeritierter Professor für Politische Ökonomie am Otto-Suhr-Institut der FU Berlin, nannte Beispiele dafür, wie die Liberalisierung des Weltmarktes und die "Vermarktwirtschaftlichung" der öffentlichen Dienstleistungen menschliche Sicherheit - verstanden als wirtschaftliches, soziales, kulturelles und emotionales Wohlergehen des Einzelnen in der Gesellschaft - zunehmend gefährde oder verunmögliche.

Horst Schmitthenner, bei der IG Metall zuständig für die Pflege des Kontakts mit außergewerkschaftlichen sozialen Bewegungen, ergänzte diese theoretische Sichtweise durch zahlreiche Beispiele aus dem betrieblichen Alltag, der Unternehmeroffensive gegen Arbeitnehmerrechte und der staatlichen Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik, wofür Hartz IV nur ein besonders markantes Beispiel sei. Viel Beifall gab es auch für die Berliner Journalistin und Schriftstellerin Daniela Dahn, Trägerin des Ludwig-Börne-Preises 2004, als sie die Teilnahme der Bundesregierung am völkerrechtswidrigen Jugoslawien-Krieg 1999 anprangerte und an die damals bewusst in Kauf genommenen zivilen "Kollateralschäden" erinnerte.

Stehende Ovationen erhielt der Gastredner des Kongresses am Sonntagmorgen, Peter Gingold. Der 86-Jährige sprach anlässlich des am 8. Mai 2005 anstehenden 60. Jahrestags der Befreiung von Faschismus und Krieg . Der ehemalige Widerstandskämpfer Gingold, der sich als junger Mann der französischen Résistance anschloss und gegen die Nazi-Wehrmacht kämpfte, erinnerte an den Traum der 1945 von sowjetischen und US-amerikanischen Soldaten aus den KZs befreiten Häftlingen, nach diesem schrecklichsten aller Kriege könne nun ein "ewiger Frieden" in einer Welt ohne Rüstung und Gewalt errichtet werden. Leider habe die Geschichte eine andere Entwicklung genommen und Rassismus, Fremdenfeindlichkeit, Antisemitismus und Islamophobie bedrohten wieder das Zusammenleben der Menschen, Aufrüstung und Präventikriege bedrohten zunehmend die internationalen Beziehungen.

Die Diskussion im Plenum - über die zahlreichen parallel durchgeführten Arbeitsgruppen kann hier nicht berichtet werden - konzentrierte sich auf die Frage, inwieweit die Europäische Union schon eine Militärmacht ist oder noch auf den "Pfad der friedenspolitischen Tugend" gebracht bzw. gezwungen werden könne. In seinem Eröffnungsbeitrag sah Peter Strutynski von der AG Friedensforschung und Sprecher des Bundesausschusses Friedensratschlag in Gestalt der EU-Verfassung und der bereits verabschiedeten Europäischen Sicherheitsstrategie (sog. Solana-Papier) drei große Gefahren auf die EU zukommen: 1) Krieg als Mittel der Politik werde weiter enttabuisiert, ja als ggf. unausweichliches Mittel zur Interessenwahrung des neu-formierten EU-Staatengefüges legitimiert. 2) Weitere Aufrüstung bzw. Rüstungsmodernisierung erhalten - nach Artikel 41 EU-Verfassung - für alle EU- Mitgliedstaaten Verfassungsrang. 3) Die Versuchung, regionale oder lokale Krisen eigenmächtig militärinterventionistisch zu lösen, werde zunehmen und damit weltweit neue Rüstungsdynamiken provozieren.

Der Wiener Politikwissenschaftler Dr. Thomas Roithner von der ÖSFK prangerte an, dass Österreich seit dem Beitritt zur EU kontinuierlich die in der Landesverfassung festgelegte "immerwährende Neutralität" massiv abbaue. Der Neutralitätsstatus Österreichs beinhalte die Absage an einer Kriegsteilnahme, keine Mitgliedschaft in einem Militärpakt und keine Truppenstationierung in Österreich. Die Aushöhlung dessen schreite stetig voran: Österreich beteilige sich an einer robusten "Battlegroup" der EU und der noch zu ratifizierende EU-Verfassungsvertrag sehe nicht nur eine robuste Militarisierung vor, sondern zudem eine Beistandsverpflichtung aller EU-Mitglieder, was die EU zu einem Militärpakt mache. Damit sei die "immerwährende Neutralität" Österreichs gebrochen. Roithner plädierte an uns Deutsche, die Debatte zur EU-Verfassung nicht nur in Österreich, sondern auch in den anderen Nicht-NATO-Staaten der EU Schweden und Finnland mehr zu beachten.

In sich anschließenden drei Kurzstatements weiterer ausländischer Gäste des Ratschlags machte zunächst der Belgier Ludo de Brabander darauf aufmerksam, dass sein Land das NATO-Hauptquartier aber auch die Zentralen der EU-Militarisierung beherberge und dass auch in Belgien Kampagnen gegen die EU-Verfassung gestartet wurden. Unabhängig von einer Verfassung seien bereits die EU-Rüstungsagentur und die Aufstellung von "Battlegroups" beschlossene Sache, die ihre Arbeit demnächst aufnehmen würden.

In einer kämpferischen Botschaft forderte der Grieche Irakis Tsavdaridis ein klares Nein der Friedensbewegung zur EU-Verfassung, weil dies zugleich ein klares Nein zu einer EU-Armee sei. Die Verfassung schreibe imperialistische Interventionen fest und ließe Volksbegehren nicht zu. Sie sei ein Fundament der EU, um den "Hunger des Großkapitals zu befriedigen."

Der Franzose Alain Rouy vom Mouvement de la Paix betonte, dass es wichtig sei, die Zusammenarbeit zwischen deutscher und französischer Friedenbewegung zu intensivieren, da beide Staaten eine Vorreiterrolle bei der Militarisierung der EU einnähmen. Er forderte, dass als erstes Ziel die Friedenpolitik in der Verfassung an den Anfang gestellt werden müsse. Rouy kritisierte, dass im französischen Staatshaushalt als einziger Titel der für Verteidigung nicht gekürzt werde, stattdessen insbesondere die Atombewaffnung ausgebaut würde. Die französische Friedenbewegung konzentriere sich auf die Atombewaffnung und führe im Rahmen der Kampagne "Abolition 2000" eine Dauerwache an den Stellen in Frankreich durch, wo Atomwaffen sind: in der Bretagne (U-Boote) und in Istre (Flugzeuge). Bemerkenswert sei, dass die Polizei dort nicht räume, sondern mit den Demonstranten diskutiere. Er plädierte dafür, gemeinsam die Idee eines friedlichen Europas voranzutreiben.

Lühr Henken, Sprecher des Bundesausschusses Friedensratschlag und dese Hamburger Forums für Frieden, Abrüstung und Zusammenarbeit.

Peter Strutynski, Mitglied der AG Friedensforschung an der Uni Kassel, Sprecher des Bundesausschusses Friedensratschlag und des Kasseler Friedensforums.

Internet: www.uni-kassel.de/fb5/frieden
 

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Peter Strutynski, AG Friedensforschung, Kassel, ist Sprecher des Bundesausschusses Friedensratschlag.