Neue Entwicklungen

Die NATO auf dem Rückweg in den Kalten Krieg?

von Wiltrud Rösch-Metzler
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Ob „Kalter Krieg“ oder „Kalter Krieg 2.0“, ob „Nachrüstung“ oder „neues atomares Wettrüsten“ die richtigen Begriffe sind, um den derzeitigen Weg der NATO zu beschreiben, darüber lässt sich streiten. Denn was rückblickend über den Kalten Krieg gesagt werden kann, dass damals zwei Militärblöcke, die gleichzeitig zwei unterschiedliche Systeme verkörperten, sich feindlich gegenüber standen und in ein Wettrüsten eintraten, trifft auf die heutige Situation nicht mehr zu. Das eine Militärbündnis, der Warschauer Pakt, hat sich aufgelöst. Das andere Militärbündnis, die NATO, ist gewachsen, indem es ehemalige Mitglieder des Warschauer Pakts aufgenommen hat, und wächst weiter. Doch das Verhältnis zwischen den USA und Russland und damit auch zwischen der NATO und Russland ist auf dem tiefsten Punkt seit 1991 angelangt.

Russland wurde vom einflussreichsten NATO-Mitglied USA, von Ex-Präsident Obama, als Regionalmacht bezeichnet. Die Militärausgaben der USA sind zehnmal so hoch wie die Militärausgaben Russlands. Beide haben begonnen, ihre Atomwaffen zu „modernisieren“. Nicht zuletzt deswegen steht die Weltuntergangsuhr auf zwei Minuten vor Zwölf. Die Gefahr eines nuklearen Wettrüstens zwischen USA und Russland ist hoch. Und ähnlich wie zu Zeiten des Kalten Krieges wird gerade Europa besonders vom neuen atomaren Wettrüsten betroffen sein. „Damit ist die mit dem Ende des Kalten Krieges gewonnene und genossene Sicherheit stark bedroht“, analysiert SIPRI Direktor Dan Plesh (s. FN 4)

In einem Kommentar vom Oktober 2018 beschreibt Plesh, was auf dem Spiel steht. Nach dem Ende des Kalten Krieges wurden auf der Grundlage des 1972 vereinbarten „Vertrages zur Begrenzung von Raketenabwehrsystemen“ (ABM-Vertrag) vier neue Bausteine der Ost-West-Rüstungskontrolle aufgebaut:

  • Durch den INF-Vertrag von 1987 wurden alle landgestützten Raketen mit Reichweite zwischen 500 und 5500 Kilometern einschließlich Cruise Missiles und ballistischer Raketen eliminiert. (1)
  • Mit dem Vertrag über konventionelle Streitkräfte in Europa von 1990 (KSE-Vertrag) wurde die Anzahl der schweren Waffen, die von Mitgliedern der Nordatlantikvertrags-Organisation (NATO) und der Warschauer Vertragsorganisation (WTO) zwischen dem Atlantik und dem Ural eingesetzt wurden, in gleicher Höhe abgebaut und begrenzt. (2)
  • Der Vertrag von 1991 über Abbau und Begrenzung strategischer Offensivwaffen (START I) verringerte die Anzahl strategischer Nuklearwaffen. Im Vertrag über Maßnahmen zur weiteren Verringerung und Begrenzung strategischer Offensivwaffen (New START) wurden 2002 und 2010 weitere Kürzungen vereinbart. (3)
  • Die Präsidenten-Nuklearinitiativen (PNI) von 1991 waren parallele, einseitige, aber vereinbarte Abrüstungsmaßnahmen der Sowjetunion und der USA zur Beseitigung tausender taktischer Atomwaffen. (4)

Diese Rüstungskontrolle bröckelt. Aus dem ABM-Vertrag haben sich die USA im Jahr 2002 unter Präsident George W. Bush einseitig zurückgezogen. Russland zog sich 2015 aus dem KSE-Vertrag zurück.nachdem fünf ehemalige Staaten des Warschauer Paktes der NATO beigetreten waren, was die im Vertrag festgeschriebene Stärke zu Ungunsten der russischen Föderation verschob.

Alarmierend ist auch, dass das neue START-Abkommen von 2010 über strategische Nuklearwaffen 2021 ausläuft. Es gibt derzeit keine Gespräche über eine Verlängerung oder Ersetzung dieser Vereinbarung. SPD-MdB Rolf Mützenich: „Sollte New START tatsächlich nicht verlängert werden, gäbe es zum ersten Mal seit 1972 keine rechtlich bindenden und überprüfbaren Begrenzungen der amerikanischen und russischen Nukleararsenale mehr. Wir könnten am Beginn eines neuen nuklearen Rüstungswettlaufs stehen. Das Ergebnis könnte ein sicherheitspolitisch heillos zerstrittenes Europa und eine gespaltene NATO sein. Dies wiederum liegt derzeit durchaus im gemeinsamen Interesse von Trump und Putin.“ (5)

Der INF-Vertrag wurde seit sechs Jahren von den USA und nun unterstützt von der NATO in Frage gestellt. Jetzt hat Präsident Trump  den INF-Vertrag aufgekündigt. Ein halbes Jahr gibt die NATO Russland noch Zeit, einzulenken. Diplomatische Versuche von Außenminister Heiko Mass haben diesen Schritt Trumps nicht aufhalten können. Das Auswärtige Amt kritisiert die russische Haltung: „Erst wurde geleugnet, dass der neu entwickelte Marschflugkörper überhaupt existiere. Erst als dies nicht mehr haltbar war, weil die US-Regierung die russische Typenbezeichnung übermittelte, wurde behauptet, dass die Reichweite noch knapp unter der durch den Vertrag erlaubten Grenze liege. Kein Vorgehen, das gegenseitiges Vertrauen stärkt. Die USA haben ihre Pflichten aus dem Vertrag bis heute eingehalten, während Russland den vertragswidrigen Flugkörper bis zur Einsatzreife entwickelt hat.“ (6) Die NATO sieht in der verdeckten Entwicklung und Stationierung der neuesten russischen 9М279-Rakete, eines landgestützten Cruise-missile-Systems, eine Vertragsverletzung des INF-Vertrags durch Russland. Die NATO sei für Dialog offen gewesen, zuletzt beim NATO-Russland Rat am 29. Januar 2019. (7)

Der NATO-Russland Rat war ohne Ergebnis zu Ende gegangen.

„Die NATO ist ‚einmütig überzeugt‘, dass Russland der Schuldige im INF-Streit ist. So fest überzeugt, dass kein einziger Vertreter der Allianz, d.h. auch kein deutscher, bei der Präsentation der angeblich vertragsverletzenden russischen Rakete 9М279 anwesend war, die das russische Verteidigungsministerium am 23. Januar veranstaltete“, kritisiert Wladislaw Sankin von russia today. „Die russischen Militärs wollten durch diese ‚beispiellose Offenheit‘ beweisen, dass die Tankkapazitäten der Rakete dieselben wie die ihrer Vorgängerin 9М728 sind, obwohl die neue Rakete um circa 40 Zentimeter länger sei. Damit könne sie nicht mehr betankt werden und daher nicht weiter als die angegebenen 480 Kilometer fliegen.“(8)

Inzwischen hat auch Russland den Vertrag gekündigt und schnellstens die Produkion neuer Mittelstreckenraketen angekündigt, die schon in 2 Jahren fertig sein sollen!

Hat die Entwicklung dieser russischen Rakete eine „NATO-Nachrüstung“ von Mittelstreckenraketen in Europa zur Folge? Alexander Neu, Obmann im Verteidigungsausschuss sowie Osteuropabeauftragter für die Fraktion DIE LINKE, warnt bereits vor der möglichen Stationierung US-amerikanischer Mittelstreckenraketen in Deutschland und Europa. Die Bundesregierung müsse "klar und deutlich einer Stationierung dieser Waffensysteme auf deutschem Boden eine Absage erteilen“ fordert er in einer von ihm gestarteten Petition. Darüber hinaus müsse die Regierung sich bei NATO und EU gegen eine solche Stationierung engagieren. (9). Das Problem: Polens Außenminister fordert bereits die Stationierung von US-Mittelstreckenraketen in Europa, die Bundesregierung ist dagegen.

Auswege aus dem Dilemma
Wie kommt man aus diesem Dilemma noch heraus? Die Deep Cuts Kommission, ein Think Tank von deutschen, russischen und US-amerikanischen ExpertInnen, macht seit 2013 Vorschläge zur Beilegung des INF-Streits, um die Rüstungskontrolle einschließlich der Verlängerung von New START zu erhalten. Sie rief wiederholt zu regelmäßigen strukturierten Gesprächen über die Verbesserung der strategischen Stabilität zwischen den Vereinigten Staaten, Russland und China auf.

Nach Ansicht der Deep Cuts Kommission sind die US-amerikanischen Vorwürfe über eine nicht-vertragskonforme russische Rakete (9M729) ernst zu nehmen, ebenso wie russische Vorwürfe, die Startgeräte (Mk-41) für die NATO-Raketenabwehr in Rumänien (und bald auch in Polen) könnten für den Einsatz von offensiven Raketen benutzt werden, die durch den INF-Vertrag verboten sind.

„US-amerikanische und russische Beamte haben bisher die verfügbaren Optionen zur Aufrechterhaltung des INF-Vertrags keineswegs ausgeschöpft“, veröffentlichte die Kommission im November. „Um die Sackgasse zu durchbrechen, haben wir vorgeschlagen, dass beide Seiten die Bedenken der jeweils anderen Seite anerkennen und dass Washington und Moskau gegenseitige Besuche von Experten zur Untersuchung der betreffenden Raketen und Stationierungsorte vereinbaren. Wenn festgestellt würde, dass der Flugkörper 9M729 eine Reichweite von mehr als 500 km besitzt, könnte Russland den Flugkörper modifizieren, um sicherzustellen, dass er nicht mehr gegen den Vertrag verstößt, oder könnte im Idealfall die Produktion einstellen und alle derartigen Flugkörper sowie zugehörige Startgeräte abbauen.

Die Vereinigten Staaten könnten ihrerseits ihre Raketenabwehrstartsysteme modifizieren, damit sie sich eindeutig von den Startgeräten unterscheiden, mit denen Angriffsraketen von US-Kriegsschiffen abgefeuert werden, oder sie könnten sich auf Transparenzmaßnahmen einigen, die Russland die Sicherheit geben, dass die Startgeräte keine Angriffsraketen abfeuern können. Eine solche Vereinbarung würde auf die Bedenken beider Seiten eingehen und eine gegenseitige Gesichtswahrung bieten, um die Einhaltung des Vertrags wiederherzustellen.“ (10)

ICAN Deutschland und IPPNW greifen diese Vorschläge auf und warnen: „Ohne eine überraschende Wendung im kommenden halben Jahr endet der Vertrag am 2. August 2019. Die USA und Russland können dann völlig ungehindert neue Nuklearraketen mit einer Reichweite von 500 bis 5.500 km entwickeln und auch stationieren – ohne jegliche Maßnahmen der Transparenz und Kontrolle. Ein eindeutiges Nein der europäischen Staaten zur erneuten Stationierung von Mittelstreckenraketen ist jetzt notwendig.“ (11)

Die NaturwissenchaftlerInnen-Initiative für Frieden und Zukunftsfähigkeit wirbt um Verständnis gegenüber Russland: „Mit westlicher Sieger-Mentalität, den Zurückweisungen und Degradierungen wurde Russland zu einem Feind gemacht, der nun seine eigenen Interessen auch gegen den Westen verfolgt und damit viel Kritik auf sich zieht, nach innen der Umgang mit der Opposition, nach außen die Stärkung nationalistischer Kräfte.“ Es gebe aber auch eine positive Grundstimmung gegenüber Russland in der deutschen Bevölkerung, die Chancen für ein Klima des Friedens und einer guten Nachbarschaft eröffne. „Es geht darum, militärische Aufrüstung zu stoppen, Spannungen abzubauen und durch Verhandlungen gegenseitiges Vertrauen aufzubauen. Abrüstung und die Zivilisierung von Konflikten sind unverzichtbare Bestandteile einer neuen Entspannungspolitik, die Krieg als Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln verhindert. Ein Kernelement bleibt die nukleare Abrüstung.“ (12)

Das Ende des INF-Vertrages führt zu einem neuen Wettrüsten, was die Sicherheit in Europa gefährdet. Die USA legen wieder mehr Wert auf eine atomare Bewaffnung, wie der neue Nuclear Posture Review (13) deutlich macht. Sie entwickeln neue Atomsprengköpfe für ihre Raketen und demnächst geht auch die B61-12-Atombombe in Produktion. Diese könnte auch bald schon in Deutschland stationiert werden. Um die neuen Atombomben einsetzen zu können, erwägt das deutsche Verteidigungsministerium den Kauf neuer US-Kampfjets, denn die Bundeswehr-Tornados sollen ersetzt werden, da sie nicht mehr in der Lage sind, die neuen „smarten“ Atombomben zu steuern.

Deutschland, dessen Westteil Teil der NATO war und dessen Ostteil zum Warschauer Pakt gehörte, hatte es bei der Wiedervereinigung abgelehnt, in Balance zwischen den beiden Seiten bleiben, etwa indem es sich der Neutralität verpflichtet hätte. Umso mehr muss es sich nun innerhalb der NATO aktiv für Abrüstung einsetzen.

Positiv ist, dass sich PolitikerInnen wieder auf die Suche nach Gesprächskanälen begeben. So fand nach sechs Jahren Pause Mitte November 2018 im Auswärtigen Amt eine Plenarsitzung der deutsch-russischen Hohen Arbeitsgruppe für Sicherheitspolitik (HAGS) statt, unter Leitung von Wladimir G. Titow, dem stellvertretenden Außenminister Russlands und Andreas Michaelis, Staatssekretär des Auswärtigen Amts. In der gemeinsamen Presseerklärung heißt es: „Es kam ein inhaltsreicher Meinungsaustausch zu aktuellen Themen der Sicherheitspolitik, der Rüstungskontrolle sowie zu regionalen Konflikten zustande. Dabei wurden insbesondere die Themen Ukraine-Konflikt, Georgien, der INF-Vertrag, die NATO-Russland-Beziehungen, der Konflikt in Syrien, die Wiener Nuklearvereinbarung mit dem Iran sowie die Terrorismusbekämpfung diskutiert. Es wurde ins Auge gefasst, die nächste Sitzung der HAGS 2019 in Moskau abzuhalten.“ (14)

Anmerkungen
1 https://www.state.gov/t/avc/trty/102360.htm
2 https://www.osce.org/library/14087
3 https://www.nti.org/learn/treaties-and-regimes/treaties-between-united-s...
und: https://www.state.gov/t/avc/newstart/c44126.htm
4 https://www.armscontrol.org/factsheets/pniglance und
https://www.sipri.org/commentary/essay/2018/crumbling-architecture-arms-...
5 Rolf Mützenich: Rückkehr des nuklearen Denkens: Mit der Kündigung des INF-Vertrages droht ein neues nukleares Wettrüsten in Europa, in: IPG, 04.12.2018
6 https://www.auswaertiges-amt.de/de/aussenpolitik/themen/abruestung-ruest...
https://www.nato.int/cps/en/natohq/news_162996.htm,
8 https://de.rt.com/1s05
9 https://neu-alexander.de/2019/01/keine-stationierung-us-amerikanischer-m...
10 http://deepcuts.org/files/pdf/Statement_of_the_Deep_Cuts_Commission_on_t...
11 https://www.ippnw.de/startseite/artikel/de/bundesregierung-soll-stationi...
12 Macht uns Russland nicht zum Feind – für eine Politik der Entspannung, der gemeinsamen Sicherheit und der Abrüstung in Newsletter vom 1. Februar 2019
13 https://media.defense.gov/2018/Feb/02/2001872886/-1/-1/1/2018-NUCLEAR-PO...
14 https://russische-botschaft.ru/de/2018/11/13/gemeinsame-pressemitteilung...

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Wiltrud Rösch-Metzler ist Journalistin und pax christi Bundesvorsitzende.