Die Renaissance der Protestbewegungen

von Jochen Stay
Initiativen
Initiativen
( c ) Netzwerk Friedenskooperative

2003 war ein Jahr der Massenproteste und des neuen Selbstbewusstseins politischer Basis-AktivistInnen.

Galten Straßenproteste und Bürgerinitiativen lange als Relikt der 60er bis 80er Jahre, so hat sich inzwischen eine muntere und mutige neue Protestgeneration auf den Weg gemacht, die etablierte Politik aufzumischen.

Zwei Wochen im November 2003: Großdemonstration gegen den Sozialabbau in Berlin, anhaltende Proteste gegen Castor-Transporte nach Gorleben und die globalisierungskritische Bewegung trifft sich zum Europäischen Sozialforum in Paris. So geht ein Jahr zu Ende, das bereits mit einer Massenbewegung begonnen hatte: Von Januar bis März waren bundesweit Hunderttausende fast jedes Wochenende mit bunten PACE-Fahnen gegen den Irak-Krieg unterwegs, mit dem Höhepunkt der größten Demonstration in der Geschichte der Bundesrepublik - am 15. Februar waren in Berlin 500.000 Menschen auf der Straße.

Was da in den letzten Jahren entstanden ist, lässt sich mit "Generation Attac" umschreiben, ohne diese Generation damit auf die Organisation Attac zu beschränken. Diese Protestgeneration besteht einerseits aus vielen jungen Menschen, aber auch aus erstaunlich vielen, die nach Jahren der Resignation neu aktiv geworden sind - im Osten wie im Westen der Republik. Diese Generation ist über die Grenzen von Staaten und auch über die Grenzen unterschiedlicher politischer Milieus und Kulturen hinweg kooperativer als alles, was es in den Jahrzehnten davor gegeben hat.

Und diese "Generation Attac" überwindet auch mühelos die thematischen Grenzen traditioneller Protestbewegungen. Sie wendet sich gegen Krieg, Umweltzerstörung, globale Ungerechtigkeit und Sozialabbau, ist immer dort aktiv, wo es gerade am Nötigsten ist. Die Zeit der Ein-Punkt-Bewegungen ist vorbei - zumindest was die aktive Basis angeht.

Noch nie war die Teilnahme an einer Protestveranstaltung so normal wie heute. War das Demonstrieren in der "alten" Bundesrepublik noch ein Ausdruck von Gegenkultur zum herrschenden Mainstream und führte vielerorts zu heftigen Familienkonflikten, so werden heute viele Jugendliche von ihren Eltern geradezu ermuntert, auf die Straße zu gehen. Das verbessert einerseits die Situation von Protestbewegungen, nimmt ihnen aber auch einen Teil ihrer Wirkung. Wer nicht mehr provoziert, wird auch in der Öffentlichkeit weniger wahrgenommen.

Fünf Jahre nach dem Regierungseintritt der einstigen "Bewegungspartei" Bündnis 90/Die Grünen haben sich die sozialen Bewegungen davon erholt, dass ihnen vormals wichtige MitstreiterInnen abhanden gekommen sind. Längst wurde aus dem Jammern über grünes Umfallen in der Militär-, Atom- oder Sozialpolitik ein neues Selbstbewusstsein. In vielen Politikfeldern sind die Aktionsgruppen, Initiativen und NGOs wieder zu einer Art außerparlamentarischer Opposition geworden. Das muss kein Nachteil sein und so wird diese Rolle von vielen AktivistInnen offensiv angenommen. Sie sind dabei zu lernen, wie sich trotzdem politische Erfolge erzielen lassen, spielen immer öfter professionell auf der Klaviatur zwischen Lobbying, Massenprotest und Zivilem Ungehorsam.

Die erstaunlichste Entwicklung der letzten Jahre ist, dass sich die Protestbewegungen wieder zutrauen, dicke Bretter zu bohren. Zwar existiert bei vielen Aktiven von heute im Gegensatz zur früheren westdeutschen Bewegungs-Linken kein anderer Gesellschaftsentwurf mehr im Hintergrund. Aber wenn beispielsweise Attac heute mit dem einerseits diffusen aber andererseits ehrgeizigen Slogan "Eine andere Welt ist möglich" agiert, dann zeigt dies schon, dass man bereit ist, sich mit den Mächtigen in Wirtschaft und Regierungen anzulegen, auch wenn ein kurzfristiger Erfolg nicht in Reichweite ist.

Dass gerade auch junge AktivistInnen bereit sind, sich trotz revolutionärer Ungeduld auf den langwierigen Weg des Ringens um wirkliche Veränderungen zu machen, ist eine der ermutigenden Eigenschaften aktueller Bewegungen. Noch vor Jahren wäre es undenkbar gewesen, dass in unzähligen deutschen Städten bunte Aktionen gegen einen Vertrag der Welthandelsorganisation (WTO) zur Liberalisierung von Dienstleistungen (GATS) stattfinden.

Neben der Mehrheitsmeinung in der Gesellschaft "Wir kleinen Leute können ja doch nichts ändern" gibt es immer mehr Menschen, die bereit sind, für Veränderungen einzutreten, nach dem Motto: Besser ich mache den Versuch, etwas zu bewegen, als einen schlechten Zustand unwidersprochen hinzunehmen. Sprengkraft könnte diese Tendenz dann entwickeln, wenn ein relevanter Teil der Betroffenen des aktuellen Sozialabbaus sich dieser Haltung anschließt.

Ausgabe

Rubrik

Initiativen