Entwicklungsgeschichte der NATO

Die NATO – Instrument US-amerikanischer Dominanz?

von Werner Ruf
Schwerpunkt
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Salopp brachte der erste Generalsekretär der NATO, der Brite Lord Ismay die drei Aufgaben der NATO auf den Punkt: „To keep the Russians out, the Americans in, and the Germans down.“

In der Tat durchzog die Vorstellung von einer unkontrollierten (west-)deutschen Wiederbewaffnung wie ein Gespenst auch das Verhältnis der Westalliierten gegenüber der Bonner Republik und dem 1990 vollzogenen deutschen Einigungsprozess: Das Misstrauen, ja die Angst vor dem möglichen Wiederaufleben des deutschen Militarismus hatte nicht nur den EVG-Vertrag zu Fall gebracht (1954), es fand seinen Niederschlag auch in den einschlägigen Regelungen des 2+4-Vertrags, der die Voraussetzungen für die deutsche Einigung des Jahres 1990 war. Nicht umsonst hatten die Verbündeten darauf bestanden, dass die BRD ihre Streitkräfte voll dem Oberkommando des Bündnisses unterstellen musste und dass sie im Rahmen des neu formulierten WEU-Vertrags von 1954 (ursprünglich der Brüsseler Pakt von 1948) auf die Verfügungsgewalt über atomare, chemische und biologische Waffen sowie auf den Bau von Kriegsschiffen, schwerer Artillerie und Bombenflugzeugen verzichten musste. In Art. 3 (1) des 2+4-Vertrages verzichtete das vereinigte Deutschland nochmals ausdrücklich auf die Verfügungsgewalt über atomare, biologische und chemische Waffen. Diese „abschließenden Regelungen für Deutschland“ sollten sicherstellen, dass von deutschem Boden nie wieder Krieg ausgehen sollte, die Deutschen „unten“ blieben. (1)

Mit dem NATO-Vertrag (1949) etablierten sich die USA erstmals und endgültig nicht nur als Führungsmacht des Bündnisses, sondern als europäische Macht, die gewillt war, die in Westeuropa nach dem 2. Weltkrieg etablierte kapitalistische Ordnung auch militärisch zu sichern. Eine Auflösung der NATO nach Ende des Kalten Krieges und der Selbstauflösung der Warschauer Vertragsorganisation (1991) hätte auch die Beendigung der (dominanten) US-Militärpräsenz auf dem europäischen Kontinent und den möglichen Aufstieg Europas zu einem neuen Pol im sich herausbildenden multipolaren System bedeutet. Trotz Ende des Systemgegensatzes und der militärischen Bedrohung aus dem Osten musste also die NATO erhalten bleiben, da nur sie Einfluss und Präsenz ihrer Vormacht auf dem Kontinent sichern konnte. Dieser Sicherung der Dominanz der USA dienten schließlich auch der Angriffskrieg der NATO auf Jugoslawien 1999, die staatliche Neuordnung des Balkans (einschließlich der Gründung des Kosovo) und die Erweiterung der NATO von 16 bis zum Ende des Kalten Krieges auf inzwischen 30 bzw. demnächst 32 Mitglieder.

Der Erhalt der NATO nach Ende des Kalten Krieges und damit die Fortführung der massiven Militärpräsenz der Führungsmacht auf dem europäischen Kontinent wurde infrage gestellt durch die Entwicklungen des Jahres 1990, die damit verbundenen und teils in Vorbereitung befindlichen Friedens- und Abrüstungsverträge, durch das Projekt eines „gemeinsamen Hauses Europa“ wie in der Charta von Paris vorgezeichnet. Ein alt/neuer gemeinsamer und bedrohlicher Feind in Europa war nötig, um das Ziel zu sichern, dass die USA dauerhaft die militärisch bestimmende Kraft „in“ Europa bleiben und einen Zustand erreichen konnten, wie ihn der Vordenker US-amerikanischer Geopolitik, Zbigniew Brzezinski, in seinen geopolitischen Visionen vorgegeben hatte: „Tatsache ist schlicht und einfach, dass Westeuropa und zunehmend auch Mitteleuropa ein amerikanisches Protektorat bleiben, dessen alliierte Staaten an Vasallen und Tributpflichtige von einst erinnern." (2) Die demütige Anerkennung der Dominanz der USA brachte Bundeswirtschaftsminister Habeck bei seinem Antrittsbesuch in Washington zum Ausdruck, als er von der „dienenden Führungsrolle“ Deutschlands sprach. Der Umgang mit dem unmittelbar nach seiner technischen Fertigstellung eingestellten Projekt Northstream 2 spricht hier Bände.

Dabei ist und war die NATO nie das monolithische Bündnis, als das sie immer zu erscheinen versuchte: Bereits der Harmel-Bericht (1967) hatte ein zaghaftes Aufbegehren der europäischen Mitglieder der NATO gezeigt. Wohl unter dem Eindruck der die Vernichtung des Planeten in greifbare Nähe rückenden Kuba-Krise begann im Bündnis ein gewisser Nachdenkprozess, der dazu führte, dass die Festlegung der NATO auf den Ersteinsatz von Nuklearwaffen im Falle eines bewaffneten Konflikts (massive Vergeltung) relativiert und durch die Strategie der „flexible response“ ersetzt wurde. Dies mag als zaghafter Schritt in Richtung einer Entspannungspolitik gesehen werden, die dann die Konferenz von Helsinki und schließlich die Ostpolitik von Bahr und Brandt möglich machte, signalisierte doch die „flexible response“ die Möglichkeit eines nuancierteren Umgangs mit der Sowjetunion. Nicht zuletzt wurden auch die Mitgliedstaaten dazu aufgerufen, ihre jeweiligen bilateralen Beziehungen mit Moskau zu verbessern.

Von der Entspannung zum Krieg gegen Russland
Zu Ende der 80er und Beginn der 90er Jahre des vorigen Jahrhunderts zeigte sich ein Silberstreif am Himmel des Internationalen Systems: Fortsetzung des Helsinki-Prozesses, abschließende Regelung in Bezug auf Deutschland (= 2+4-Vertrag, Abschluss von Abrüstungs- und Rüstungskontrollverträgen, Charta von Paris und das Konzept eines „Gemeinsamen Hauses Europa“). Die Erarbeitung einer solchen neuen Sicherheitsarchitektur, die auf dem Konzept der gegenseitigen Sicherheit basierte, hätte den Abschied vom Konzept der „Sicherheit durch Abschreckung“ der NATO bedeutet. Die Selbstauflösung der Warschauer Vertrags-Organisation 1991 rückte die analoge Auflösung der NATO in den Bereich der Möglichkeit.

Jedoch: Es kann nur den Historiker*innen – so es sie dann noch gibt – überlassen bleiben, unseren Nachfahren zu erklären, weshalb die europäischen Vasallen von USA und NATO so geschlossen und geradezu frenetisch in den Krieg einstiegen, den Russland mit seinem Angriff auf die Ukraine am 24. Februar 2022 entfachte. Spätestens seit der Rede Vladimir Putins auf der Münchener Sicherheitskonferenz des Jahres 2007 war unmissverständlich klar, dass Russland nicht bereit war, eine monopolare Welt unter Führung der USA – erstmals demonstriert im völkerrechtswidrigen Krieg gegen Jugoslawien 1999 – und insbesondere die gleichfalls 1999 begonnene Osterweiterung der NATO hinzunehmen. Diesen rein militärisch untermauerten Führungsanspruch („military preeminence“) hatten neoliberal-konservative Führungspersonen des US-Establishments in ihrem programmatischen Programm „Project for a New American Century“ im Jahre 2000 auf 76 Seiten formuliert.

Trotz zahlreicher Warnungen prominenter US-amerikanischer Politiker*innen und Politolog*innen (darunter der „geistige Vater“ der NATO George F. Kennan, Henry Kissinger und John Mearsheimer) wurde dieser Kurs konsequent fortgesetzt. Obwohl das Abkommen Minsk II von 2015 alle Voraussetzungen für eine Verhandlungslösung, die auch die von Kiew akzeptierte Neutralisierung der Ukraine ermöglicht hätte, zeigten sich die USA und ihre Vasallen kompromisslos und bereit, diesen Krieg „bis zum letzten Ukrainer“ (3) fortzuführen. Dabei sind die europäischen NATO-Mitglieder offen Kriegspartei, unterstützen die Ukraine, die im Namen der USA diesen für beide Seiten mörderischen Krieg führt, mit allen erdenklichen, auch schwersten Waffen und bilden ukrainische Soldaten daran aus. Und die Spitze der deutschen Diplomatie erklärte am Tag nach dem russischen Einmarsch, die angekündigten Sanktionen der EU würden und sollten Russland „ruinieren“. Selbst die feinsten Fäden der Diplomatie, die noch in Helsinki gezielte Förderung erfahren sollten, wurden gekappt: Städtepartnerschaften werden abgebrochen, gemeinsame Forschungsprojekte beendet, Zusammenarbeit im Sport eingestellt. In vorauseilendem Gehorsam werden Tschaikowski-Opern abgesagt, Gemälde umbenannt. Jeder Form einer EU-europäisch-russischen Zusammenarbeit wird der Garaus gemacht.

Perspektiven
Die USA und ihre Verbündeten bleiben haarscharf unter der Schwelle der direkten Kriegsbeteiligung, liefern aber Waffen der Spitzenklasse, die endlich unter realistischen Bedingungen getestet werden können. Russland hat diesen Krieg, was die Erreichung der politischen Ziele (Stopp der Osterweiterung) angeht, bereits endgültig verloren, ja das Bündnis durch den Beitritt zweier weiterer nordischer Staaten gestärkt. So wird Russland weiter in eine Allianz mit China gedrängt, in der es geschwächt ankommt. Zugleich fahren die USA die Spannungen im Pazifik nach oben, wie sich unschwer an der Gründung des neuen Militärbündnisses AUKUS (Australia, United Kingdom und United States) und der militärischen Eskalation in und um Taiwan erkennen lässt. Die Welt ist zurück auf dem Weg in eine neue bipolare Blockkonfrontation, die sich diesmal gegen den bevölkerungsreichsten Teil des Planeten richtet. Ob die definitiv absteigende Weltmacht Russland auf diesem Weg ihr einziges Großmachtattribut, die Atomwaffe, unberührt lassen wird, bleibt ungewiss. Deutschen (und europäischen) Interessen (4) oder gar dem Weltfrieden dient solche Politik, unterfüttert durch die „dienende Führungsrolle“ Deutschlands (Habeck), mit Sicherheit nicht.

Anmerkungen
1 Dazu ausführlich: Ruf, Werner 2020): Vom Underdog zum Global Player. Deutschlands Rückkehr auf die Weltbühne. Köln 2020
2 Brzezinski, Zbigniew (2001): Die einzige Weltmacht – Amerikas Strategie der Vorherrschaft. Frankfurt. S. 92.
3 So der ehemalige stellvertretende Verteidigungsminister der USA Chas Freeman, (2022) https://www.youtube.com/watch?v=0vxufUeqnuc [11-06-22].
4 Sehr lesenswert in diesem Zusammenhang: Dohnanyi, Klaus von (2022): Deutsche Interessen

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Werner Ruf, geb. 1937, promovierte 1967 im Fach Politikwissenschaft in Freiburg i. Br. Er lehrte an den Universitäten Freiburg, New York University, Université Aix-Marseille III, Universität Essen, und war von 1982 bis 2003 Professor für internationale Beziehungen an der Universität Kassel.