„NEIN heißt NEIN”

Belarus: Herausforderungen, Ergebnisse und Hoffnungen auf Frieden

von Olga Karatch
Schwerpunkt
Schwerpunkt

Am 24. Februar 2022 wachten die Menschenrechtsverteidiger*innen von „Unser Haus” wie viele andere Belaruss*innen gegen 5 Uhr morgens durch ständige Anrufe und SMS auf: „Der Krieg hat begonnen, Russland hat die Ukraine angegriffen!".

Später wird ein junger belarussischer Deserteur, der aus der belarussischen Armee nach Litauen geflohen ist, um nicht in den Krieg gegen die Ukraine geschickt zu werden, berichten, was er am 24. Februar in der Armee erlebt hat: „Wir alle, vom Soldaten bis zum Kommandeur, waren uns sicher, dass Lukaschenko einen Angriff befehlen würde, aber niemand wollte das tun, niemand wollte in den Krieg ziehen."

Wir trafen uns in unserem Büro, um Ideen zu entwickeln, was wir in dieser Situation tun könnten und welchen Einfluss wir nehmen könnten. Natürlich hatten wir vor, ukrainischen Geflüchteten zu helfen, aber dabei ging es um die Folgen des Krieges, und wir wollten einen strategischen Einfluss auf den Verlauf des Krieges und die Sicherheitslage in der Region nehmen.

Also setzten sich die Frauen von „Unser Haus” ein sehr ehrgeiziges Ziel: Sie beschlossen, Lukaschenko die Armee zu entreißen und die Beteiligung der belarussischen Armee am Krieg gegen die Ukraine zu verhindern und zu blockieren.

NEIN heißt NEIN

Uns war klar, dass wir nicht nur auf den Widerstand des belarussischen Verteidigungsministeriums stoßen würden, sondern auch auf die Geschlechterstereotypen der belarussischen Gesellschaft, auf jene toxische Männlichkeit, die als Vorbild für einen „echten Mann" gilt. Desertieren und die Weigerung, in den Krieg zu ziehen, wird in unserer Gesellschaft eindeutig als Schwäche und nicht als Stärke eines Mannes interpretiert. Obwohl die Armee die schrecklichsten Traditionen der patriarchalischen Erziehung und Initiation von Jungen bewahrt hat, die Gewalt, Schikanen, nicht gesetzlich geregelte missbräuchliche Beziehungen, außergerichtliche Hinrichtungen, Anstiftung zum Selbstmord, Folter und eine gefängnisähnliche Atmosphäre beinhaltet, wird sie von der belarussischen Gesellschaft immer noch als ein Ort wahrgenommen, an den „jeder Junge gehen muss, um ein Mann zu werden".

Wir haben beschlossen, unsere Kampagne „NEIN heißt NEIN" zu nennen, da sie von belarussischen Feministinnen ins Leben gerufen wurde, die aktiv gegen Patriarchat und toxische Männlichkeit kämpfen, und auch, weil das Thema systemische geschlechtsspezifische Gewalt betrifft. Wir glauben, dass auch Männer das Recht haben, „Nein!" zu sagen zu Gewalt, Patriarchat und dem Befehl, zu den Waffen zu greifen. Wir alle haben das Recht, „Nein!" zum Krieg und zur Aufforderung, zu den Waffen zu greifen und Menschen zu töten, zu sagen.

Wir veröffentlichten unseren Aufruf mit einem Video-Appell, den ich an die belarussischen Männer richtete, nicht in die Armee einzutreten und nicht zu den Waffen zu greifen. Das Youtube-Video wurde über 100.000 mal angesehen. Insgesamt wurden die Informationsmaterialien der Kampagne von etwa vier Millionen Nutzern der sozialen Medien aufgerufen. Spontan wurden Telegram-Kanäle eingerichtet, um belarussischen Kriegsdienstverweigerern zu helfen.

Wie es weiterging

Das belarussische Verteidigungsministerium verteilte im Februar 2022 über 43.000 Einberufungsbescheide, doch aufgrund des Kriegsbeginns und dank unserer aktiven Informationsinitiative gelang es ihnen lediglich, 6000 Wehrpflichtige zu sammeln. Dies war ein offensichtliches Versagen des belarussischen Verteidigungsministeriums, so dass am 12. Juli 2022 Generalmajor Aleksandr Shkirenko von seinem Posten als Leiter der Hauptabteilung für Organisation und Mobilisierung und stellvertretender Leiter des Generalstabs der Streitkräfte entlassen wurde.

Das belarussische Verteidigungsministerium hat aus seinen Fehlern bei der Frühjahrseinberufung 2022 gelernt und die Strategie geändert. Lukaschenko begann mit der Herbsteinberufung 2022 viel früher, nämlich am 4. Juli. Außerdem begann in Belarus eine tatsächliche Auszählung der rekrutierbaren Bevölkerung, die von den Bezirksexekutivkomitees per Satzungsbeschluss durchgeführt wurde. Nicht nur die Wehrpflichtigen, die die so genannten „persönlichen" Einberufungsbescheide erhalten hatten, mussten in den Einberufungs- und Rekrutierungsbüros erscheinen, sondern es wurden verschiedene Vorwände erfunden (z. B. „Überprüfung der Dokumente"), um die gesamte männliche Bevölkerung im Alter von 18 bis 65 Jahren vorzuladen. Am 4. Februar 2023 wurde ein gemeinsamer Beschluss des Verteidigungsministeriums und des Ministeriums für öffentliche Gesundheit veröffentlicht (und trat sofort in Kraft), der die Anforderungen an den Gesundheitszustand der wehrpflichtigen Bürger reduzierte. Seitdem gelten Personen mit einer Kurzsichtigkeit eines Auges in einem der Meridiane von 6,0 bis 8,0 Dioptrien, mit einigen Formen von Fußdeformität, mit Erkrankungen des endokrinen Systems, Essstörungen, Erkrankungen des Nervensystems und Herzerkrankungen, Hauterkrankungen, Wirbelsäulenerkrankungen usw. als wehrdiensttauglich. 

Unser Aufruf hatte Erfolg: Bis heute sind rund 22.000 Männer ihm gefolgt; die meisten haben Belarus verlassen und befinden sich im Exil. Wer im Land blieb, musste mit Strafverfolgung rechnen: Allein im Jahr 2022 wurden etwa 400 Strafverfahren wegen des Versuchs, sich der Wehrpflicht zu entziehen, eingeleitet.

Am 21. Februar 2023 verabschiedete das von Lukaschenko kontrollierte Parlament neue Änderungen des Strafgesetzbuchs und führte die Todesstrafe für „Hochverrat" für Militärangehörige ein; „Hochverrat" bedeutet für ihn, die Armee zu verlassen und zu uns zu fliehen. Außerdem wurde eine strafrechtliche Verantwortlichkeit für jede Hilfeleistung an einen Deserteur eingeführt, die das Gesetz in verdrehter Weise als „vorsätzliche rechtswidrige Verbringung eines Trägers von Staatsgeheimnissen, der über Geheimnisse der Republik Belarus oder ausländischer Staaten verfügt, die der Republik Belarus offenbart wurden, außerhalb der Republik Belarus" bezeichnet. Wer Deserteuren in Belarus Hilfe leistet, wird mit fünf Jahren Haft bestraft.

Internationale Unterstützung der Kampagne

Die Kampagne "NEIN heißt NEIN" rief vom ersten Tag an eine starke Abneigung beim belarussischen Regime hervor. Verschiedenste Angriffe begannen gegen die Organisation. Jetzt, im Rückblick, verstehen wir, dass wir keine Chance hatten, zu überleben und damit allein fertig zu werden. Zu unserem Glück bildete sich eine internationale Koalition zur Unterstützung belarussischer Kriegsdienstverweigerer und Deserteure, die von zwei friedensstiftenden Organisationen in Deutschland ausging: Connection e.V. und dem Bund für Soziale Verteidigung, denen sich später die War Resisters‘ International, das Europäische Büro für Kriegsdienstverweigerung (EBCO), der Internationale Versöhnungsbund und andere gewaltfreie Organisationen anschlossen. Ohne die Hilfe und Unterstützung der Friedensbewegung hätten uns die Angriffe der belarussischen Spezialdienste zerschlagen und vernichtet, aber dank der internationalen Solidarität sind sie gescheitert.

Am 20. Februar 2023 fanden in verschiedenen Städten der Europäischen Union - von Amsterdam bis Berlin - Solidaritätsaktionen zur Unterstützung der belarussischen Kriegsdienstverweigerer aus Gewissensgründen statt. Diese Aktionen brachten neuen Schwung in den belarussischen Protest, der zu diesem Zeitpunkt schon sehr müde und emotional ausgebrannt war. Bei den Aktionen am 20. Februar waren nicht viele Belaruss*innen anwesend: Zu diesem Zeitpunkt war die Mehrheit der Menschen, die an den Protesten 2020 teilnahmen, enttäuscht und begann zu denken, dass sich niemand für uns interessierte, dass niemand an uns dachte, dass wir ganz allein geblieben waren und dass es keinen Sinn hatte, weiter zu kämpfen, da unser ganzer Kampf unbemerkt und ohne Ergebnis blieb. Diese internationale Aktion war äußerst bedeutsam: Sie hat uns gezeigt, dass es nicht nur um die Ukraine geht. Die Belaruss*innen waren wirklich berührt von den Europäer*innen, die sich den Solidaritätsaktionen für das Recht der Belarussen anschlossen, nicht in die Armee einzutreten, nicht zu den Waffen zu greifen und in den Krieg zu ziehen. Nach der Aktion vom 20. Februar 2023 haben selbst die überzeugtesten Militarist*innen innerhalb der belarussischen Protestbewegung aufgehört, den Begriff „Pazifismus" als Schimpfwort zu benutzen.

Repression

Dennoch hat das belarussische Regime versucht, unsere internationalen Partner über seine Einflusskanäle im Ausland zu beißen. Zwei belarussische Hybridmedien, die für ihre Fake News und die Verbreitung militaristischer Narrative bekannt sind, bezeichneten all diese internationalen pazifistischen Organisationen als „Freunde Putins" und brachten sie auf eine Linie mit der Alternative für Deutschland, Viktor Orbán aus Ungarn und der italienischen Rechtsextremen.

Gleichzeitig begannen ernsthafte propagandistische Angriffe gegen „Unser Haus“, das als „extremistische Formation“ eingestuft wurde.

Am unerwartetsten war die Spionage, die der KGB auf dem Gebiet Litauens gegen uns betrieb. So wurde ein litauischer Anwalt bei uns eingeschleust, der im September 2022 dann bei einem Fluchtversuch nach Belarus von der litauischen Staatssicherheit und der Kriminalpolizei festgenommen wurde. Er wird der Spionage und der Arbeit für den belarussischen KGB beschuldigt; die strafrechtlichen Ermittlungen gegen ihn laufen derzeit.

Doch das belarussische Regime gab sich damit nicht zufrieden; öffentliche Morddrohungen wurden gegen uns ausgesprochen. Am 2. Oktober 2022 erklärte der stellvertretende Innenminister des belarussischen Regimes, Mikalai Karpiankou, in der Fernsehsendung „Woche", dass „die Oppositionellen im Ausland verrückt geworden sind wie Hunde und den Tod verdienen, weil der Teufel von ihnen Besitz ergriffen hat".  „Unser Haus” empfindet diese in der STV-Sendung ausgestrahlten Worte als unmittelbare Drohung gegen uns und gegen mich persönlich, da der Moderator ein Foto von mir in seinen sozialen Medien veröffentlicht und als „Teufel“ tituliert hatte.

Am 20. April 2023 erhielten die Abgeordneten des litauischen Parlaments einen gefälschten Brief mit Drohungen, der angeblich von mir stammte und in dem sie aufgefordert wurden, auf eine bestimmte Art und Weise für einen Gesetzentwurf über belarussische Bürger*innen in Litauen zu stimmen. Es handelte sich um einen Versuch, die Abgeordneten des litauischen Seimas gegen „Unser Haus” aufzubringen. Wir haben Nachforschungen angestellt und sind zu dem Schluss gekommen, dass der Angriff mit Hilfe belarussischer und russischer Spezialdienste organisiert wurde. Die Ermittlungen sind derzeit noch im Gange.

Der Kampf geht weiter

In Belarus geht der erbitterte Kampf junger Männer um ihr Recht, nicht zu den Waffen zu greifen, weiter.

Am 21. März 2023 hielt Lukaschenko eine Sitzung mit allen sicherheitsrelevanten Behörden (Militär, KGB, Innenministerium usw.) von Belarus ab, in der es um die „Fragen der nationalen Sicherheit und der Situation in den uniformierten Stellen von Belarus" gehen sollte.

Es war deutlich zu spüren, dass Lukaschenko Angst hatte, die Kontrolle über die Sicherheitsdienste zu verlieren, und Angst davor, dass wir, die belarussischen Frauen, überzeugendere Argumente finden würden als er. Er fürchtet sich sehr davor, dass wir mit der belarussischen Armee einen Deal machen könnten. Lukaschenko äußerte sich wie folgt: „Der höchste Grad an äußerer Bedrohung für Belarus zwingt uns, den inneren Bedrohungen größte Aufmerksamkeit zu schenken. Zumal sie Glieder derselben Kette sind". Wir, die einfachen Menschenrechtsverteidigerinnen im Exil, fühlen uns geschmeichelt, dass wir für das Regime von Lukaschenko die „höchste Stufe äußerer Bedrohung" sind.

Aliaksandr Lukaschenko glaubt an uns und versucht, die ideologischen Narrative der Kampagne „NEIN heißt NEIN" zu unterbrechen.

Manchmal scheint es, dass er viel mehr an uns und unsere Macht glaubt als wir selbst.

Übersetzung: Statja (Unser Haus)

Ausgabe

Rubrik

Schwerpunkt

Themen