Ethische Dilemmata

Evangelischer Streit um Friedensethik wegen des Ukrainekrieges

von Ulrich Frey
Hintergrund
Hintergrund

Ausgelöst durch den völkerrechtswidrigen Einmarsch Russlands in die Ukraine am 24. Februar 2022 geht es auf allen Ebenen der evangelischen Kirchen um Fragen der Revision evangelischer Friedensethik seit der Denkschrift der EKD „Aus Gottes Frieden leben – für gerechten Friedens sorgen“ (2007). Fragen stehen an wie: „Wie reagieren wir friedensethisch auf die militärische Gewalt Russlands gegen die Ukraine?“ Der bis dahin gültige Konsens ist zerstoben.
Die übergreifende Basis mit dem Vorrang der Gewaltfreiheit war bisher das ökumenische Leitbild des gerechten Friedens. Die darin enthaltene Einschränkung ist jetzt aktuell: „Es gibt Extremsituationen, in denen der rechtmäßige Einsatz von Waffengewalt als letzter Ausweg und kleineres Übel notwendig werden kann. (1)

Anschluss an die Realität? Gewalt für Recht und Frieden?
Der ehemalige Militärbischof Hartmut Löwe kritisiert das Leitbild als „wenig klar, vieldeutig…utopisch“. Wird es zum alleinigen Imperativ, „fehlt ein Begriff, um Angriffskriege von Verteidigungskriegen zu unterscheiden“. (2) Roger Mielke, Militärdekan am Zentrum für Innere Führung der Bundeswehr in Koblenz, fordert, die evangelische Friedensethik müsse „anschlussfähig“, also „wirklichkeitsgesättigt argumentieren, wenn sie außerhalb der Binnenräume gehört werden will. Diese Wirklichkeitssättigung muss sich den Ambivalenzen des Politischen ausdrücklicher stellen als dies im ‚Formalismus‘ der kantianisch geprägten Denkmuster des ‚liberalen Friedens‘ vielfach geschehen ist.“ Er spricht dagegen, die „Balance der EKD-Friedensdenkschrift zwischen pazifistischer Pflichtenethik und ‚realistischer‘ Güterethik aufzulösen“ und eindeutig „in pazifistischer Weise“ zu argumentieren. (3) Der Ethiker Johannes Fischer attestiert der Kundgebung der EKD-Synode 2019 ebenso wie anderen Dokumenten der EKD eine „fundamentale theologische Verirrung, politische Naivität und Realitätsverweigerung“. Die Gewaltfreiheit dürfe kein christliches Prinzip werden und gegen eine Politik gewendet werden, „die durch Abschreckung im Rahmen des Nato-Bündnisses kriegerische Aggressionen wie jetzt in der Ukraine zu verhindern“ sucht. (4) Konkret laufen diese Positionen u.a. auf eine friedensethische Gleichwertigkeit der militärischen Gewalt im Rahmen der „rechtserhaltenden Gewalt“ (früher „ultima ratio“) und der Gewaltfreiheit (früher „prima ratio“) hinaus. Der Vorrang der Gewaltfreiheit als prima ratio (Kundgebung der EKD-Synode) 2019 entfiele, ebenso das Nein zur militärischen Abschreckung.

Dagegen steht: Der Weg der Gewaltfreiheit
Der Mennonit und Pazifist Fernando Enns, Mitglied des Zentralausschusses des Ökumenischen Rates der Kirchen (ÖRK), mahnt die „genuine Perspektive der Kirchen“ an, die im schlimmsten Fall … nach „theologischen Legitimationen für das (sogar kriegerische) Handeln ihrer Regierungen“ suchen. Der ÖRK trete dem mit der Position „Let the Church be the Church“ entgegen. (5).
Auf der Ebene der EKD wirbt der Friedensbeauftragte des Rates der EKD, Landesbischof Friedrich Kramer, aus theologischer und ethischer Sicht dezidiert für die Gewaltfreiheit und für eine „Kirche, die zum Frieden und zur Versöhnung ruft und auf die Möglichkeiten ziviler Verteidigung und gewaltfreier Konflikbearbeitung“ verweist. Er wünscht – gegen militärische Sicherheit - an Stelle von Waffenlieferungen humanitäre und medizinische Unterstützung für die Menschen in der Ukraine und einen sofortigen Waffenstillstand auf Grund der Idee der menschlichen Sicherheit. Denn das christliche Ethos sei „grundlegend von der Bereitschaft zum Gewaltverzicht (Mt 5,38 ff) und vorrangig von der Option für die Gewaltfreiheit bestimmt“. (6) Die von ihm vorgeschlagene Friedenswerkstatt solle zu einem „breiter angelegten partizipativen Verständigungsprozess mit unterschiedlichen Akteur*innen zu einer richtungsweisenden Orientierung und nicht nur zu einer bloßen „Addition unterschiedlicher Positionen“ führen. (7)
Auf zivilgesellschaftlicher Seite und theologisch begründet von der biblischen Bergpredigt (Mt 5-7), aber säkular aktiv, stehen der politologische Ansatz „Friedenslogik statt Sicherheitslogik“, das Szenario „Sicherheit neu denken“ und die Soziale Verteidigung (neu die Kampagne „Wehrhaft ohne Waffen“), das europäische friedenskirchliche Netzwerk „Church and Peace“ sowie zahlreiche andere Initiativen gegen den aktuellen Mainstream und für die aktive Gewaltfreiheit.

Suche nach Wegen aus dem friedensethischen Dilemma
Es gibt auch Dissens in Friedensverbänden. So erklärte die Mitgliederversammlung der Aktionsgemeinschaft Dienst für den Frieden (AGDF) 2022: „Es besteht Einvernehmen, dass wir das Recht der ukrainischen Bevölkerung auf militärische Verteidigung nicht in Frage stellen. Unter uns besteht zugleich ein Dissens, wie wir diese Entscheidung bewerten. Wir können jetzt nicht abschließend einschätzen, welcher Weg zu weniger Leid und Gewalt führt. Wir erkennen ein ethisches Dilemma, das sich auch in diversen Positionen innerhalb der AGDF widerspiegelt, dem wir uns zu stellen haben.“ Die Delegiertenversammlung der katholischen Friedensbewegung Pax Christi votierte 2022 ähnlich. (8)
Die Magdeburger Synode der EKD 2022 ermutigt zum Diskurs: „So unstrittig die Solidarität mit den Opfern in diesem Krieg ist, so kontrovers wird in unserer Kirche darüber gestritten, welche konkreten Mittel zur Unterstützung der Ukraine geeignet und ethisch zu rechtfertigen sind. Es ist gut, wenn die Kirchen einen Raum bieten, um über solche Fragen offen und in gegenseitigem Respekt zu sprechen. Uns eint dabei das Bewusstsein, dass dieser Krieg so schnell wie möglich beendet werden muss. Am Ende müssen Verhandlungen stehen…“ (9)

Anmerkungen
1 Raiser/Schmitthenner (Hg.): Gerechter Friede. Ein ökumenischer Aufruf zum Gerechten Frieden, LIT-Verlag, 2013, S. 9 Nr. 11 und S. 12 Nr. 22.
2 Löwe: FAZ 11.8.2022.
3 Mielke: An der Epochenschwelle – Evangelische Friedensethik revisited – anläßlich des Überfalls Putins auf die Ukraine, in: epd Dokumentation Nr. 12 vom 22.5.2022, Stimmen aus Kirche und Friedensgruppen zum russischen Angriff auf die Ukraine.
4 Fischer: Ein Scherbenhaufen – Kritische Anmerkungen zur offiziellen Friedensethik der Evangelischen Kirche in Deutschland, in: epd Dokumentation Nr. 12 vom 22.5.2022, Stimmen aus Kirche und Friedensgruppen zum russischen Angriff auf die Ukraine
5 Enns, Fernando: „Die Liebe Christi bewegt, versöhnt und eint die Welt. Einsichten aus der internationalen  Ökumene“ beim Studientag  der Evangelischen  Landeskirche in Baden 23.-25. 10.2022.
6 Kramer: Mehr Waffen, mehr Tod. Gespräch mit dem Friedensbeauftragten Friedrich Kramer über seine Position zum Ukrainekrieg, in: Zeitzeichen, Juli 2022, S. 8-11.
7 Kramer: Bericht über die Friedensarbeit der EKD, Drucksache VI c/1, 3.Tagung der 13. Synode der EKD November 2022, Magdeburg, S. 8-10.
8 AGDF: https://friedensdienst.de/sites/default/files/anhang/agdf-die-vermeidung-und-verminderung-von-gewalt-bleibt-unser-ziel-friedensverband-verabschiedet.pdf; Pax Christi: https://www.paxchristi.de/meldungen/view/5298600552693760/Wer%20Frieden%20will,%20muss%20Frieden%20vorbereiten (Zugriff 29.1.2022).
9 Evangelische Kirche in Deutschland: https://www.ekd.de/beschluss-frieden-gerechtigkeit-bewahrung-der-schoepfung-76163.htm

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Ulrich Frey ist Mitglied im SprecherInnenrat der Plattform Zivile Konfliktbearbeitung.