Zwei Staaten, ein Staat, oder was sonst?

Bisherige Versuche einer Lösung des Nahostkonfliktes

von Clemens Ronnefeldt
Schwerpunkt
Schwerpunkt

Grundlage für eine Zweistaaten-Lösung waren die „Osloer Vereinbarungen". Das 1995 zwischen Israel und der Palästinensischen Befreiungsorganisation PLO geschlossene „Oslo-II-Agreement" sieht die Aufteilung des Westjordanlands in drei Typen von A-, B- und C-Zonen vor.

Die großen palästinensischen Städte wie Ramallah und Nablus bilden die Zone A, in der die gesamte Zivilverwaltung und die Verantwortung für die Sicherheit an die Palästinensische Autonomiebehörde (PA) übertragen wurde. Weil die israelische Armee – sofern sie dies für notwendig erachtet – immer wieder auch in die Zone A eindringt, hat die ursprüngliche Intention einer wachsenden palästinensischen Selbstverwaltung weitgehend an Bedeutung verloren.

In der Zone B mit den kleineren palästinensischen Städten und Dörfern ist die PA für die Zivilverwaltung zuständig, während die Kontrolle der Sicherheit vollständig bei der israelischen Armee liegt.

Zone C, die mit 62% den größten Teil des Westjordanlands umfasst, untersteht nach wie vor komplett der israelischen Zivil- und Militärverwaltung. Bis spätestens zur Jahrtausendwende hätte der Staat Palästina sowohl in den A, B als C-Territorien – mit der Möglichkeit eines minimalen Gebietstausches – und über einen Korridor mit dem Gazastreifen verbunden, errichtet werden sollen.

Vor dem Hintergrund der Tatsache, dass sich seit „Oslo 1995" die Zahl der Siedler*innen im Westjordanland mehr als verdoppelt hat und ein zusammenhängendes palästinensisches Staatsgebiet nicht mehr möglich ist, scheint derzeit eine lange für möglich gehaltene Zwei-Staaten-Lösung, wie sie etwa in der „Genfer Initiative" von 2003 vorangetrieben worden war, nahezu ausgeschlossen. Diese sah einen Gebietstausch von wenigen Prozentpunkten Land vor, so dass einige der größten Siedlungen auf dem besetztem Westjordanland Staat Israel geworden wären, ebenso das jüdische Viertel in Ostjerusalem – mit einem Zugang zum jüdischen Friedhof.

Umgekehrt hätte der Staat Israel die gleiche Quadratkilometerzahl unbebautes Land zum Staat Palästina werden lassen können, wodurch der Gazastreifen etwas breiter geworden wäre, ebenso das Westjordanland.

Der Westteil von Jerusalem hätte Hauptstadt Israels werden können, der Ostteil Hauptstadt von Palästina. Zu den auch Jüdinnen und Juden heiligen Stätten – insbesondere in Hebron, wo die Patriarchen mit ihren Frauen begraben liegen, ebenso zum Grab Rahels bei Bethlehem, waren bewachte Shuttle-Busse vorgesehen.

Die Wasserfrage war ebenso behandelt wie die Sicherheitsfrage. Der neue Staat Palästina sollte keine Armee haben.

Auf israelischer Seite hätte dieser Plan bedeutet, dass große Siedlungen wie Maale Adumin oder Ariel im Staat Palästina gelegen hätten. Die Bewohner*innen dieser Städte hätten zwei Staatsbürgerschaften erhalten können, die israelische wie die palästinensische.

Insbesondere der damalige israelische Ministerpräsident Ariel Sharon wollte aber große Siedlungen im Westjordanland nicht aufgegeben und entschied sich 2005 zur Umsiedlung jüdischer Personen aus dem Gazastreifen. Damit wurden nicht nur hohe Kosten zum Schutz dieser Gaza-Siedlungen vermieden. Es gelang Ariel Sharon auch mit diesem taktischen Schachzug, die Siedlungen im Westjordanland auszubauen und eine Zweistaatenlösung zu verhindern.

Auf palästinensischer Seite wurde die Ablehnung der Genfer Initiative vor allem damit begründet, dass lediglich die Rückkehr einiger Tausender Flüchtlinge vorgesehen war – und damit eine faktische Aufgabe des Rückkehrrechts.

Während die Möglichkeit der realen Schaffung eines Staates Palästina derzeit gegen Null tendiert, hat umgekehrt Palästina auf dem Weg der staatlichen Anerkennung international einige Fortschritte gemacht. Im Jahre 1988 wurde der Staat Palästina in Algier vom damaligen Palästinensischen Nationalrat ausgerufen. Nach international verbindlichen Kriterien (Vertrag von Montevideo von 1933) muss ein Staat drei Kriterien der Staatlichkeit erfüllen: 1. Territorium, 2. Volk, 3. Regierung. Nachdem mit dem Gazastreifen und dem Westjordanland (zumindest in Teilen) ein Territorium schon länger vorhanden ist, es zweifellos auch ein palästinensisches Volk gibt, brauchte die Erfüllung des dritten Kriteriums am längsten. Erst im Jahre 2011 bescheinigten EU, Weltbank und Internationaler Währungsfonds, dass Palästina über eine funktionsfähige Regierung verfügt.

Am 23. November 2011 stellte Präsident Abbas, dessen Amtszeit abgelaufen ist und der derzeit als Vorsitzender der PLO agiert, einen Antrag auf Aufnahme in die Vereinten Nationen (UN). Die Bundesregierung hat Anfang 2012 die "Generaldelegation Palästinas" in Berlin in "Diplomatische Mission Palästinas" aufgewertet: Die Leitungen dürfen sich seither offiziell "Botschafterin" bzw. "Botschafter" nennen. Mehr als 130 UN-Mitgliedsstaaten haben Palästina als Staat anerkannt.

Zur Ein-Staat-Lösung
Da israelische Regierungen seit 1967 eine Zweistaatenlösung konsequent durch Siedlungsbauten verunmöglichen, bleibt vermutlich in Zukunft nur eine Ein-Staat-Lösung. Innerhalb einer Generation könnte die Gesamtzahl der Palästinenser*innen im Gazastreifen, in der Westbank und die rund 20-prozentige palästinensische Minderheit in Israel die Zahl der jüdischen Israelis aufgrund der höheren Geburtenrate übersteigen. Dass beide Konfliktparteien prinzipiell in Frieden miteinander leben können, beweist seit mehreren Jahrzehnten als ein Beispiel das gemeinsame israelisch- palästinensische Dorf Neve Shalom/Wahat al-Salam (Oase des Friedens).

Auf der Grundlage der beschriebenen demographischen Verhältnisse würde bei einer Ein-Staat- Lösung nicht nur der jüdische Charakter des Staates Israel verloren gehen, sondern die palästinensische Seite bei Wahlen in einem überschaubaren Zeitraum die Regierung stellen. Dieses Szenario will verständlicherweise die israelische Regierung unter allen Umständen vermeiden, hat sich allerdings selbst durch ihre Siedlungspolitik in eine doppelte Sackgasse gebracht: Eine Räumung von Siedlungen im Zuge einer Zwei-Staatenlösung würde zu einem innerisraelischen Bürgerkrieg führen, eine Ein-Staat-Lösung zur Aufgabe der bisherigen Grundlagen des jüdischen Staates.

Gemäß der aktuellen Kräfteverhältnisse des Konfliktes würde die Ein-Staat-Lösung derzeit keine befriedigende Lösung für die palästinensische Bevölkerung mit sich bringen – im Rahmen eines wünschenswerten binationalen Staates mit zwei gleichberechtigten Bevölkerungsteilen mit gleichen demokratischen Bürgerrechten.

Alternativen jenseits der Zweistaaten- oder Ein-Staat-Lösung
Möglicherweise liegen zukünftige friedenslogische Lösungen, die ein einigermaßen befriedigendes Maß an Perspektiven für beide Konfliktparteien enthalten, jenseits der gängigen Denkvorstellungen wie Zweistaaten- oder Ein-Staat-Lösung.

a) Parallel-States-Project der Lund-Universität: Israelische und palästinensische Akademiker*innen, die an der schwedischen Lund-Universität geforscht haben, bringen eine zunächst utopisch klingende Variante in die Diskussion. In ihrem "Parallel- States-Project"(1) schlagen sie zur Lösung des Jahrhundert-Konflikts zwei parallele Staatsstrukturen auf einem gemeinsamen Territorium vor. Diesem Ansatz zufolge gäbe es zwei Staaten, Israel und Palästina, mit jeweils eigenen Pässen, eigenen Flaggen, eigenen Nationalhymnen, allen Symbolen und Äußerlichkeiten der beiden Staaten - mit der weltweit einzigartigen Variante: einem gemeinsamen Territorium. Beide Regierungen von beiden Parallelstaaten, die auf nationaler Identität beruhen, würden die Bereiche Religion, Kultur und Nationalität ihrer Bürger*innen unabhängig von deren Wohnort verwalten und zusammen die Bereiche Sicherheit, Infrastruktur und andere gemeinsame Belange koordinieren.

Auf Grundlage der Wasser-Situation, der Arbeitsmarktlage und zahlreicher anderer Faktoren wäre eine solche derzeit unrealistisch erscheinende Lösung eine „Win-win-Perspektive". Noch scheint die Zeit nicht reif dafür – aktuelle Entwicklungen zeigen ins Gegenteil.

b) Ein-Staat-Vorschlag von Sari Nusseibeh: Noch einen Schritt weiter als die Nahost-Forscher*innen der Lund-Universität geht Sari Nusseibeh, Präsident der Al-Quds-Universität in Jerusalem, von 2001 bis 2002 Statthalter der PLO in Jerusalem, in seinem Buch „Ein Staat für Palästina? Plädoyer für eine Zivilgesellschaft in Nahost", (München 2012): „Wir müssen die gegenwärtige Realität neu zeichnen, um sowohl der palästinensischen als auch der israelischen Öffentlichkeit eine alternative Vision der Zukunft zu liefern, die so überwältigend ist, dass die Bedeutung des heutigen politischen Gerangels verblasst." (S.164). Dazu stellt Sari Nusseibeh grundlegende Fragen wie: „Wozu sind Staaten gut?"

Auf Seite 16f schreibt er: „Als Gedankenexperiment möchte ich eine Maßnahme vorschlagen, die so anstößig ist, dass sie zu ihrer eigenen Aufhebung führen könnte, (...). In diesem Sinne schlage ich vor, dass Israel die besetzten Gebiete offiziell annektiert, die Palästinenser in dem so vergrößerten Israel akzeptiert, dass dieser Staat jüdisch bleibt und sie im Gegenzug sämtliche bürgerlichen, wenn auch nicht politischen Rechte erhalten. Damit wäre der Staat jüdisch, das Land hingegen wirklich binational, und es würde für das Wohl aller Araber in diesem Land gesorgt.

Angesichts der Forderung Israels, als jüdischer Staat anerkannt zu werden, und so lange es sich weigert, den Palästinensern die Staatsbürgerschaft zu gewähren, sind die vollen Bürgerrechte, wenn auch ohne aktives und passives Wahlrecht, deren beste Option – sie könnten dann die bürgerlichen Vorteile der de facto Ein-Staaten- Lösung genießen, ohne beschuldigt zu werden, die Jüdischkeit des Staates zu verwässern oder zu 'besudeln'. Auf jeden Fall würde es ihnen unter solchen Bedingungen weitaus besser gehen als in den vierzig Jahren Okkupation oder in einem anderen denkbaren Szenario: der israelischen Hegemonie über verstreute, 'autonome' palästinensische Enklaven".

Sari Nusseibeh beendet sein visionär-revolutionäres Buch im Geiste Gandhis mit den Sätzen: „Am Ende des Prozesses oder auf halber Strecke könnte die Palästinensische Autonomiebehörde der politische Fixpunkt aller Palästinenser und damit in einer föderalistischen Zukunft der gleichwertige Partner des israelischen Staats sein. Doch wie auch immer das 'Endspiel' am Schluss gestaltet werden wird, sollte man sich tunlichst daran erinnern, dass jegliche Partnerschaft dieser Art auf den komplementären Prinzipien von Freiheit und Gleichheit beruhen muss, das heißt, auf dem Prinzip, dass beide Seiten den Freiraum erhalten, ihr Entwicklungspotenzial auszuschöpfen, ohne dass das Entwicklungspotenzial des Partners beschnitten wird. Erst wenn sich dieses (zweiseitige) Prinzip durchsetzt, kann man sicher sein, Gerechtigkeit in ihrer unter den herrschenden Bedingungen bestmöglichen Form erreicht zu haben."

„Ersatzland“-Überlegungen
In dem Buch von Rainer Hermann, Arabisches Beben. Die wahren Gründe der Krise im Nahen Osten. Klett-Cotta-Verlag, Stuttgart 2018, schreibt der Autor: „Unter dem Begriff 'Jahrhundertdeal' wird zunehmend eine vor allem von Israel diskutierte Lösung diskutiert, dass die Palästinenser auf einen Teil der Westbank verzichten und dafür im Nordsinai ein 'Ersatzland' angeboten bekommen." (S. 18)

Gegen Ende seines Buches kommt er noch einmal auf diesen Plan zurück: „Seit 2017 fordern Politiker der israelischen Regierungspartei Likud auch öffentlich, den Nordsinai den Palästinensern als 'Ersatzland' zu geben. Dazu werden nun auch die Voraussetzungen geschaffen: In dem Landstrich westlich von Gaza enteignet Ägypten unter dem Vorwand der Terrorbekämpfung Dörfer und macht sie dem Erdboden gleich, und Ägypten verkaufte 2016 seine zwei Inseln in der Einfahrt in den Golf von Aqaba, Tiran und Sanafir, an Saudi-Arabien, das damit eine Mitverantwortung für den Sinai erhält. Die Araber sind zu schwach, um gegen dieses Projekt Widerstand leisten zu können, und die junge Generation der Muslime kennt nur einen Konflikt um Palästina, in dem sich immer Israel durchgesetzt hat. Schwerer wiegt, dass die einzige starke arabische Macht, Saudi-Arabien, in der Gegenwart im Konflikt mit Iran auf die USA und auf Israel angewiesen ist, und Ägypten kann ohne amerikanische Militär- und Wirtschaftshilfe kaum überleben" (S. 335).

Bereits am 16.12.2017 hatte Rainer Hermann in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, seinerzeit für die Region Naher und Mittlerer Osten als Redakteur zuständig, auf diese Pläne hingewiesen. (2)

Am 6. November 2018 berichtete die „Times of Israel" (3): „Premierminister Benjamin Netanyahu soll den Abgeordneten in seiner regierenden Likudpartei am Montag gesagt haben, dass mächtige Länder ohne Konsequenzen Gebiete besetzen und Völker transferieren können. Dabei bezog er sich anscheinend auf die scheinbare  Gleichgültigkeit der Araber im Hinblick auf Israels Kontrolle über die Westbank. 'Macht ist die bedeutendste (Komponente) der Außenpolitik. ‘Besetzung’ ist Unsinn. Es gab große Länder, die Völker besetzt und transferiert haben, und niemand spricht über sie,' wurde Netanyahu am Montag vom Armee-Radio anlässlich der geschlossenen Fraktionssitzung der Likud zitiert." (Übersetzung: Inga Gelsdorf).

Vor diesem Hintergrund erscheinen die Anerkennung ganz Jerusalems als israelische Hauptstadt und die Verlegung der US-Botschaft durch die Trump-Administration noch einmal in neuem Licht, ebenso das „Nationalitätsgesetz" in Israel, das u.a. die hebräische Sprache als alleinige offizielle Amtssprache definiert und die bisherige Amtssprache Arabisch zu einem Sonderstatus herabstuft.

Aus palästinensischer Sicht würden diese „Ersatzland“-Überlegungen der israelischen Regierung die Traumata der Vertreibungen der Jahre 1947/1948 erneut hervorrufen – und scheiden als „Lösung“ für den Jahrhundert-Nahost-Konflikt aus, da sie keiner der beiden Seiten nachhaltige Stabilität und Friedensperspektiven eröffnen können. Dennoch wurden sie nach dem Massaker der Hamas vom 7.10.2023 aus Kreisen der aktuellen rechtsgerichteten Regierung Netanyahu erneuert.

Religiöse Komponente und Unterstützung von Friedens- und Menschenrechtsgruppen
Alle vorgestellten friedenslogischen Gedanken, Pläne und unterstützenswerten Initiativen sind ohne Berücksichtigung und Lösungen auch der religiösen Aspekte dieses Konfliktes zum Scheitern verurteilt. Daher kommt dem interreligiösen Dialog – wenn möglich vermittelt durch eine allparteiliche Mediation von außen – eine zentrale Bedeutung zu.

Angesichts immer enger werdender Gestaltungsspielräume für Friedens- und Menschenrechtsgruppen, die unter großem Druck stehen, ist deren Unterstützung sowie der Erhalt ihrer Arbeitsfähigkeit für einen gerechten Nahostfrieden von großer Bedeutung.

Anmerkungen
1 http://portal.research.lu.se/portal/en/publications/one-land--two-states... parallel-states-project(0dc73b5e-5f1d-4f9c-a049-2f3d4f6d48b8).html
2 http://www.faz.net/aktuell/politik/inland/israel-und-palaestina-was-koen... konflikts-sein-15342741.html
3 https://www.timesofisrael.com/netanyahu-says-occupation-is-baloney-if-a-... is-powerful-enough-reports/

Ausgabe

Rubrik

Schwerpunkt
Clemens Ronnefeldt ist seit 1992 Referent für Friedensfragen beim deutschen Zweig des Internationalen Versöhnungsbundes.