Islamischer Staat

Fakten zum Islamischen Staat

von Clemens Ronnefeldt

Die Ursprünge des "Islamischen Staates" (nachfolgend: IS) sind beim irakischen Zweig von al-Qaida zu suchen. Der Jordanier Abu Musab al-Zarqawi kämpfte zunächst in Afghanistan für al-Qaida, bevor er Anfang des neuen Jahrtausends nach Irak ging und von dort Terroranschläge in Jordanien organisierte. Nach dem Irak-Krieg 2003 wurde al-Zarqawi Befehlshaber von al-Qaida im Irak, von wo aus er mit Anschlägen gegen die westlichen Invasoren, deren Botschaften sowie gegen Schiiten und deren Heiligtümer bekannt wurde. Im Jahre 2006 wurde er durch eine US-Bombe getötet. Sein Nachfolger Abu Omar al-Baghdadi wurde im Jahre 2010 ebenfalls umgebracht. Bereits unter seiner Führung benannte sich al-Qaida im Irak in "Islamischer Staat im Irak" (ISI) um.

In dem intensiv geführten sunnitisch-schiitischen Krieg im Irak unterstützte die US-Regierung die sunnitischen Stammesführer, die wiederum al-Qaida bekämpften. Im Jahre 2010 übernahm der heutige IS-Kalif Abu Bakr al-Baghdadi, geboren 1971 im irakischen Samarra, die Führung von al-Qaida im Irak. Nachdem al-Baghdadi aus einem US-Gefangenenlager, wo er im Jahre 2004 mit vielen ehemaligen Offizieren der irakischen Armee unter Saddam Hussein Kontakt hatte, entlassen worden war, promovierte er zum Thema "Scharia". Während Michael Lüders (1) schreibt, dass al-Baghdadi "2004 einige Monate in US-Gewahrsam verbrachte" (S. 89), berichtet Loretta Napoleoni: "Al-Baghdadis Gepflogenheit, sich dem Scheinwerferlicht fern zu halten, wurzelt möglicherweise in seiner fünfjährigen Inhaftierung in Camp Bucca" (S. 35). Vor seiner Verhaftung 2004 arbeitete al-Baghdadi als Imam in Falludscha, wo die US-Armee besonders gewalttätig agierte.

Mit der al-Qaida-Führung in Pakistan kam es zum Bruch: Der Nachfolger von Usama Bin Laden, Ayman al-Zawahiri, wollte einen globalen Jidad gegen die westlichen Invasoren unter US-Führung, al-Baghdadi hingegen kämpfte im Irak vor allem gegen Schiiten und andere Andersgläubige - und wollte einen konkreten Islamischen Staat errichten.

Der Krieg in Syrien verhalf al-Baghdadi zur Machtausdehnung. Der "Islamische Staat im Irak" hatte die Al-Nusra-Front mitbegründet, deren Ziel vor allem der Sturz der syrischen Regierung war und ist. Im Jahre 2013 erklärte al-Baghdadi, dass der "Islamische Staat im Irak" und die Al-Nusra-Front zukünftig unter dem Namen "Islamischer Staat im Irak und in der Levante" (ISIL) firmieren würden. Diese Vereinnahmung der Al-Nusra-Front wollten Teile der Nusra-Front-Führung nicht hinnehmen, wodurch es zu einer Spaltung kam. Wegen der militärischen Erfolge, seiner hohen Durchschlagskraft und guter Ausrüstung bekam ISIL immer mehr Zulauf, wodurch im östlichen und nördlichen Teil Syriens große Gebiete unter ISIL-Kontrolle kamen, einschließlich der Provinzhauptstadt Raqqa. Al-Baghdadi vermied bis Mitte 2014 militärische Kämpfe gegen die syrische Armee, sondern ging gegen Rebellen vor. Im Juni 2014 eroberten ISIL-Truppen Mosul - wodurch al-Baghdadi und dessen Führungskader riesige Mengen an Rüstungsgütern - Panzer, Geschütze, gepanzerte Fahrzeuge - in die Hände fielen, die zuvor die US-Regierung an die irakische Armee geliefert hatte. Nach der Eroberung Mosuls änderte al-Baghdadi erneut den Namen: aus ISIL wurde IS - der "Islamische Staat" - und er selbst erklärte sich zum Nachfolger (Khalifa) des Propheten Mohammed: Zum neuen Kalifen des IS. Gegen diesen Anspruch protestieren zahlreiche sunnitische Rechtsgelehrte, darunter auch die für die gesamte islamische Welt äußert bedeutsame Azhar-Universität in Kairo (Perthes, S. 92-98).

Ideologie
Als der IS noch den Vorläufernamen "ISIL" bzw. "ISIS" trug, stand diese Abkürzung für "Islamischer Staat im Irak und in Scham"  - wobei "Scham" sowohl mit "Großsyrien" als auch mit "Damaskus" und "Levante" übersetzt werden kann. "Scham" umfasst für gläubige Muslime die Gebiete Syrien, Libanon, Israel, Palästina und Jordanien. Jerusalem ist wegen des Felsendoms und der Al-Aqsa-Moschee sowie der Himmelfahrt des Propheten Mohammed der drittwichtigste Ort nach Mekka und Medina. Damaskus war während der Zeit der Omajjaden-Dynastie (661-750), deren islamisches Herrschaftsgebiet über die arabische Halbinsel, Nordafrika, Spanien bis an die Pyrenäen und im Osten bis nach Indien reichte, die Hauptstadt dieses größten Kalifats der gesamten Geschichte.

Sunniten wie Schiiten glauben, dass es in "Scham" zu einem heilsgeschichtlichen Endkampf, einem "Armageddon" kommt. Sie stützen sich dabei auf den Ausspruch des Propheten Mohammed: "Die letzte Stunde der Geschichte wird erst kommen, wenn die Römer entweder bei Al-A´maq oder bei Dabiq aufmarschieren.“ (Beide Orte liegen nordöstlich von Aleppo, direkt an der türkischen Grenze. Mit 'Römer' ist lt. Michael Lüders Byzanz gemeint.) „Dann wird eine Armee aus Medina, eine Armee der besten Volkes auf Erden, aufbrechen und sich ihnen stellen" (Lüders, S. 88). Nach der Überlieferung wird die muslimische Armee einer feindlichen Übermacht aus 42 Heeren entgegen treten und diese vernichtend schlagen.

Schiiten glauben, dass erst nach dieser endgültigen Schlacht der Erlöser, der Mahdi, erscheinen wird, um die Gläubigen ins Paradies zu führen. "Radikale Sunniten deuten diesen Hadith [Ausspruch des Propheten Mohammed, Anm. von C.R.] als Versprechen eines endgültigen Sieges über die Ungläubigen, einschließlich der Schiiten. Die unterschiedliche Auslegung ist ein Grund dafür, warum den Schiiten der Dschihad gegen Nichtmuslime weitgehend fremd geblieben ist", schreibt Michael Lüders (S. 89). "Dabiq" heißt eine Propaganda-Hochglanzbroschüre des IS, die in vielen Sprachen, darunter deutsch, im Internet angeboten wird und auf den zitierten Ausspruch des Propheten Bezug nimmt. IS-Kämpfer sehen sich selbst als die prophezeite "Armee aus Medina". Michael Lüders zieht als Fazit: "Man sollte die Wirkungsmacht solcher Heilsversprechen unter emotional aufgeladenen Gläubigen, besonders im Umfeld von Krieg und Gewalt, nicht unterschätzen" (S. 89).

Die Ausrufung des IS-Kalifats erfolgte am 29. Juni 2014, dem ersten Tag des Fastenmonats Ramadan. Michael Lüders zitiert den Islamwissenschaftler Stephan Rosiny, der die erste Freitagspredigt von al-Baghdadi am 4. Juli 2014 in Mosul analysiert hat: "Wegen seiner im 'Dschihad' erlangten Kriegswunde erklomm 'Kalif Ibrahim' nur humpelnden Schrittes die Kanzel. (...) Er war mir schwarzem Turban und Umhang gekleidet, wie sie auch Mohammed bei der Rückeroberung Mekkas im Jahr 630 getragen haben soll". Lüders folgert: "Deswegen auch die schwarze Fahne des 'Islamischen Staates' und die häufig schwarze Kleidung seiner Kämpfer, die ebenfalls auf diese Rückeroberung anspielen. Mehr noch, schwarze Uniformen und Flaggen gehörten zur höfischen Etikette der Abbasiden im achten Jahrhundert und erinnern so an das goldene Zeitalter des Islam" (Lüders, S. 92).

Der neue Kalif versprach in seiner ersten Predigt, die "Würde, Macht, Rechte und Führerschaft der Vergangenheit zurückzugeben" (L. Napoleoni, S. 15).

Der "Islamische Staat" unter dem Kalifen al-Baghdadi sieht sich in der Tradition sowohl des Omajjaden-Weltreiches mit der Hauptstadt Damaskus als auch in der Tradition des nachfolgenden Abbasiden-Weltreiches mit der Hauptstadt Bagdad - und damit als Hüter des Erbes von Mohammed und des wahren islamischen Glaubens. Dies ist auch der Grund, warum der selbst ernannte Kalif al-Baghdadi alle muslimischen Gläubigen weltweit dazu aufgerufen hat, in den "Islamischen Staat" zu kommen, der seiner Ansicht nach das neue globale spirituell-geistige Zentrum des Islam darstellt: "Wer kann, soll in den Islamischen Staat einwandern, denn die Übersiedlung ins Haus des Islam ist eine Pflicht", so al-Baghdadi bei der Ausrufung des Kalifats (Napoleoni, S. 96) - und ergänzte: "Eilt, o ihr Muslime in euren Staat. (...) Dies ist mein Rat an euch: Wenn ihr an ihm festhaltet, werdet ihr Rom und die Welt erobern, so Allah es will" (Napoleoni, S. 98).

Der IS-Sprecher Abu Mohammed al-Adnani lässt an Deutlichkeit des IS-Machtanspruchs nichts zu wünschen übrig: "Mit der Ausdehnung des Herrschaftsgebiets des Kalifen und der Ankunft seiner Truppen wird die Legalität aller Emirate, Staaten, Gruppen und Organisationen hinfällig" (L. Napoleoni, S. 14).

Aufbau und Strukturen
Kalif al-Baghdadi hat den IS in Regierungsbezirke aufgeteilt, die wiederum in Provinzen gegliedert sind. Reichere Bezirke zahlen an ärmere eine Art "Länderfinanzausgleich". Der Kalif hat alle relevanten Berufsgruppen in Syrien und Irak persönlich aufgerufen, am Aufbau des neuen Staatswesens tatkräftig mitzuhelfen.  Schulen und Universitäten sind im IS, auf dessen Gebiet rund sechs Millionen Menschen leben, geöffnet. Es gilt die Wehrpflicht, der neue Staat erhebt Steuern und Abgaben. Davon werden u.a. auch Suppenküchen für Arme sowie Renten für Witwen getöteter IS-Kämpfer finanziert. Mitarbeiter des IS kümmern sich um Stromversorgung und Müllabfuhr; anders als al-Qaida oder andere Terrororganisationen legt der IS großen Wert auf den Aufbau tragfähiger Strukturen eines Staates.

Größere finanzielle Zuwendungen erhält der IS aus den reichen Golfstaaten. Der Verkauf von Erdöl - sowohl an die Türkei wie auch die syrische Regierung (L. Napoleoni, S. 52)  - bringt Deviseneinnahmen in Höhe von zwei Millionen US-Dollar pro Tag (Wall Street Journal, 16.4.2014). Weitere Einnahmequellen sind Schmuggelgeschäfte, Schutzgelderpressungen und Lösegeldzahlungen für die Freilassung von Geiseln. Während viele Regierungen Lösegeld an den IS für ihre jeweiligen Staatsangehörigen zahlen, weigern sich die US-amerikanische und britische Regierung, dies zu tun.

Nach der Eroberung von Mosul im Sommer 2014 beschlagnahmte der IS von der Zentralbank Gelder in Höhe von 425 Millionen US-Dollar, die sowohl für militärische Zwecke wie auch für eine "Kampagne, die Herzen und die Zustimmung der Bevölkerung zu gewinnen" (Napoleoni, S. 58) verwendet werden.

Die Zahl der Kämpfer wird nach unterschiedlichen Quellen auf 25 000 bis mehr als 50 000 Mann geschätzt, ebenso viele Zivilisten sollen im Dienst des IS als Verwaltungsmitarbeiter beschäftigt sein. Kämpfer erhalten einen Monatslohn zwischen 200 und 600 US-Dollar, Verwaltungsangestellte rund 300 US-Dollar, Abteilungsleiter bis zu 2000 US-Dollar, schreibt Michael Lüders (S. 96). Loretta Napoleoni dagegen verweist auf Quellen, die von einem niedrigeren Sold ausgehen: "Freigegebene Dokumente des US-Außenministeriums zeigen, dass während einer bestimmten Aufzeichnungsperiode 'der durchschnittliche Soldat des Islamischen Staates einen Grundlohn von gerade mal 41 Dollar im Monat verdiente, viel weniger als ein irakischer Arbeiter wie beispielsweise ein Maurer, der monatlich 150 Dollar verdient" (L. Napoleoni, S. 55).

Der Kalif hat zwei Stellvertreter, von denen je einer für Irak und für Syrien zuständig ist. In einem "Führungsrat" berät eine kleine Gruppe von Vertrauten des Kalifen die Politik des IS. In einem "Kabinett" sitzen Manager und Technokraten, die sich um Sicherheit, Finanzen, Medienarbeit, Rekrutierung und andere Aufgaben eines Staates kümmern. Auf lokalen Ebenen sind im IS "regionale Räte" eingerichtet, die mit zivilen und militärischen Aufgaben betraut sind und als Ansprechpersonen für die jeweilige lokale Bevölkerung dienen. In diesen Räten sollen auch zahlreiche ehemalige Offiziere der aufgelösten irakischen Armee unter Saddam Hussein beschäftigt sein.

Scharia-Gesetzgebung
Eine Religionspolizei achtet auf die Einhaltung der Scharia. In einem offiziellen Dokument mit dem Titel "Bekanntmachung Nummer 006" des IS vom 18. April 2014 steht zu lesen: "Die folgenden Fakultäten und Abteilungen, die sich gegen die Scharia richten, werden geschlossen und abgeschafft: Fakultät für Jura, Politikwissenschaft und Kunst. Archäologie, Sporterziehung und Philosophie. Tourismus und Hotelmanagement. Abgeschafft werden ebenso alle Lehrinhalte, die gegen die Scharia sind: Demokratie, Kultur, Freiheit und Rechte. Romane und Theaterstücke in den Sprachen Englisch und Französisch und generell Übersetzungen. Die folgenden Fragen werden nicht thematisiert: Nationalität, ethnische Zugehörigkeit, Geschichte, Grenzziehung. Die Lehrkräfte sind gehalten, stets Folgendes zu beachten: Trennung von Männern und Frauen gemäß Scharia. (...) Diese Bekanntmachung ist ein Befehl. Er ist verpflichtend. Zuwiderhandlungen werden bestraft. Allahs Befehle führen zum Sieg, aber vielen Menschen ist das nicht bewusst. Gott sei gepriesen" (Lüders, S. 97).

Die Brutalität, mit der IS-Gerichte vorgehen, ist vielfach belegt: "In der syrischen Stadt Manbidsch beispielsweise hackten IS-Vertreter vier Dieben die Hände ab (...), peitschten Menschen wegen Beleidigung ihrer Nachbarn aus, konfiszierten und vernichteten gefälschte Medikamente und exekutierten und kreuzigten mehrere Personen wegen Glaubensabfall und Mord" (Napoleoni, S. 68).

Eine Grundlage für den Machtzuwachs al-Baghdadis liegt auch in seinem politischen Pragmatismus. Als im irakischen Falludscha sich die dortigen Stämme weigerten, "die ISIS-Fahnen aufzuhängen, wies er seine Kämpfer an, auf das Hissen der Flagge zu verzichten und statt dessen die Kooperation der Kämpfer bewaffneter Gruppen sowie der Clans und Gläubigen zu suchen" (L. Napoleoni, S. 53).

Gegenstrategien: Todenhöfers Empfehlungen
Jürgen Todenhöfer plädiert für folgende Anti-IS-Strategie: 1. Fairness gegenüber der muslimischen Welt statt Krieg und Ausbeutung. 2. Respekt gegenüber unseren muslimischen MitbürgerInnen statt Diskriminierung. 3. Enttarnung des IS als anti-islamische Mörderbande, für die der Islam nur Maske ist. 4. Unterstützung der Wieder-Eingliederung der diskriminierten Sunniten ins politische Leben des Irak. 5. Bekämpfung der weitgehend unbehinderten Rekrutierungs-Maßnahmen des IS.

Dem Fazit Jürgen Todenhöfers ist wenig hinzuzufügen: "Ignoranz, Inkompetenz und rassistischer Dünkel gegenüber Muslimen führen  uns immer tiefer in den Sumpf des Terrors hinein. Das Problem beginnt unlösbar zu werden.  Selbst das haben unsere Anti-Terrorkrieger noch nicht bemerkt" (2).

 

Anmerkungen:

1 Verwendete Literatur:

Michael Lüders (2015) Wer den Wind sät. Was westliche Politik im Orient anrichtet,  München

Volker Perthes (2015) Das Ende des Nahen Ostens, wie wir ihn kennen, Berlin

Loretta Napoleoni (2015) Die Rückkehr des Kalifats. Der Islamische Staat und die Neuordnung des Nahen Ostens, Zürich. (Hinweis von C. Ronnefeldt: In diesem Buch stellt die Autorin immer wieder m.E. problematische Vergleiche an, weshalb ich die Lektüre nur eingeschränkt empfehlen möchte.)

Jürgen Todenhöfer (2015) Inside IS – 10 Tage im "Islamischen Staat", München 2015.

2 http://www.ksta.de/politik/is-todenhoefer-irak-sote,15187246,31246632,item,3.html

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Clemens Ronnefeldt ist seit 1992 Referent für Friedensfragen beim deutschen Zweig des Internationalen Versöhnungsbundes.