Nukleare Abrüstung

Die Erklärung von Vancouver und der humanitäre Imperativ

von John Burroughs

Die Erklärung von Vancouver “ Das juristische Gebot für die dringliche Schaffung einer atomwaffenfreien Welt” (1) dient zwei Hauptzwecken. Sie stellt das Gebot der Nicht-Anwendung und der Abschaffung von Atomwaffen in einen breiten humanitären Kontext. Und sie formuliert den gegenwärtigen Rechtsstatus in Bezug auf Atomwaffen im Lichte der Entwicklungen seit dem Rechtsgutachten des Internationalen Gerichtshofs (IGH) von 1996.

 Die Erklärung, die von der Simons Foundation und den Juristinnen und Juristen gegen atomare, biologische und chemische Waffen (IALANA) initiiert und im März 2011 verabschiedet wurde (2), wurde von zahlreichen bedeutenden ExpertInnen des Völkerrechts und der Diplomatie unterzeichnet (3). Sie baut auf der Überprüfungskonferenz des Nichtverbreitungsvertrags von 2010 auf, die ihre „tiefe Besorgnis bezüglich der katastrophalen humanitären Folgen jeder Anwendung von Atomwaffen“ ausdrückte und die „Notwendigkeit für alle Staaten, sich jederzeit an das gültige Völkerrecht, einschließlich des Humanitären Völkerrecht, zu halten“, betonte.

Der humanitäre Aspekt, der die Erklärung durchdringt, wird bereits im ersten Satz vermittelt: „Atomwaffen sind unvereinbar mit den elementaren Überlegungen der Humanität“. Der Ausdruck „elementare Überlegungen der Humanität“ wurde von dem IGH in seinem Rechtgutachten über Atomwaffen verwendet (4), der darauf hinwies, dass diese Formulierung bereits 1949 im dem Korfu-Kanal-Fall 1949 benutzt hatte: „Elementare Überlegungen der Humanität, die im Frieden sogar noch anspruchsvoller sind als im Krieg“, verpflichteten damals Albanien, britische Kriegsschiffe über die Gefahren eines Minenfelds in seinen Gewässern zu informieren. (5) Die Erklärung von Vancouver führt folgerichtig als nächstes aus, wie Atomwaffen den humanitären Überlegungen in Zeiten des Friedens wie des Krieges zuwiderlaufen, und verweist auf die Risiken und den Schaden für Gesundheit, Umwelt, Wirtschaft und Sicherheit, die sich aus der Produktion, der Lagerung, dem Transport und der Anwendung von Atomwaffen ergeben.

Die Erklärung stützt sich auch auf die Erfahrung aus Kampagnen und Verhandlungen zum Verbot von Landminen und Streumunition. Beteiligte ExpertInnen und Diplomaten haben erklärt, dass es mit dem humanitären Ansatz, der sich – unter anderem ‑ auf das Humanitäre Völkerrecht berief, gelang, die Öffentlichkeit und eine kritische Zahl an Regierungen zu gewinnen. Während Militärexperten anführen konnten, dass in bestimmten theoretischen Situationen die Anwendung von Landminen oder Streumunition militärisch sinnvoll sei und Nichtkombattanten nicht oder nicht unangemessen schade, konnte dieses Argument den überwältigenden Beweisen, welchen „inakzeptablen Schaden“ sie in der Realität anrichten, der emotionalen Wirkung der Aussage von Opfern und der Existenz militärischer Alternativen nicht standhalten.

Wenngleich sehr abgeschwächt, werden vergleichbare Argumente bezüglich des Nutzens und der Rechtmäßigkeit bestimmter atypischer nuklearer Anwendungsszenarien vorgebracht, z.B. Einsatz in abgelegenen Gegenden oder wenn der militärische Wert eines Ziels extrem hoch ist. Die Erklärung stellt deshalb fest: „Gründe, die für die andauernde Existenz von Atomwaffen sprechen, einschließlich einer militärischer Notwendigkeit und Einzelfallanalyse, wurden früher benutzt, um andere inhumane Waffen zu rechtfertigen. Aber elementare Überlegungen der Humanität überzeugten die Weltgemeinschaft, dass solche Argumente weniger schwer wogen als die Notwendigkeit, diese Waffen abzuschaffen. Dieses Prinzip muss jetzt auf Atomwaffen angewendet werden, die ein unermesslich größeres Risiko für die Menschheit darstellen.“

In Bezug auf die Anwendung des Humanitären Völkerrechts auf Atomwaffen stellt die Erklärung fest, dass Atomwaffen mit ihren unkontrollierbaren Explosions-, Hitze- und Strahlungswirkungen in der Tat Massenvernichtungswaffen sind, die naturgemäß nicht den fundamentalen Völkerrechtsregeln standhalten, die die Verursachung von unterschiedslosem Schaden und unnötigem Leiden verbieten. In Ergänzung zum Rechtsgutachten des IGH stützt sich die juristische Übersicht im Anhang der Deklaration auf die umfassende Studie „Internationales humanitäres Gewohnheitsrecht“ des Internationalen Komitees des Roten Kreuzes (IKRK) von 2005 (6) und auf die Arbeit von Professor Charles J. Moxley, Jr.

Moxley hat sich auf die Beurteilung der politischen Leitlinien der USA zur Anwendung von Atomwaffen gemäß den Regeln des Humanitären Völkerrechts konzentriert, wie sie in US-Militärhandbüchern zum Recht des bewaffneten Konflikts festgelegt sind. (7) Er betont, dass die Auswirkungen militärischer Operationen kontrollierbar sein müssen, um die Anforderungen an Notwendigkeit, Unterscheidbarkeit [von Kombattanten und Zivilisten] und Verhältnismäßigkeit zu erfüllen. So stellt ein Handbuch des US-Generalstab fest: “Angreifer dürfen nur solche Mittel und Methoden des Angriffs einsetzen, die in ihrer Wirkung unterscheiden und die kontrolliert werden können, und sie müssen Vorsorge treffen, um den Kollateralschaden für Zivilisten und geschützte Objekte oder Orte zu minimieren.“ (8)

Moxley kam zum Schluss, dass insbesondere aber nicht ausschließlich aufgrund der Strahlung die Wirkung einer nuklearen Explosion nicht kontrolliert werden kann, und die Anwendung von Atomwaffen deshalb rechtswidrig ist. Dieser Punkt liegt auch der Schlussfolgerung des IGH zugrunde, dass die Anwendung von Atomwaffen generell illegal ist: „Die Vernichtungskraft [von Atomwaffen] kann weder in Raum noch Zeit eingedämmt werden.“ (9)

Positionen zu weiteren Fragen
Die Erklärung von Vancouver nimmt auch eindeutig Stellung zu verschiedenen Fragen, die der IGH nicht löste:

1. Sie hält fest: „Die Anwendung von Atomwaffen als Antwort auf einen vorangegangenen nuklearen Angriff kann nicht als Vergeltungsmaßnahme gerechtfertigt werden. Die Sicherheit von Nicht-Kombattanten vor einen Angriff unter allen Umständen wurde in dem weithin ratifizierten Genfer Abkommen und in dem Römischen Statut des Internationalen Strafgerichtshofs kodifiziert, das unter anderem bestimmt, dass ein Angriff auf eine Zivilbevölkerung ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit ist.“ Dies entspricht der Position, die Mexiko 1995 vor dem IGH vertrat: „Folter ist keine erlaubte Antwort auf Folter. Noch ist Massenvergewaltigung eine akzeptable Vergeltung für Massenvergewaltigung. Genauso wenig akzeptabel ist Abschreckung, die auf Vergeltung beruht nach dem Motto ‚Du hast meine Stadt verbrannt, ich werde Deine verbrennen‘.“ (10)

2. Die Erklärung stellt fest, dass Atomwaffen dem Verbot gemäß Artikel 35 (3) des Zusatzprotokolls I zu den Genfer Abkommen [über den Schutz der Opfer internationaler bewaffneter Konflikte] unterliegt: „Es ist verboten. Methoden oder Mittel der Kriegführung zu verwenden, die dazu bestimmt sind oder von denen erwartet werden kann, dass sie ausgedehnte, langanhaltende und schwere Schäden der natürlichen Umwelt verursachen”. Die Studie des IKRK kam zum Schluss, dass dieses Verbot inzwischen Bestandteil des universell bindenden Gewohnheitsrechts geworden sei. (11) Ganz offensichtlich fallen viele, wenn nicht sogar alle, Anwendungsszenarien von Atomwaffen hierunter.

3. Die Erklärung sagt weiter: „Die Bedrohung durch, wie die Anwendung von Atomwaffen ist von Rechts wegen verboten. Wie der IGH klar gestellt hat, ist es unrechtmäßig, einen Angriff anzudrohen, wenn der Angriff selbst unrechtmäßig wäre. Diese Regel macht zwei Arten von Bedrohungen unrechtmäßig: konkrete Signale, dass die Absicht besteht, Atomwaffen einzusetzen, sofern rechtmäßige oder unrechtmäßige Forderungen nicht erfüllt werden, und allgemeine politische Grundsätze (‚Abschreckung‘), die die Bereitschaft erklären, auf Atomwaffen zurückzugreifen, wenn vitale Interessen auf dem Spiel stehen. Diese beiden Bedrohungsarten kommen in gültigen Doktrinen ebenso zusammen wie in der Fähigkeit zu einem nuklearem Angriff, egal ob präemptiv oder als Zweitschlag, ob als rasche Reaktion auf einen unmittelbar bevorstehenden oder auf einen tatsächlich erfolgten nuklearen Angriff.“

Zuletzt befasst sich die Erklärung mit einer Frage, um deren Beantwortung die UN-Generalversammlung den IGH nicht gebeten hatte, nämlich ob der Besitz von Atomwaffen rechtmäßig sei. In der Erklärung heißt es dazu: “Die Unrechtmäßigkeit der Bedrohung durch und Anwendung von Atomwaffen bestärkt die Norm des Nicht-Besitzes. Der [nukleare Nichtverbreitungsvertrag] verbietet der großen Mehrheit der Staaten den Erwerb von Atomwaffen, und es gibt eine universelle Verpflichtung, die vom IGH festgestellt wurde und auf dem [Nichtverbreitungsvertrag] und anderem Recht beruht, die Abschaffung von Atomwaffen durch Verhandlungen in redlicher Absicht zu erreichen. Es kann nicht rechtmäßig sein, auf unbegrenzte Zeit Waffen zu besitzen, die zu nutzen oder mit denen zu drohen unrechtmäßig ist, die den meisten Staaten bereits verboten sind und für die eine Verpflichtung besteht, sie abzuschaffen.”

Die Initiatoren der Erklärung von Vancouver hoffen, dass sie zu der wachsenden Erkenntnis beitragen wird, dass die Existenz von Atomwaffen, ganz zu schweigen von ihrer Anwendung, mit dem Recht und mit der menschlichen Sicherheit unvereinbar ist. Und diese Erkenntnis wächst, wie die „Gemeinsame Erklärung über die humanitäre Dimension von nuklearer Abrüstung” zeigt, die Konferenz zum Nichtverbreitungsvertrag 2012 in Wien von 16 Ländern unterstützt wurde. (12)

Anmerkungen
1 http://www.lcnp.org/wcourt/Feb2011VancouverConference/vancouverdeclarati....

2 http://www.lcnp.org/wcourt/Feb2011VancouverConference/declarationmediare....

3 Eine Liste der Unterzeichner ist zu finden bei: http://www.lcnp.org/wcourt/Feb2011VancouverConference/signatories32211.pdf.

4 Legality of Threat or Use of Nuclear Weapons, Advisory Opinion of 8 July 2006,  I.C.J. Reports 1996, S. 226 (im Folgenden “Rechtsgutachten”), Absatz 79. http://www.icj-cij.org/docket/files/95/7495.pdf. Deutsch: IALANA (Hrsg.): Atomwaffen vor dem Internationalen Gerichtshof. LIT-Verlag, 1997.

5 I.C.J. Reports 1949, S. 4, at p. 22. Hervorhebung durch Autor.

6 Jean-Marie Henckaerts & Louise Doswald-Beck, International Committee of the Red Cross, Customary Humanitarian International Law , Vol. I, Rules (Cambridge University Press, 2009, Erstauflage 2005), http://www.icrc.org/eng/resources/documents/publication/pcustom.htm.

7 Charles J. Moxley, Jr., John Burroughs und Jonathan Granoff, “Nuclear Weapons and Compliance with International Humanitarian Law and the Nuclear Non-Proliferation Treaty,” 34  Fordham International Law Journal (April 2011, no. 4), http://lcnp.org/wcourt/Fordhamfinaljoint.pdf

8 US Joint Chiefs Of Staff, Joint Pub. No. 3-60, Joint Targeting (2007) E-2. Hervorhebung durch Autor.

9 Rechtsgutachten, Absatz 34.

10 Verbatim Record of Proceedings Before the ICJ, 3 November 1995, S. 64. http://www.icj-cij.org/docket/files/95/5931.pdf.

11 Customary International Humanitarian Law, vol. I, S. 151-155.

12 http://www.reachingcriticalwill.org/images/documents/Disarmament-fora/np....

Dieser Artikel ist eine vom Autor erstellte Kurzfassung eines Beitrags, der in der ersten Ausgabe des Nuclear Abolition Forum (2011, no.1) erschienen ist. Übersetzung Red./ Regina Hagen. http://www.abolitionforum.org/site/wp-content/uploads/2012/01/NAF-First-....

Ausgabe

Rubrik

Schwerpunkt
John Burroughs ist Geschäftsführer des New Yorker Lawyers Committee on Nuclear Policy, dem UN-Büro der IALANA.