Europäische Asylpolitik:

Das Demokratiedefizit, der 11. September und die Folgen

von Karl Kopp
Schwerpunkt
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Knapp drei Jahre nach dem Inkrafttreten des Amsterdamer Vertrages sind die Anforderungen an ein gemeinsames Asylsystem nicht umgesetzt worden. Zwar arbeitete die Europäische Kommission zügig das migrations- und asylpolitische Programm von Amsterdam ab und legte zwischen Dezember 1999 und September 2001 Richtlinienvorschläge zu allen asylrechtlich relevanten Aspekten vor: Asylverfahren, soziale Aufnahmebedingungen, Flüchtlingsbegriff und ergänzende Schutzformen. Die Kommission unter Antonio Vitorino strebt einen "Mindeststandard" für ein gemeinsames europäisches Asylsystem an, der mehr ist als der kleinste gemeinsame Nenner der existierenden Asylpraktiken in den EU-Mitgliedsstaaten. Aber bis jetzt wurde keine einzige asylrechtliche Richtlinie im Rat beschlossen. Einigung im Rat wurde lediglich über eine Richtlinie zur Anwendung des politischen Schutzkonzeptes "Vorübergehender Schutz" im Falle einer so genannten Massenflucht und der Schaffung eines Europäischen Flüchtlingsfonds erzielt.

Andere im Rat angenommene Richtlinien und Verordnungen besitzen überwiegend eine stark repressive Schlagseite. Beschlossen wurde die Fingerabdruck-Datei EURODAC, um die Zuständigkeiten bei der Asylprüfung in Zukunft effizienter zu regeln. Außerdem einigte man sich auf eine neue Visa- Verordnung mit nunmehr 130 visumpflichtigen Ländern und die EU-weite Sanktionierung von Beförderungsunternehmen, sowie diverse Maßnahmen zur "Schlepperbekämpfung". Deutschland hat maßgeblichen Anteil daran, dass der Vergemeinschaftungsprozess hinsichtlich der asylrechtlichen Regelungen im engeren Sinne nahezu völlig zum Erliegen kam.

Bundesdeutsche Blockadehaltung
Die Bundesrepublik verhindert bzw. verzögert in zentralen institutionellen Fragen die Beseitigung des vielzitierten Demokratiedefizits im Politikfeld Justiz und Inneres und ein gemeinsames europäisches Asylrecht. Dreimal verhinderte die Bundesrepublik mit ihrem "Nein" eine europäische Perspektive. Die bundesdeutschen "Neins" heißen Amsterdam, Nizza und Laeken. Die Bundesregierung unter Helmut Kohl setzte bei den Verhandlungen über den Amsterdamer Vertrag das alles blockierende Einstimmigkeitsprinzip und das bloße Anhörungsrecht des Europäischen Parlamentes maßgeblich durch. Auf dem Reformgipfel in Nizza im Dezember 2001 verhinderte die rot-grüne Bundesregierung den automatischen Übergang im Mai 2004 zu Mehrheitsentscheidungen, zu realen Mitentscheidungsrechten des Europaparlaments im Asylrecht erneut. In Laeken scheiterten im Dezember 2001 Versuche auf EU-Ebene, vorzeitig in diesem Bereich in die Mehrheitsentscheidungen überzugehen, am massiven Widerstand Deutschlands.
 

Die Konsequenzen des 11. September
Die Terroranschläge in den USA haben sowohl im EU-Kontext als auch in den Mitgliedsstaaten eine notwendige Öffnung der Debatte über eine andere Migrations- und Asylpolitik verschüttet. Der 11. September hat das Bedürfnis nach einer beschleunigten Vergemeinschaftung selbst bei EU-skeptischen Mitgliedsstaaten bestärkt, allerdings im Sinne verschärfter Maßnahmen der "inneren Sicherheit". Eine Einigung über einen europäischen Haftbefehl, eine gemeinsame Definition des Terrorismusbegriffes und den Rahmen des jeweiligen Strafmaßes wurde innerhalb von wenigen Wochen behandelt und beschlossen. Die "Freiheit" und das "Recht" rücken zugunsten der "Sicherheit" in den Hintergrund. Die nationalen Antiterrorpakete werden auf die EU-Ebene transferiert. Forciert werden weitere Verschärfungen bei den Einreisebestimmungen, Aktionspläne zur Bekämpfung der "illegalen Einwanderung", der Aufbau einer europäischischen Grenzpolizei und die Schaffung eines gemeinsamen Visa-Identifikationsssystems mit der Aufnahme biometrischer Daten.

Einige Mitgliedsstaaten möchten künftig auch die Fingerabdrücke von EURODAC zur europaweiten Fahndung nutzen. In EU-Mitgliedsstaaten wird versucht, letzte Sicherungen beim Abschiebeschutz auszuhöhlen. Menschenrechtliche Standards werden zunehmend zur Disposition gestellt. England setzte im Dezember 2001 die Europäische Menschenrechtskonvention zum Teil außer Kraft. Mit der Verkündung des Notstandes ist es nunmehr möglich, Terrorismusverdächtige unbegrenzt ohne Anklage und Beweise zu inhaftieren, wenn sie wegen drohender Folter oder menschenrechtswidriger Behandlung nicht abgeschoben werden können. Vereinbarungen bzw. "Verbalnoten" mit Regierungen, die es mit den Menschenrechten nicht so genau nehmen, werden EU-weit als probates Mittel diskutiert und vorbereitet, um "Islamisten" in diese Staaten abzuschieben.

"Europa steht am Scheideweg"
Unter den aktuellen gegebenen institutionellen und politischen Bedingungen wird sich ein asylpolitischer Kurswechsel in der EU nicht bewerkstelligen lassen. Im Gegenteil: es findet ein roll back statt. Die Wahlerfolge rechtspopulisischer Parteien in den Mitgliedsstaaten werden den Druck auf den Flüchtlingsschutz erhöhen, aber auch die Arbeit des Konvents bezogen auf eine Reform der EU erschweren. Trotzdem müssen sich die Nichtregierungsorganisationen in diese öffentliche Debatte einmischen. Die weitere Gestaltung eines europäischen Asylrechts hinter den verschlossenen Türen des Rates, geprägt von den Ministerialburokratien der Mitgliedsstaaten, wird eine völkerrechtskonforme Vergemeinschaftung des Asylrechts verhindern. Der Fall des Einstimmigkeitsprinzips, reale Mitentscheidungsrechte des Europäischen Parlaments, eine starke, parlamentarisch kontrollierte Kommission und eine volle richterliche Kontrolle durch den Europäischen Gerichthof sind noch keine Garantie für ein liberales europäisches Asylrecht. Aber diese ersten Reformschritte sind eine Grundvoraussetzung, dass Positionen im Sinne eines effektiven Flüchtlingsschutzes überhaupt Gehör finden.

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