Rüstungsexporte in die Türkei

Aufstrebende Rüstungsexport- und Militärmacht Türkei

von Jürgen Grässlin
Krisen und Kriege
Krisen und Kriege

In den vergangenen Jahren machten die türkische Regierung und die türkische Generalität vielfach auf sich aufmerksam, einmal mehr in ungutem Sinne. Unter Führung des macht- und militärorientierten Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan wurden die Militärausgaben drastisch erhöht. Außenpolitisch ließ und lässt Erdoğan die Muskeln spielen – sei es in der Konflikteskalation mit dem NATO-Partner Griechenland um den Zugang zu Rohstoffen im östlichen Mittelmeer, sei es als aktive Kriegspartei im Libyenkrieg, sei es bei der Beschaffung russischer statt US-amerikanischer Waffen – wohlwissend um die harte Konfrontation mit dem NATO-Partner USA. Besonders dramatisch ist die Negativentwicklung im Bereich der Rüstungsexportpolitik.

Die Wahl von Recep Tayyip Erdoğan zum zwölften Präsidenten der Republik Türkei am 28.8.2014 markiert einen Wendepunkt. Danach wurden die außenpolitischen Ziele aggressiver gesteckt und die türkischen Militärausgaben massiv erhöht: von 12,3 (2015) auf 14,4 (2016), 15,5 (2017), 19,6 (2018) und nunmehr 20.8 Milliarden US-Dollar 2019. (1)

Türkische Rüstungsexport-Riesen im Großwaffenbereich
Mehr Geld bedeutet mehr Rüstungsbeschaffungen und -exporte. In seinem Ranking der Top 100 rüstungsproduzierender und -exportierender Unternehmen führt das Stockholm International Peace Research Institute (SIPRI) gleich zwei türkische Großkonzerne auf. Die Turkish Aerospace Industries (TAI) auf Platz 84 mit leicht steigenden Waffentransfers im Volumen von 1,070 Milliarden US-Dollar 2018. Zum Vergleich, 2017 hatten diese mit 1,065 Mrd. USD knapp daruntergelegen. (2)

Der eindeutige Gewinner der Aufrüstungspolitik aber ist der börsennotierte Rüstungskonzern Askerî Elektronik Sanayii A.Ş. (ASELSAN) mit Sitz in Ankara, der sich im Mehrheitsbesitz der türkischen Streitkräfte befindet. Der Großkonzern fertigt und exportiert Kommunikations- und Verteidigungsgeräte, Überwachungssysteme und Mittel zur elektronischen Kriegsführung. In den vergangenen Jahren verzeichnete das Unternehmen einen steten Aufstieg. War ASELSAN 2008 noch nicht in den SIPRI-Top-100 verzeichnet, so tauchte der Rüstungsriese 2012 auf Platz 87 auf und avancierte nach einer zehnjährigen Boomphase auf Platz 54 in 2018. (3)

Basis dieses Aufstiegs bilden die stetig steigenden Waffenexporte, die allein von 2017 auf 2018 um 41 % von 1,237 auf 1,740 Mrd. USD in die Höhe katapultiert wurden. Beide Unternehmen sind überwiegend auf den Export von Kriegswaffen ausgerichtet: TAI mit 86 %, ASELSAN gar mit 93 %. Ergänzend sei erwähnt, dass zahlreiche weitere rüstungsproduzierende Unternehmen in den vergangenen Jahren wirtschaftlich schnell gewachsen, jedoch noch außerhalb der Top 100 platziert sind. (4)

Das Ziel der Erdoğan-Regierung im 21. Jahrhundert ist klar definiert und wird mit Nachdruck verfolgt: der Aufbau einer landeseigenen Rüstungsindustrie, besonders im Bereich sogenannter Kleinwaffen.

Kleine Waffen, alte Verträge, neue Umgehungswege, tausende Tote
Über Jahrzehnte hinweg waren Heckler & Koch (H&K) und die Bundesregierung die maßgeblichen Lieferanten bzw. Genehmigungserteiler für Kleinwaffentransfers an das Militär der Türkei. Entscheidend dabei waren neben den Direktexporten aus dem H&K-Stammwerk in Oberndorf a.N. die Lizenzvergaben für das Schnellfeuergewehr G3 (1967 durch den Bund), das Sturmgewehr HK33 (1998 durch H&K) und die Maschinenpistole MP 5 (1983 durch H&K). Seither konnten die Kleinwaffen bei der Firma MKEK in Eigenregie bar jeglicher deutscher Kontrolle gefertigt und eingesetzt werden.

Die Folgen dieser völlig enthemmten Lizenzvergabepolitik waren bereits im Bürgerkrieg türkischer Streitkräfte mit kurdischen Kämpfern von 1984 bis 1999 fatal. In ihrer „Siegesbilanz“ verkündete die türkische Regierung: „Insgesamt betragen die Verluste bei den Terroristen 35.384.“ In dieser Propagandaschrift verschwiegen die Regierenden aus Ankara, dass die allermeisten Getöteten Zivilist*innen  der kurdischen Bevölkerung waren. (5)

Die Massenvernichtungswaffen G3 und MP5 wirken tödlich – die MP5 bis heute. In seinem INFOKASTEN „MKEK – Ein Superspreader deutscher Rüstungstechnik“ offenbart Otfried Nassauer einen topaktuell recherchierten Blick auf eine desaströse Lizenzvergabe gemessen an den Opferzahlen der tödlichsten aller Waffengattungen: eben der Kleinwaffen.

Deutsch-türkische Waffenbrüderschaft – aktuell bei Drohnenkriegen
Aktuelles Beispiel in einer langen Historie deutsch-türkischer Waffenbrüderschaft ist der Einsatz deutschen Know-Hows in türkischen Kampfdrohnen. Für das ARD-Politikmagazin „MONITOR“ resümiert Georg Restle: In Libyen oder Syrien kämen zunehmend Waffen zum Einsatz, „in denen eine ganze Menge deutscher Technologie stecken dürfte. Es handelt sich um Gefechtsköpfe – gezielt abgefeuert von Drohnen. [...] Wie wichtig dem türkischen Präsidenten Erdogan diese neuen Waffen dabei sind, kann man auf Bildern wie diesem sehen, wo er die Drohnen sogar per Hand signiert.“ Der MONITOR-Bericht – verfasst von Jochen Taßler, Nikolaus Steiner und Otfried Nassauer in seinem letzten großen Rechercheakt – dokumentiert den „Aufstieg der Türkei zur Drohnenmacht und welche Rolle deutsche Rüstungsexporte dabei spielen“. (6)

INFOKASTEN: MKEK – Ein Superspreader deutscher Rüstungstechnik

Die Maschinenpistole MP5 von Heckler & Koch ist seit Jahrzehnten ein Bestseller. Zu ihrer Verbreitung hat die staatliche türkische Waffenschmiede MKEK in Kirikkale bei Ankara einen erheblichen Beitrag geleistet. Seit 1983 hält sie eine Lizenz, um diverse Versionen der MP5 auch ohne Zulieferungen aus Deutschland produzieren zu können, darunter Standardversionen wie die MP5A3, aber auch die bei Spezialkräften und Geheimdiensten besonders beliebte Kurzausführung MP5K.

Bis 2014 war MKEK der einzige Hersteller von Maschinenpistolen in der Türkei. Erst dann kam ein weiteres Produkt auf den Markt, für das aber bis heute kein Export gesichert dokumentiert ist.  Deshalb ist davon auszugehen, dass (fast) alle der mindestens 20.702 Maschinenpistolen, die in den Jahren 2006 bis 2019 in 43 Länder exportiert wurden, MP5 aus der MKEK-Lizenzproduktion waren. Die Zahlen stammen aus den nur unvollständig abgegebenen offiziellen Jahresmeldungen der Türkei an das UN-Waffenregister UNROCA für diesen Zeitraum. Dort sind 21 Empfängerländer für die MP5 explizit genannt und weitere 22 gelistet, die mit Maschinenpistolen nicht genau bezeichneten Typs aus der Türkei beliefert wurden, bei denen es sich (fast) vollständig ebenfalls um MP5 gehandelt haben muss.

Als die Bundesregierung Heckler & Koch 1983 genehmigte, den Lizenzvertrag mit MKEK abzuschließen, wurde dieser an zwei Bedingungen geknüpft: die Produktion war nur „für den Eigenbedarf“ zulässig und MKEK erhielt „keine Exportrechte zugestanden“. Die 2006 bis 2019 an die Vereinten Nationen gemeldeten MP5-Exporte sowie alle,  die nicht an die Vereinten Nationen gemeldet wurden oder in den Jahren vor Einrichtung des Melderegisters geliefert wurden, verstoßen gegen diese beiden Lizenzbedingungen. Darunter auch Lieferungen an Länder wie Aserbaidschan, Saudi-Arabien, Georgien, die Demokratische Republik Kongo, Venezuela, Vietnam oder die Ukraine und Belarus.

Die Bundesregierung hat diese Verstöße nie geahndet. Sie hat das Geschehen scheinbar lieber erst gar nicht zur Kenntnis genommen. Im Sommer 2020 antwortete sie auf die Frage, ob MKEK die Sturmgewehre G3 und HK33 oder die Maschinenpistole MP5 noch produziere, lapidar mit dem Satz: „Die Bundesregierung hat keine Kenntnis davon, ob die angegebenen Waffen noch gefertigt werden.“ Beste Voraussetzungen also dafür, dass MKEK auch künftig viele jener Kunden beliefern kann, die Heckler & Koch aufgrund seiner „Grüne Länder Strategie“ heute nicht mehr zu beliefern verspricht.

Otfried Nassauer, Berliner Informationszentrum für Transatlantische Sicherheit (BITS, siehe www.bits.de). Der Autor verstarb Anfang Oktober.

Anmerkungen

1 Quelle: Türkei – Militärausgaben bis 2019; https://de.statista.com/statistik/daten/studie/322739/umfrage/entwicklun...

2 „The SIPRI Top 100 arms-producing and military services companies in the world excluding China, 2018”

https://de.wikipedia.org/wiki/Aselsan

4 SIPRI a.a.O

5 Grässlin, Jürgen: „Versteck dich, wenn sie schießen. Die wahre Geschichte von Samiira und Hayrettin und einem deutschen Gewehr“, München 2003, S. 282 und 393

6 Siehe hierzu „Erdogans Drohnenkriege: Auch dank deutscher Technologie?“ in MONITOR vom 20.08.2020 (ARD-Mediathek; https://www1.wdr.de/daserste/monitor/sendungen/drohnen-tuerkei-100.html).

Ausgabe

Rubrik

Hintergrund
Jürgen Grässlin ist Sprecher der Kampagne »Aktion Aufschrei – Stoppt den Waffenhandel!«, Bundessprecher der Deutschen Friedensgesellschaft - Vereinigte KriegsdienstgegnerInnen (DFG-VK), Sprecher der Kritischen AktionärInnen Daimler (KAD) und Vorsitzender des RüstungsInformationsBüros (RIB e.V.).