Der Skandal um die "resist"-Prozesse in Frankfurt

von Martin Singe

Zwischen Oktober 2003 und März 2005 wurden an 25 Prozesstagen vor dem Frankfurter Amtsgericht bzw. Landgericht gegen mehr als 50 Personen aus der Friedensbewegung Strafverfahren geführt. In der Regel ging es um den Nötigungsvorwurf nach § 240 Strafgesetzbuch (StGB), in vier Fällen um sogenannten Widerstand gegen die Staatsgewalt nach § 113 StGB. Über 30 Personen wurden vom Amtsgericht wegen Nötigung verurteilt. In einigen Fällen gab es Verfahrenseinstellungen gegen Geldbußauflagen. Ein einziger Richter hat 5 Angeklagte freigesprochen. Es ging in diesem Fall um eine kleinere unabhängig geplante Aktion, die am Tag des Beginns des Irak-Krieges selbst stattfand. Die Verurteilungen beziehen sich alle auf die Aktionen vom 15.3.03 bzw. 29.3.03, bei denen jeweils auch Großblockaden am Haupttor stattfanden.

Richter Rupp hatte als einziger die Strafbefehle, die ja von der Staatsanwaltschaft beantragt werden müssen, überhaupt nicht erst unterzeichnet, sondern die Unterzeichnung mit klarer Begründung aus dem Sitzblockadeurteil des Verfassungsgerichtes von 1995 abgelehnt. Er wurde jedoch von der Staatsanwaltschaft schließlich doch noch gezwungen, Verfahren durchzuführen. In diesen Verfahren lehnte er die Verurteilung wegen § 240 StGB erneut ab, musste aber - staatsanwaltschaftlich gedrängt - in ein Ordnungswidrigkeitenverfahren überleiten. Er verhängte gegen alle Angeklagten eine Geldbuße von je 5,- Euro wegen Verstoßes gegen das Versammlungsgesetz. Das konnte die Staatsanwaltschaft erneut nicht hinnehmen und legte Revision ein.

Strafverfolgungswut der Staatsanwaltschaft
Die Staatsanwaltschaft Frankfurt weigert sich in allen Verfahren konsequent, dem Verfassungsgerichtsurteil zu folgen. Das Gericht hatte 1995 noch im Nachklang zu den Sitzblockaden gegen die atomaren Mittelstreckenwaffen Pershing-II und Cruise-Missiles den Tatbestand der Nötigung als nicht anwendbar auf gewaltfreie Sitzdemonstrationen bezeichnet. Der Gewaltbegriff des § 240 sei von den Gerichten überstrapaziert worden. Damit sei ein Verstoß gegen den Bestimmtheitsgrundsatz des Grundgesetzes (Art. 103 GG) gegeben. Daraufhin wurden Tausende von BlockiererInnen in Wiederaufnahmeverfahren rehabilitiert.

Allerdings hat der Bundesgerichtshof noch im selben Jahr des Verfassungsgerichtsurteils versucht, diesen Spruch zu torpedieren. Es führte die völlig absurde "Zweite-Reihe-Rechtsprechung" ein. Demnach sei zwar die reine physische Anwesenheit auf der Straße keine Gewalt; sobald sich aber hinter dem ersten blockierten Auto (das nur auf psychischen Zwang reagiere) ein zweites staut, ist dieses physisch-gewaltsam blockiert, also der Gewaltbegriff des Nötigungstatbestandes wieder erfüllt, weil die Blockierenden ja das erste Auto nutzen, um eine physische Blockade zu errichten. Solche Gedankenakrobatik ist natürlich lächerlich. Sie ist von den anderen Gerichten bislang auch nicht akzeptiert worden. Die Wiederaufnahmeverfahren z.B. wegen der Mutlangen- und Hunsrückblockaden liefen noch Jahre nach dem BGH-Spruch erfolgreich weiter. Das Oberlandesgericht Koblenz hat dem BGH sogar in zwei Entscheidungen explizit widersprochen! Dennoch baut die Staatsanwaltschaft Frankfurt ihre Anklagen auf diese verquerte Rechtsauslegung. Ein Strafrechtsprofessor Krey, der das BGH-Urteil mit vorbereitet hatte, rühmte dann das BGH-Urteil als Sieg gegenüber dem Verfassungsgericht, das "aus dem Ruder gelaufen" sei.

Politische Justiz
Die Motivation der Staatsanwaltschaft ist inzwischen eindeutig: es geht ihr um politische Verfolgung der Angeklagten und um Einschüchterung vor weiteren konsequenten Aktionen aus der Friedensbewegung. Deswegen spielt in ihren Argumentationen der Krieg, um den es ja bei diesen Aktionen ging, überhaupt keine Rolle. Völkerrecht, Grundgesetz ... alles egal - nur das Strafgesetzbuch spielt eine Rolle. Auch die gesetzlich garantierten Rechtfertigungsgründe für Nothilfesituationen werden staatsanwaltschaftlich/gerichtlich nicht wahrgenommen oder anerkannt, obwohl die Einordnung dieses Protestes in den gesamten internationalen Widerstand klar machen würde, dass auch die Airbase-Blockaden ein geeignetes Mittel waren, um den Krieg abzuwenden zu versuchen. Bei Nothilfe kommt es auf den Versuch an, nicht auf den Erfolg. Scheitern kann man immer, aber man darf nichts unversucht lassen. Die kritische Grenze des internationalen Protestes wurde leider nicht überschritten, obwohl es international die größten Proteste gegen einen Krieg waren.

So wird Juristerei betrieben, ohne die vorgegebenen Zusammenhänge zu achten. Denn eigentlich sind Grundgesetz und Völkerrecht prinzipiell einfachem Recht vorgeordnet. Lt. GG Art. 25 entstehen für den Bürger/die Bürgerin sogar unmittelbare Pflichten aus dem Völkerrecht. Auch wenn die rot-grüne Regierung Völkerrecht massiv missachtet und Struck und Schröder wörtlich sagten, Juristerei spiele für sie bei der US-Unterstützung des Irak-Krieges keine Rolle, haben dann immer noch die BürgerInnen die Pflicht, dem Grundgesetz zu folgen. Das war das Ziel der Aktionen rund um die Airbase in Frankfurt, von der aus der Krieg wesentlich mitbetrieben wurde und noch betrieben wird.

"Recht ist, was den Waffen nützt"
Unter diesem Titel veröffentlichten Helmut Kramer und Wolfram Wette ein unbedingt empfehlenswertes Werk über Justiz und Pazifismus im 20. Jahrhundert. Hans-Ernst Böttcher, Präsident des Landgerichts Lübeck, hat in diesem Buch einen Aufsatz veröffentlicht mit dem Titel "Strafbare Nötigung oder Ausübung von Grundrechten?" Er eröffnet seinen Aufsatz über die juristische Auseinandersetzung mit den Sitzblockaden gegen den NATO-Doppelbeschluss mit dem Absatz:

Wenn - sagen wir, im Jahr 2103 eine "Europäische Rechtsgeschichte" erscheinen würde, so würde sie womöglich für die ersten 50 Jahre der Bundesrepublik Deutschland, also die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts, eine Besonderheit nennen: die periodisch auftretenden massenhaften Verurteilungen wegen strafbarer Nötigung laut § 240 des Strafgesetzbuches als eine besondere Erscheinungsform des politischen Strafrechts." Böttcher hatte diesen Aufsatz vor dem Irak-Krieg geschrieben. Nun müsste er angesichts der Frankfurter Skandal-Urteile ergänzen: Diese unselige Tradition scheint sich auch im 21. Jahrhundert fortzusetzen.

Justiz und Neue Bundeswehr unter rot-grün
Anscheinend war ja die Friedensbewegung mit den gewaltfrei basisdemokratisch ökologischen Grünen im Parlament angekommen. Das Gegenteil ist allerdings der Fall. Inzwischen wird viel geschickter getäuscht und vernebelt. Unter rot-grün hatten wir alle zwei Jahre einen Krieg. Der Jugoslawien-Angriffskrieg 1999 wurde völkerrechtswidrig von der NATO begonnen. Der Afghanistan-Krieg 2001 unter dem Vorwand der Terrorismusbekämpfung. Der Irak-Krieg mit Unterstützung der Bundesregierung (Überflugrechte, US-Basennutzungserlaubnis, Schutz und damit Entlastung von US-Militärstützpunkten durch die Bundeswehr, AWACS-Einsätze u.a.m.) begann 2003. Seitdem scheint auch wieder eine härtere juristische Gangart gegen die Friedensbewegung angesagt zu sein. Während Schröder Juristerei hinsichtlich von rot-grün geführten Kriegen und Kriegsbeteiligungen nicht interessiert, ist er doch offensichtlich erfreut, wenn die Friedensbewegung juristisch eingemacht wird. Schon während des Jugoslawien-Krieges mussten viele Friedensbewegte, die die deutschen Soldaten wegen der Völkerrechtswidrigkeit des Krieges zur Befehlsverweigerung aufgefordert hatten, drei Jahre lang Strafprozesse wegen Aufrufes zu Straftaten über sich ergehen lassen. Diese wurden zwar letztendlich wegen des Grundrechts auf Meinungsfreiheit eingestellt, aber eine echte politisch-juristische Auseinandersetzung um die Völkerrechtswidrigkeit dieses Krieges fand auch nicht statt. Es bleibt also zur Zeit im bundesdeutschen Recht dabei: Recht ist, was den Waffen nützt.
 

Zum aktuellen Stand
Richter vergleicht Angeklagte mit Terroristen
(ms) Im September 2004 hatte Richter Bach zwei Angeklagten auf ihre Berufung gegen das Amtsgerichtsurteil hin weitgehend Recht gegeben. Er verurteilte wegen einer Ordnungswidrigkeit im Bereich 50-75 Euro, ließ die Nötigung aber fallen. Die Gewalt sei nicht nachweisbar und in jedem Fall sei keine Verwerflichkeit gegeben. Die Staatsanwaltschaft legte Revision ein. Dann folgte Richter Fidora diesem Beispiel, aber nur weil die Staatsanwaltschaft diesmal von sich aus die Nötigung fallengelassen hatte. Der Staatsanwalt verließ sich auf die im Bach-Urteil vorgenommene Tatbestandsschilderung. Dieses Urteil hat Rechtskraft.

Im November urteilte wieder Richter Bach wie im ersten Prozess, wenn auch zu 90 Euro wg. OWI. Revision ist von beiden Seiten eingelegt. Nun folgte im März 2005 wieder Richter Fidora und verurteilte auf Nötigung, verwarf also die Berufung und ließ das Amtsgerichtsurteil bestehen: 20 Tagessätze zu 20 Euro auf ein Jahr Bewährung. Der größte Skandal an diesem Prozess war, dass der Richter die gewaltfreie Sitzblockade gegen einen völkerrechtswidrigen Krieg mit Terrorismus verglich, da die Blockierer auch unschuldige Dritte missbrauchten: "Die Angeklagte und die Geiselnehmer von Beslan unterscheiden sich nur graduell."

Gegen dieses Urteil hat die Verurteilte auch Revision eingelegt. Angeblich soll es noch einige Zeit dauern können, bis das Oberlandesgericht eine erste Entscheidung fällt. Danach geht es notfalls zum Verfassungsgericht.

Ausgabe

Martin Singe ist Redakteur des FriedensForums und aktiv im Sprecher*innenteam der Kampagne "Büchel ist überall! atomwaffenfrei.jetzt".